Kapitel 21

Der dritte Pfad


Nachdenklich kehrte Rowarn an die Arbeit zurück, wobei er zwischendurch einnickte, aber zum Glück bemerkte es niemand. Alle waren hektisch beschäftigt und hatten keine Zeit, auf ihn zu achten – bis auf die Chalumi, die stets in seiner Nähe blieben. Doch auch dieses Problem würde sich lösen lassen.

In den nächsten Tagen beschäftigte Rowarn sich intensiver denn je mit der Flucht, und er merkte schnell, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Denn Angmor erlitt wieder einen Rückfall, und dabei blieb es nicht. Wie es aussah, wurden die Phasen, in denen es ihm gut ging, kürzer, und die Anfälle von Blindheit und Schmerz wurden schlimmer. Manchmal war er überhaupt nicht ansprechbar, und Rowarn setzte einmal durch, dass die Wache die Tür öffnete und den jungen Ritter zu Angmor ließ, unter der Aufsicht von zwei Federschlangen.

»Herr Angmor!«, rief Rowarn und rüttelte ihn an der Schulter, aber der Visionenritter blieb bewusstlos.

»Genau wie bei dem anderen«, bemerkte der Warine. »Irgendwann kommen sie nicht mehr zu sich.«

»Sprichst du von Tamron? Aber warum ist das so? Was geschieht mit ihnen?« Rowarn wusste sich nicht zu helfen. »Ein Heiler muss nach ihm sehen.«

»Der ist nicht krank«, versetzte der wachhabende Soldat. »Du kannst da nichts machen, Kleiner. Sieh lieber zu, dass du deiner Arbeit nachkommst. Heriodon ist bald mit dem ersten Nachschub fertig. Sobald sie mit Tracharh nach Dubhan abziehen, kommst du mit dem Rest an die Reihe. Je schneller du das hinter dir hast, umso besser, vor allem, wenn du den Heermeister bis dahin zufrieden stellst.«

»Was meinst du damit?«, fragte Rowarn beunruhigt. »Wird euch Warinen auch der Wille genommen?«

»Nein, wir sind von Geburt an der Finsternis verpflichtet und treu an Femris gebunden. Nur so bleibt unser Volk erhalten, das war ein Teil des Paktes. Aber die Anhänger des Regenbogens müssen bekehrt werden, und das kann sehr unangenehm werden.« Der Warine winkte Rowarn. »Komm schon. Bald bist du ein Waffenbruder, und wenn ich dir das sagen darf: Mir wär’s eine Ehre, an deiner Seite zu kämpfen. Wie du Moneg fertig gemacht hast, alle Achtung. Schlaksig und mager und kaum aus dem Ei geschlüpft, aber es steckt eine Menge in dir, und du hast begriffen, worum es bei der Soldatenehre geht.«

Rowarn schluckte. Er wollte das nicht hören. Warinen waren der Feind und würden es immer sein. Mussten es bleiben. »Lieber sterbe ich, als ein Anhänger der Finsternis zu werden«, sagte er leise.

»Es ist doch kein Unterschied«, versetzte der Warine. »Einst waren sie EINS, Regenbogen und Finsternis. Und wir werden nackt geboren, bluten und sterben alle genau gleich, egal, auf welcher Seite wir stehen. Keiner von uns kann entscheiden, ob es richtig oder falsch ist, was wir tun, wenn es nicht einmal Finsternis und Regenbogen selbst wissen. Und weshalb sonst sollten sie den Ewigen Krieg und Zweifel zulassen?«

»Zweifelst du denn?«

»Nicht am Kampf. An allem anderen? Ja. Meiner Ansicht nach ist alles Wahnsinn, wofür gekämpft wird. Ich verabscheue die Machtgier der Kriegsherren. Nur der Kampf ist rein. Ich lebe allein dafür, es erfüllt mich. Der Gesang der Schwerter, der Klang des Metalls, die Harmonie der Bewegung: Das ist die Weltenmelodie, die ich höre, der ich mich hingebe.«

Rowarn war fasziniert, und doch schauderte ihn. »Irgendwann wird keiner mehr da sein, der noch kämpfen kann.«

»Dann ist meine Aufgabe beendet, und ich überantworte mich den Mächten des Todes.«

»Das ist nicht mein Ziel.«

»Und deshalb wirst du auch nie zufrieden sein.«

Da war Rowarn ganz und gar anderer Ansicht. Eine so einfache Weltsicht mochte ihre Vorteile haben, doch er wollte lieber Verantwortung tragen. Und nicht nur zweifeln, sondern auch etwas dagegen unternehmen.



