Kapitel 41

Die Hoffnung wächst


Die Pferde liefen geschwind dahin. Die Luft war trocken und kalt, und die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Der Schnee lag nicht allzu hoch, sodass sie die befestigte Handelsstraße gut erkennen konnten. Olrig kannte sich hier bestens aus, da er öfter in Farnheim verweilt hatte und auf verschiedenen Wegen angereist war, und Rowarn verließ sich ganz und gar auf ihn.

Er hatte zum Glück kaum Zeit, der Sehnsucht nach Arlyn nachzuhängen, da Olrig viele Lieder und Geschichten wusste, mit denen er den jungen Mann ablenkte.

»Seid ihr früher auch so gereist, du und Noïrun?«, wollte Rowarn wissen.

Der Kriegskönig lachte. »O ja, landauf, landab, zum Schrecken vieler junger Draufgänger und ... hm ... Ehemänner. Aber erst, nachdem Noïrun sich lange genug bei uns Kúpir aufgehalten hatte, um seinen Hitzkopf abzukühlen.«

»Ich kann ihn mir gar nicht unbesonnen vorstellen.« Wobei das nicht ganz stimmte. Noïrun hatte durchaus schon die Fassung verloren. Das erste Mal in Madin hätte er Rayem wahrscheinlich einen Kopf kürzer gemacht, wäre Olrig nicht dazwischengegangen. Aber Rowarn konnte ihm das kaum zum Vorwurf machen, da er selbst sein Temperament nicht in der Gewalt hatte. Schon mehr als einmal war er in zerstörerische Raserei verfallen. Zum Glück bisher nur zum Schaden des Feindes.

»Du kanntest ihn früher auch nicht. Allerdings lenkten die zwergischen Frauen sein Temperament schnell in andere Bahnen.«

»Das kann ich mir denken, er bekommt schließlich heute noch leuchtende Augen, wenn die Rede auf eure Frauen kommt.«

Olrig kicherte. »Ich bedaure ja ein wenig, ihn erst so spät kennengelernt zu haben. Wir hätten viel früher Spaß haben können.«

»Hast du je erfahren, wie er sein Land verlor?« Diese Frage beschäftigte Rowarn schon lange. Und vermutlich nicht nur ihn.

»Ja, das habe ich – aber ich werde nichts sagen. Das musst du ihn selbst fragen.« Olrig hob die Hand. »Sein Fluch würde mich auf der Stelle treffen, wenn ich darüber reden würde. Wie ich schon einmal sagte: Bei dieser Sache versteht er überhaupt keinen Spaß.«

Mittags hielten sie in einem kleinen Wäldchen mitten in einem Flusstal an, entfachten ein Feuer und packten die Vorräte aus. Die kahlen Bäume waren in ein dickes Schneegewand gepackt, das im Sonnenlicht funkelte. Das Flüsschen war völlig zugefroren, und kleine Langschnäbler staksten mit langen dünnen Zehen darüber. Gleich darauf flatterten sie erschreckt auf und flogen zeternd davon. Auf weichen Ballen schlich Graum heran, ohne im Schnee zu versinken.

»Es ist alles ruhig«, berichtete der Schattenluchs. »Mit etwas Glück können wir gefahrlos reisen.«

Sie verzehrten eine kleine Mahlzeit und tranken dazu starken Süßwurzeltee mit eingerührtem Beerenmus. Rowarn genoss die Stille um sich herum, als er neben Olrig auf dem Baumstamm saß. Hier im Halbschatten der Bäume litten seine Augen auch nicht so stark unter der Helligkeit. Während des Rittes hatte er meist das Visier des Helmes nach unten geklappt, wodurch er nur eine begrenzte Sicht hatte. Umso mehr freute er sich über die kurze Erleichterung.

Kurz vor der Dämmerung erreichten sie an einem Fluss gelegen einen Marktflecken, der am Rand der großen Nord-Süd-Handelsstraße lag. Dort gab es eine Schmiede mit angrenzendem Mietsstall, zwei Lagerhäuser und einige Handwerksläden. Aus den Kaminen stiegen weiße und graue Rauchfahnen auf, die Fenster waren erleuchtet und der Markt noch lebhaft besucht. Auch auf der Straße waren Gruppen von Händlern und einzelne Reisende unterwegs. 