Heriodon war anwesend, als Rowarn sich an den Knappendienst machte. Seit dem Vorfall mit Moneg hatten sie sich nicht mehr gesprochen.

»Du bist zäh und ausdauernd«, bemerkte der Heermeister, während er sich seiner Arbeit widmete. »Nichts anderes habe ich von Noïruns Schüler erwartet. Wenn er das nicht im Griff hätte, hätte er nicht so lange als Heermeister bestehen können.« Heriodon richtete kurz die Augen auf Rowarn. »Es war eine ziemliche Überraschung für uns, dass er es ist. Über zwei Jahre lang konnte er die Täuschung aufrechterhalten. Eine hervorragende Leistung. Aber letztendlich hat es ihm nichts genützt.«

»Es war nur eine Schlacht«, erwiderte Rowarn eingedenk dessen, was Angmor zu ihm gesagt hatte. »Der Krieg ist noch nicht vorbei, und mein Fürst ist frei.«

»Hmmja«, brummte Heriodon, während er eine Nachricht studierte. »Hat er sich nicht schon Lingvern abjagen lassen? Auf höchst tölpelhafte Weise, sodass man ihn nun Ohneland nennt? Kaum eine gute Voraussetzung, findest du nicht?«

»Ardig Hall wäre viel früher gefallen, wenn er noch Fürst von Lingvern wäre. Aus seiner Schwäche ist mein Herr stark hervorgegangen.«

»Du scheinst ihn ja sehr zu mögen. Dann wird es umgekehrt vielleicht ähnlich sein, und ich werde dich benutzen, ihn zu kriegen.« Heriodon zeigte ein finsteres Lächeln.

Rowarn hatte schon darüber nachgedacht, deshalb überraschte es ihn nicht. »Er wird sich nicht erpressen lassen.«

»Tja, man sollte meinen, dass ein Knabe wie du kaum von Bedeutung sein kann.« Der General lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und musterte Rowarn aus verengten Augen. »Er holt dich aus einem unwichtigen fernen Tal namens Inniu und schlägt dich zum Ritter, noch bevor ihr Ardig Hall erreicht habt. Du weichst nie von seiner Seite. Die Vermutung, dass du sein Sohn bist, liegt sehr nahe.«

Rowarn nickte. »So behandelt er mich auch. Vielleicht wünscht er sich, es wäre so. Ich kann es Euch nicht sagen, Heermeister. Ich weiß nur, er ist nicht mein Vater.«

»Du bleibst also dabei, eine Waise zu sein?«

»Ja.«

»Was hast du mit Angmor zu tun?«

»Ich bewundere und verehre ihn, das ist alles.«

»Du könntest sein Zögling für den Orden sein.«

»Ganz gewiss nicht, Heermeister. Das würde mir nie gestattet.« Als Halb-Dämon dem großen Orden der Visionenritter anzugehören – das war genau derjenige Weg, der für Rowarn gänzlich ausgeschlossen war. »Dazu müsste man ein Mächtiger sein, und das bin ich nicht.«

»Darüber sind Tracharh und ich uns ebenfalls einig.« Heriodons Blick durchbohrte Rowarn und ließ sein Inneres gefrieren. »Erstaunlich, aber nicht weiter von Bedeutung. Jedoch gehörst du zu den Alten Völkern, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Wenn Noïrun nicht dein Vater ist, bist du nicht einmal zur Hälfte Mensch.«

Rowarn zog es vor, zu schweigen.