Olrig hielt auf den Gasthof neben der Schmiede zu. »Der Wirt ist zugleich der Bürgermeister und Gründer des Dorfes«, erklärte er unterwegs. »Der Markt hier trägt den stolzen Namen Goldgrund, denn der Fluss ist ein Seitenarm des Goldenen Flusses. Ein junger Ort, der sich erst noch gegen die zwei größeren Städte behaupten muss, die einige Wegstunden von hier liegen. Ich denke aber, wenn der Krieg vorbei ist, wird er ordentlich wachsen.«

Rowarn fiel auf, wie viele sich bereits Gedanken über die Zeit nach dem Krieg machten und offenbar davon ausgingen, dass Femris unterliegen würde. Der Kriegskönig bildete da keine Ausnahme. Dabei hatten sie die schwerste Schlacht noch vor sich.

»Werden Luchse dort wohlgelitten sein?«, erkundigte sich Graum.

»Mal sehen«, brummte Olrig. »Es ist eine Menschensiedlung. Wäre schon möglich, dass du für einigen Schrecken sorgst. Aber der Wirt lässt sicher mit sich reden.«

»Gut, dann bleibe ich als braves Haustier an Rowarns Seite, nicht als Dämon«, entschied der Schattenluchs. »Ich will ihn nicht aus den Augen lassen, mich aber auch nicht offenbaren.«

»Ich kann schon selbst auf mich aufpassen«, murmelte Rowarn.

»Er hat recht, Junge. Jeder weiß, dass du für vier kämpfen kannst, aber wir werden kein Risiko eingehen. Was glaubst du, was dein Vater mit uns machen würde, wenn dir etwas zustieße.«

Ein Knecht kam ihnen entgegen, als sie auf den Stall neben dem Gasthof zuritten. Die Menschen wichen ihnen aus und betrachteten die große gefleckte Katze misstrauisch, äußerten sich aber nicht dazu. Olrig stieg ab und reichte dem Stallknecht die Zügel seines Schimmels. »Volle Versorgung für die Pferde für eine Nacht«, trug er auf und gab ihm zwei Münzen.

Graum blieb dicht an Rowarns Seite, als sie das Haus betraten. Der Schankraum war düster, die Luft stickig, obwohl nur wenige Gäste anwesend waren. Der Wirt, erkennbar an seiner großen grünen Schürze, die sich über einen voluminösen Bauch spannte, kam ihnen eilig entgegen und stutzte, als er den Schattenluchs sah.

Olrig nahm den Helm ab und grüßte den Mann. »Wir benötigen ein Zimmer für eine Nacht.«

»Tiere sind hier nicht erlaubt«, brummte der Wirt und deutete auf Graum. »Und der sieht mir kaum gezähmt aus.«

»Er gehört zu mir wie ein Bruder«, sagte Rowarn ruhig und wies auf seinen Rückenköcher, den er zuvor angelegt hatte. »Wollt Ihr einem Ritter von Ardig Hall, der für die Freiheit Eures Landes kämpft, Kost und Logis verweigern? Und ebenso einem Verbündeten vom Zwergenvolk?«

Der Mann wurde ein wenig blass und verneigte sich mehrmals. »Bitte um Entschuldigung, aber in diesen Zeiten ... Ihr versteht ... ich habe noch ein Zimmer, aber ich bitte Euch freundlichst um Zurückhaltung. Mein Gasthof ist ein neutraler Ort.«

Olrig wandte sich an Rowarn. »Das bedeutet, er muss Schutzgeld an Dubhani-Räuber zahlen.«

Der Wirt hob erschrocken die Hände, sein Blick flog ängstlich durch den Raum. »Ich bitte Euch ... wenn ich Euch doch überreden könnte, weiterzureiten ...«

»Kommt nicht in Frage«, sagte Rowarn streng. »Ich will wissen, was die Leute reden, und mit eigenen Augen sehen, was vor sich geht. Zudem wird es bald dunkel, und ich denke nicht daran, wegen der Feigheit eines Gastwirtes unter dem nackten Sternenhimmel zu frieren. Habt Ihr nun Zimmer für Reisende oder nur für besonders ausgewählte Gäste?«

Olrig warf ihm einen erstaunten Blick zu und grinste dann vergnügt in seine dunklen Bartzöpfe.

Der Schattenluchs schnüffelte am Bein des Wirtes, seine langen Schnurrhaare zuckten.