Heriodon erhob sich und kam auf ihn zu. Bevor Rowarn zurückweichen konnte, hatte der Heermeister ihn mit der rechten Hand vorn am Hals gepackt, drückte leicht an zwei bestimmten Punkten zu und zwang den jungen Nauraka in die Knie. Das alles im Verlauf eines Herzschlags.

Rowarn wurde schwindlig, und er rang nach Luft. Gleichzeitig erlebte er, dass man durch bestimmte Griffe am Hals die unterschiedlichsten Schmerzen erleben konnte. Eine Weiterführung der Erfahrung vom letzten Mal – und eine Steigerung noch dazu, was er nie für möglich gehalten hätte. Diese Pein übertraf alles bisher Dagewesene, und er erschlaffte völlig, war keiner Gegenwehr oder auch nur irgendeiner Regung mehr fähig. Ein Funkenregen ging vor seinen Augen nieder, und in seinen Ohren pfiff und rauschte es. Er verlor wie beim ersten Mal die Kontrolle über seinen Körper, seine Blase entleerte sich, und Speichel rann aus seinem Mund. Als ob glühende Nägel in seine Eingeweide getrieben würden, so kam es ihm vor. Seine Adern traten hervor, das Blut kochte in ihm, und er hatte das Gefühl, als würden jeden Moment seine Augen aus den Höhlen springen. 

Als Ritter war er es gewohnt, Schmerzen zu ertragen, doch dagegen konnte er sich nicht wappnen. Vor allem, weil der Schmerz beständig wechselte, bevor er sich daran gewöhnen konnte.

Heriodon beugte sich über ihn, sein Gesicht war ganz nah, als seine Stimme heiser flüsternd durch das Tosen aus brennenden Qualen drang: »Ich glaube zu wissen, wer du bist, zumindest zum Teil. Doch ich müsste sehr viel mehr tun, um die ganze Wahrheit aus dir herauszubekommen. Und das kann ich nicht, denn mein Herr Femris wird dich völlig unversehrt wünschen, wenn er erst von dir erfährt.« Die Fingerspitzen der linken Hand berührten zart, fast liebevoll Rowarns Gesicht. Dem jungen Mann war dennoch, als würde ihm an dieser Stelle langsam mit einer glühenden Zange ein Zahn gezogen. »Bedauerlich. Ich kann dich nicht anrühren, dabei könnte ich von dir eine Menge über die Leidensfähigkeit lernen. Ich bin ein Meister des Schmerzes, junger Ritter. Das war stets meine Leidenschaft, denn Schmerz schenkt so viele Facetten an Reichtum und Erfüllung. Er wird nie Routine, langweilig und stumpf, sondern überrascht einen stets aufs Neue. Ich bin fasziniert davon, schon seit meiner frühen Jugend. Du ahnst nicht, was dir entgeht! Wir könnten eine wunderbare Zeit miteinander verleben. Ich würde dir etwas schenken, was einzigartig ist, aus Dankbarkeit für das Geschenk, das du bist. Schon seit langer Zeit traf ich niemanden mehr wie dich. Doch das Ziel des Unsterblichen geht vor. Ich bin sein Soldat, und die Pflicht steht über allem.« 

Er ließ Rowarn los, der haltlos zu Boden sackte. Sein Gesicht war tränenüberströmt, der Mund aufgerissen, doch kein Laut kam über seine trockenen Lippen. Nur in seinem Inneren schrie er so gellend, dass es selbst das Rauschen in seinen Ohren übertönte. Solch einen namenlosen Schmerz hatte er noch nie erlebt, obwohl er geglaubt hatte, bereits alle Höhen der Empfindung erklommen zu haben, und er hallte immer noch in ihm nach.

Heriodon beobachtete ihn die ganze Zeit mit einem warmen Glanz in den Augen.

Später, als er endlich wieder denken konnte, fällte Rowarn eine Entscheidung; auch um sich abzulenken und sich Mut zu machen: Nachtfeuer konnte warten. Heriodon war vor ihm an der Reihe.



Rowarn fühlte sich fast wie neugeboren, als der Schmerz abrupt verschwand, ohne weitere Nachwirkungen. Wieder einmal war er von Warinen in seine Zelle geschleppt worden, doch er gewann seine Fassung diesmal schneller zurück und verlangte, herausgelassen zu werden, um seiner Arbeit nachzugehen. Vor allem wollte er nach Angmor sehen und versuchen, zu Tamron zu gelangen.

Der Warine, der schließlich auf sein Rufen hin kam, fand es erstaunlich. »Du hättest diesen Tag frei gehabt, warum nimmst du das nicht in Anspruch?«

»Ich bin es nicht gewohnt, frei zu haben«, versetzte Rowarn. »Früher ... bevor ich meine Heimat verließ, hatte ich immer frei. Doch das ist vorbei.«

»Du bist verrückt«, bemerkte der Soldat. »Nicht einmal ein Dubhani würde so weit gehen.«

»Und ich gehe noch weiter.« Rowarn stieß das Gitter auf, nachdem das Schloss geöffnet war, und stürzte sich als Erstes ins Wasser. Die Kälte tat ihm gut und betäubte ihn, die Feuchtigkeit spülte zumindest äußerlich den Schmutz fort. 

Dann erledigte er seine Aufgaben und nutzte einen günstigen Moment, um zu Angmor zu gehen. Die Wachen störten sich nicht daran; inzwischen wurde er schon fast wie einer der Ihren behandelt. Er hatte sich bei ihnen durch seine unnachgiebige, zähe Ausdauer und seinen starken Willen Respekt eingehandelt. Aber natürlich würden sie nie so weit gehen, ihn zu unterstützen, da brauchte Rowarn sich nichts vorzumachen.

Angmor war heute beschwerdefrei, doch er wirkte bei weitem nicht mehr so kräftig. Er kam sofort ans Gitter, als er Rowarns Schritt hörte. »Junge, was ist mit dir geschehen?«, fragte er. Er klang besorgt.

»Das ist nichts weiter«, wiegelte Rowarn ab. »Aber Ihr seid auch nicht gesund.«

»Es zermürbt mich. Ich weiß nicht, was das ist, Rowarn«, gab Angmor zu und klang seltsam müde und niedergeschlagen. »Meine Kräfte müssten jeden Tag zunehmen, doch das Gegenteil ist der Fall. Ich werde immer schwächer, als würde etwas aus mir gesaugt. Doch nur bis zu einem gewissen Punkt. Wenn ich merke, dass ein neuer Anfall naht, und mich hinlege, hört es plötzlich auf, und dann geht es wieder aufwärts, bis ich mich stärker fühle. Daraufhin beginnt es von vorn. Es ist nichts, was mich töten würde, aber ich verstehe nicht, wie das möglich ist.«

»Vielleicht geschieht dasselbe mit Euch wie mit Tamron?«, überlegte Rowarn.

»Nein, es muss etwas anderes sein. Hier stimmt etwas nicht, Junge. Was Tamron geschieht und den armen Tröpfen, die in Dubhani umgewandelt werden, dürfte keinen Einfluss auf mich haben. Etwas ist jedoch an diesem Ort, das auch mir die Kräfte nimmt.« Der Visionenritter klopfte gegen das Gitter. »Das könnte mich normalerweise keinen Augenblick länger hier drin halten. Aber ich kann nicht einmal daran rütteln. Je mehr Kraft ich einsetze, desto schwächer werde ich.«

Rowarn ballte die Faust. »Heriodon muss das gefallen«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

Angmor betrachtete ihn einen langen Moment schweigend. Rowarn konnte seine Augen auf sich gerichtet fühlen. »Verstehe«, sagte er dann langsam. »Wie weit ist er schon gegangen?«

»Zweimal eine kaum merkliche Berührung am Hals, die mich ins ewige Leid von Scíanshàn schickte«, flüsterte Rowarn. »Seitdem habe ich …« Gib es zu, dann wird es leichter. Es gibt nichts, dessen du dich vor Angmor schämen müsstest. Seltsam, aber es war so. Was er niemandem sonst offenbaren könnte, war im Angesicht der unpersönlichen Maske leicht. »Ich habe Angst vor Schmerzen ... jedes Mal, wenn ich jetzt zu ihm gerufen werde, zittern mir die Knie, was er mir wieder antun wird …«

»Er will, dass du Angst hast, denn umso intensiver wird es. Umso gieriger ist er danach. Das ist seine Art, Macht auszuüben. Lass dich davon nicht beeindrucken, Rowarn. Der Schmerz vergeht, und es bleibt nichts zurück.«

»Es ist nicht nur der Schmerz.« Rowarn fühlte, wie Schamröte sein Gesicht überzog.

»Ja. Die Demütigung. Weil du hilflos ausgeliefert bist und keine Kontrolle mehr über dich hast. Als ob er dir ... Gewalt antäte. Du wärst nicht der Erste. Wenn es einen Gott der Folter gibt, so ist er es.« Angmors Stimme klang sanft. »Aber das ist nur dein Körper, Rowarn. Er kann es ertragen und heilen. Solange du Heriodon nicht in deine Seele lässt, kann er dir nichts tun. Betrachte deine Angst nicht als Feind und deinen Schmerz als neue Kraft. Nimm beides dankbar an, erkenne es als nächste Stufe für den Weg hinauf. Betritt die Stufe und geh weiter nach oben.«

Rowarn sah zu den Sehschlitzen in Angmors Helm auf, hinter denen kurz ein bläuliches Licht aufflackerte. »Habt Ihr so gelernt, Euer zerstörtes Gesicht anzunehmen?«

»Und den Schmerz zu ertragen, Rowarn.«

Getröstet verließ Rowarn den Visionenritter. Es gab immer einen Weg.



Rowarn kannte das Heerlager inzwischen sehr gut. Nur einem Ort darin hatte er sich bisher noch nicht genähert: dem großen Graben in der Mitte der Schlucht. Schon auf zwanzig Speerwürfe Entfernung war der Platz leer, kein Zelt, kein abgestecktes Areal befand sich mehr dort. Nicht einmal die Chalumi überflogen dieses Gebiet. Wie an einer unsichtbaren Grenze drehten sie vorher ab.

Manchmal hatte Rowarn überlegt, dorthin zu gehen. Niemand hatte ihm sagen können, wie tief der Graben war, und warum ausgerechnet um ihn herum das Zentrum des Heerlagers erbaut worden war. Und dennoch war Rowarn bisher nicht dort gewesen, obwohl es keine Wachen gab. Irgendetwas hatte ihn immer wieder davon abgehalten. 

Daher war er überrascht, als Gonarg ihn zu sich rief und ihm mitteilte: »Heriodon trug mir auf, dich zum Graben zu schicken.« Er reichte Rowarn mit seltsam verzerrtem Gesicht einen kleinen ledernen Beutel.

Der junge Mann nahm den Beutel verdutzt in Empfang – und ging in die Knie. Fast stürzte er, weil ihn das unerwartet hohe Gewicht nach unten zog, und es hätte ihm beinahe den Arm ausgekugelt. Gonarg musste seine ganze Kraft aufgeboten haben, um Rowarn den Beutel so scheinbar lässig zu geben; deshalb sein merkwürdiger Gesichtsausdruck.

Gonarg grinste. »Eine schwere Last.«

»Was ist da drin?«, fragte Rowarn verdattert, während er sich aufrappelte und den kleinen Beutel mit beiden Händen hielt. Seine Armmuskeln drückten sich durch das dünne Hemd, selbst die Adern zeichneten sich ab.

»Zerstoßener Kometenfels«, lautete die Antwort. »Darin ist verdichtete Magie angereichert wie nirgends sonst, denn diese in den Außenlanden dahintreibenden Steine entstanden in der Frühzeit des Traums. Ein kostbarer Baustoff, aber auch voller Energie, und in gemahlener Form zugleich Nahrung. Komm jetzt.«

Nahrung, dachte Rowarn erschauernd. Wer könnte sich davon ernähren?

Als sie die unsichtbare Grenze hinter sich ließen, wurde der Beutel noch schwerer. Rowarn ging gebückt, keuchend und schwitzend. Er fragte sich, ob der Kometenstaub auch für einen Mächtigen so schwer wäre. Wie war Gonarg als Mensch überhaupt in der Lage gewesen, ihn zu heben?

»Vorwärts!« Der Einäugige gab ihm einen Tritt, und Rowarn kämpfte ums Gleichgewicht. 

Die Liste der Leute, an denen er sich rächen wollte, wurde immer länger, und mittlerweile gab es einen ständigen Wechsel, wer den ersten Rang einnahm.

Rowarn rappelte sich auf und schleppte sich weiter. Die Sonne stand hoch über dem Graben und schickte sengend heiße Strahlen von einem wolkenlosen Himmel herab. Lag es an der stickigen Hitze oder am Gewicht des Beutels – Rowarn fühlte, wie seine Kräfte immer mehr schwanden. Er hatte ein dumpfes Gefühl im Kopf, als hätte sich eine schwere Decke über sein Gehirn gelegt, die kaum Luft hindurchließ. Es fiel ihm schwer, geradeaus zu gehen. Seine Schritte wurden unsicher, schwankend.

»Na los!« Gonarg reagierte zusehends ungehaltener und schlug Rowarn auf den Rücken, doch der spürte das kaum noch. Er konnte nicht schneller.

»So schwer ...«, flüsterte er.

Der Graben rückte näher, ein pechschwarzes Loch inmitten der sandgelben Einöde, das nur am Rande von Sonnenlicht gestreift wurde. Etwas Unheilvolles ging davon aus, das Rowarn fast an die Eliaha erinnerte. Eine düstere Ausstrahlung, nicht von dieser Welt.

Vor allem aber ... eine starke Zurückweisung, eine Ablehnung jeder weiteren Annäherung. Und widerstreitend dazu eine unglaubliche Gier, die schon nach dem Beutel zu greifen schien. Gleichzeitig fühlte Rowarn, wie die Kraft aus ihm floss, als ob ihm alles abgesaugt würde. Nicht nur die körperliche Stärke, sondern auch der Wille. Er strauchelte und sank auf die Knie, der Beutel fiel dröhnend auf den Boden. Auf allen vieren kroch Rowarn weiter, angetrieben von Tritten und Schlägen. Er hatte keine Kraft mehr, sich dagegen zu wehren, er konnte nicht einmal mehr Wut empfinden.

»Ich schaffe es nicht ...«, flüsterte er verzweifelt.

»Es ist nicht mehr weit.« Gonargs Stimme schallte in seinen Ohren wie der Gong einer riesigen Glocke. Andere Klänge gesellten sich dazu, bis er nur noch Geläut hörte, über ein trockenes Rauschen hinweg.

Rowarn wurde das erste Mal ohnmächtig, als der Graben nur noch einen Speerwurf entfernt war. Gonarg brachte ihn unsanft wieder zu sich und zwang ihn weiter. »Ich hab keine Kraft mehr«, wollte Rowarn sagen. Vielleicht hatte er es auch gesagt, er hörte seine eigene Stimme nicht mehr, nicht einmal in Gedanken. Er wollte den Beutel loslassen, doch seine verkrampften Finger konnten sich nicht lösen. Noch ein paar Schritte weiter, und er wurde wieder ohnmächtig.

Rowarn kam zu sich, als Gonarg ihn mit sich zerrte. Allmählich fing er an, über den Tod nachzudenken, der auf ihn dort unten lauerte, in der Tiefe des Grabens. Das schwarze, von Rissen, Vorsprüngen und Zacken gesäumte Loch nahm inzwischen seinen Sichtbereich ein. Er konnte den Kopf nicht mehr heben. Das Licht um den Graben tröstete ihn nicht mehr, und die Sonne brannte ihm das Fleisch von den Knochen.

Dann erreichten sie endlich den Rand. Rowarn hatte das Gefühl, als würde sein Kopf gleich platzen und der Rest des Körpers zerlaufen, einfach über den Fels hinabrinnen in die schwarze Kluft.

»Halte den Beutel über den Rand«, befahl Gonarg, und Rowarn gehorchte willenlos.

Erstaunlicherweise schwand das furchtbare Gewicht, als der Beutel über dem Abgrund hing, und als Rowarn den Kopf weiter vor streckte, konnte er plötzlich besser atmen, und der Druck ließ nach. Seine Augen weiteten sich, als er etwas kommen fühlte. Etwas, das noch dunkler war als diese Tiefe. Er bemerkte nur am Rande, dass Gonarg sich eilig zurückzog. Aber Rowarn fühlte sich auf einmal nicht mehr bedroht. Er zuckte mit keiner Wimper, als sich schließlich etwas an den Rand des Lichts schob und langsam darüber hinaus, kaum zu erkennen durch die tiefe Schwärze, aus der es bestand. Sehr lange, dünne Beine, weit abgespreizt vom Körper und einmal geknickt, um ihn anzuheben. Der Leib war lang und schmal und wie von einer Rüstung umschlossen. Darüber ragte an einem langen, nach vorn gebogenen Schwanz ein mächtiger, krummer Stachel. Der Kopf war von einer großen Hornplatte wie mit einem Schild bedeckt, und darunter lagen zwei handtellergroße, dunkle Augen, die Rowarn ansahen. Da der Großteil des Körpers noch im Dunkel verborgen war, konnte Rowarn die Größe des Wesens kaum einschätzen. Es musste allerdings mindestens acht Pferdelängen messen, wenn die Proportionen stimmen sollten. 

Zwei lange, scherenartige, bewegliche Greifarme streckten sich langsam aus.

Rowarn blieb reglos. Er fühlte, dass dieses Wesen genauso ein Gefangener war wie er, und dass es keine feindlichen Absichten hegte. Die Bannmeile rund um den Graben war vermutlich ein natürlicher Schutz zur Abwehr möglicher Feinde. Die Ausstrahlung war Rowarn so vertraut, dass das Wesen wohl dämonischer Natur war. 

Und er begriff, warum es hier war, und welcher Aufgabe es nachkommen musste. Es war der Grund für Angmors Schwäche, und sicher ebenso Tamrons und all der anderen! Es saugte ihnen allen die Lebenskraft ab, und den Mächtigen dazu die Magie. So wurden aus den Kämpfern des Regenbogens Dubhani, die Lichtlosen. 

Dies hier war das große Geheimnis von Sternfall. Wahrscheinlich bezog Femris von dem Tier Macht für sich, weswegen es mit Kometenstaub gefüttert werden musste, um nicht selbst als leer gesaugtes Opfer zu enden. Was es den Gefangenen abzog, reichte sicher nicht für einen unsterblichen Mächtigen.

Einer der Greifarme hielt auf Rowarns Hand zu. Er könnte mühelos den Körper des jungen Mannes packen und mit sich ziehen, wie ein Vogel einen Wurm aufpickt. Rowarn hielt still, als eine Zange überraschend behutsam ganz vorn an der Spitze den vergleichweise winzigen Beutel umschloss, und ließ dann los. Das Dämonentier zog die Arme langsam zurück.

»Ich weiß nicht, ob du mich verstehst«, flüsterte Rowarn. »Aber ich werde dich hier rausholen, das verspreche ich dir. Sobald ich dazu in der Lage bin, also wahrscheinlich erst nach diesem Krieg. Aber ich vergesse dich nicht und das Unrecht, das dir angetan wurde.«

Ein zartes, hohes Zirpen erklang.

Ich bin ein Diener der Finsternis, hallte es in seinem Kopf. Die dunklen Augen sahen ihn immer noch an.

»Nein. Du bist ein Gefangener, der Schmerzen und Leid erdulden muss. Wie lange bist du schon hier?«

Solange ich denken kann.

Das Wesen war sich nicht einmal seiner Größe und Kraft bewusst. Es könnte das ganze Lager mit nur wenigen Schlägen zerstören, wenn es wollte. Aber es kannte keine Wut, keine Sehnsucht, nicht einmal den Wunsch nach Freiheit. Nur stumpfe Resignation, weil es zeitlebens unterdrückt und die Lebenskraft aus ihm gesaugt wurde. Rowarn hatte es ja bei Angmor erlebt, wie schwach und willenlos er geworden war.

Wenn eines Tages das Absaugen unterbrochen würde, weil Femris vielleicht nicht mehr war ... nicht auszudenken, was dann geschehen mochte. Wenn das Dämonentier begriff, was ihm angetan worden war, weil sich seine Gedanken klärten, weil die Kräfte in ihm wuchsen. Es könnte auf einen beispiellosen Rachefeldzug gehen und eine große Gefahr für das ganze Land Valia werden.

»Du wirst frei sein«, wiederholte Rowarn sein Versprechen. »Gedulde dich und warte, bis ich zurückkehre. Darum bitte ich dich.«

Ich verstehe nicht. Aber ich tu, was du von mir verlangst. So ist es immer.

»Gut«, stieß Rowarn hervor. 

Darf ich jetzt essen? Ich habe großen Hunger.

»Aber sicher. Genügt es dir denn?«

Das ist, was ich bekomme.

Er wartete, bis das Dämonentier wieder im lichtlosen Abgrund verschwunden war. Dann robbte er ein Stück zurück und versuchte, aufzustehen. Aber nun war er erneut im magischen Abwehrbereich des Wesens, und er kam nur ein paar Schritte weit, bevor er wieder ohnmächtig wurde.



Gonarg brachte Rowarn mit einer kräftigen Ohrfeige zu sich. Er lag wieder am Rand des Lagers, im tiefen Schatten der Felsen. »Nun weißt du, was euch blüht«, sagte der Einäugige mit höhnischer Stimme. »Allerdings muss ich dir gratulieren. Du hast länger durchgehalten als alle anderen und sogar die Fütterung überlebt.«

»Und wieso konntest du dich gefahrlos nähern?«

»Heriodon gab mir einen Schutz, Tölpel. Alanium, ein Mittel, das die Sinne gegen diesen Einfluss taub macht. Es wirkt nicht lange, reicht aber für diesen Zweck.«

Rowarn richtete sich auf und rieb sich den Nacken. »Das gehört zu meiner Knappenausbildung, nicht wahr?« Es passte zu Heriodons bisheriger Vorgehensweise. Allerdings glaubte er Gonarg nicht, dass er tatsächlich in Lebensgefahr gewesen war. Das würde Heriodon nicht wagen, solange Femris keine Entscheidung getroffen hatte. »Aber ich fürchte mich nicht.«

»Das spielt keine Rolle. Bald wird Heriodon dich ins Viereck fordern und dir zeigen, wie du mit dem Schwert umzugehen hast. Wenn er damit fertig ist, bist du sein williger Schüler und wirst ihm eifrig dienen.«

»Und du? Wieso sollte er dich schonen?«

»Ich bin sein Spitzel, schon vergessen? Niemand darf Verdacht schöpfen, auf wessen Seite ich wirklich stehe, deswegen muss ich ganz ich selbst bleiben. Aber bald muss ich mich auch darum nicht mehr sorgen und kann mich öffentlich bekennen. Es heißt, Noïrun sei gesichtet worden, auf dem Weg zu den Kúpir. Ich habe den Auftrag, ihn zu suchen, und werde morgen mit einer Truppe aufbrechen.«

»Du bist ein Feigling«, knurrte Rowarn. »Der Fürst wird dich fertigmachen. Ich wäre gern dabei, aber ich habe anderes zu tun.«

»Ja, ich weiß, zu fliehen.« Gonarg grinste boshaft. »Du wirst es noch lernen, wenn Heriodon dich das nächste Mal in die Mangel nimmt. Niemand ist jemals aus der Splitterkrone entkommen. Das ist kein Gerücht, sondern die Wahrheit.«

»Es gibt immer ein erstes Mal.« Rowarn gab sich gleichmütig und stand auf. »Also dann, Verräter, geh auf die Jagd und lerne, die Beute vom Jäger zu unterscheiden.« Es war schon Mittag vorbei, und er musste sich beeilen, damit er noch zu Angmor gehen konnte.