»B-bitte«, flüsterte der Mann, dem jetzt deutlich sichtbar der Angstschweiß auf der Stirn stand. »Es sind nur wenige Stunden bis zur nächsten Stadt, in nördlicher ebenso wie in südlicher Richtung. Wir haben hier keine Stadtwache zum Schutz ...«

Olrig winkte ungeduldig ab und zog Umhang und Handschuhe aus, die er auf den Tresen legte. »Lasst unser Gepäck auf das Zimmer bringen, und dann serviert uns zwei ordentliche Schalen von Eurem Eintopf, außerdem Brot und Winterbier, und dem Luchs gebt einen Rindsknochen mit Fleisch dran, dann werdet Ihr keinen Ärger bekommen.«

Als der Wirt weiterhin reglos verharrte, zogen sich die buschigen Augenbrauen des Zwerges zusammen. Er zog einen Silberdrachen hervor und warf ihn auf den Tresen. »Hiermit ist das Morgenmahl großzügig mitbezahlt. Und haltet auch warmes Wasser bereit!« Ohne weiteren Widerspruch abzuwarten, ging er in die Gaststube. Rowarn legte ebenfalls Umhang, Helm und Handschuhe ab, dazu den Rückenköcher mit der Fahne, und folgte ihm.

Die übrigen Gäste taten, als bemerkten sie die Neuankömmlinge nicht, und unterhielten sich weiterhin angeregt. Die drei Gefährten ließen sich in einer Ecke am Fenster nieder, und kurz darauf wurde das Gewünschte serviert. Die Schankmaid vermied es allerdings, sie anzusehen, und verweilte gerade lange genug, um alles abzustellen.

»Wir werden früh schlafen gehen und morgen bei Tagesanbruch aufbrechen«, sagte Olrig. »Die Leute hier sind wie gelähmt vor Angst. Das wird vermutlich immer schlimmer werden, je weiter wir in den Einflussbereich Dubhans geraten.«

Rowarn nickte. Natürlich erregten sie mit Graum Aufsehen, doch die Leute hatten nicht nur vor dem gefährlich aussehenden Raubtier Angst. Die Stimmung war gedrückt, die Unterhaltungen wurden gedämpft geführt. Das änderte sich erst, als einige Händler eintrafen, die auf der Durchreise waren. Händler waren immer begierig darauf, Neuigkeiten auszutauschen und sich selbst genug in Szene zu setzen, um vielleicht noch ein zusätzliches Geschäft zu machen oder neue Handelskontakte zu knüpfen. So wurde wurde es schnell lauter, als sie anfingen, sich gegenseitig auszuhorchen. Rowarn und Olrig hörten ihnen aufmerksam zu. Im Wesentlichen gab es nichts Neues, der eine oder andere wollte jemanden kennen, der den Fürsten gesehen habe, und auch von dem Erben von Ardig Hall war die Rede.

»Aber was reden wir da!«, rief schließlich einer und deutete unverhohlen auf die Freunde. »Wir spekulieren über Gerüchte, dabei haben wir hier zwei leibhaftige Kämpfer von Ardig Hall, ist es nicht so?«

Rowarn hatte sein Wappenhemd nicht abgelegt. Er rührte sich nicht, als der Mann mit seinem Bierkrug an ihren Tisch trat.

»Nun, gibt es Neuigkeiten von der Seite des Regenbogens? Ich gebe Euch gern ein Winterbier aus, um ein paar Informationen zu erhalten, die ich weitertragen kann.«

»Was wollt Ihr hören?«, versetzte Rowarn. »Wir haben die Schlacht verloren, das ist eine Tatsache. Tatsache ist aber auch, dass wir den Krieg noch nicht verloren haben. Wir sammeln uns in Eisenwacht, um im Frühjahr gegen Dubhan zu marschieren.«

Daraufhin herrschte für einen Augenblick tiefes Schweigen im Raum. Dann sagte einer: »Ihr werdet uns alle ins Unglück stürzen.«

»Sollen wir also resignieren?«, schnarrte Olrig. »Wir geben unser Blut für euch Bürger, und wir werden Dubhan besiegen, damit ihr wieder ohne Angst euer Bier genießen könnt. So zumindest halten es wir Zwerge.«

Rowarn sah, wie Graums Ohrpinsel heftig zuckten, doch der Dämon beherrschte sich.

Wie aufs Stichwort flog in diesem Moment die Tür auf. Eine fünfköpfige Truppe Warinen in voller Rüstung stampfte wuchtig herein und brachte eisige Kälte mit sich. Sofort wandten sich alle Gäste ab, auch der Händler setzte sich eilig, und eine angespannte Stimmung breitete sich aus. Rowarn konnte die säuerliche Angst der Leute riechen. Selbst das Feuer im offenen Kamin schien sich hinter dem Holz zu verkriechen. Der Wirt wieselte um die Dubhani herum, wies ihnen den besten Tisch an, winkte nach Schankmaiden und Knechten und schwitzte gleichermaßen Blut und Wasser. Die Warinen musterten Olrig und Rowarn ein paar Lidschläge lang, dann setzten sie sich schweigend, ohne sie weiter zu beachten. Mit der Zeit setzten die murmelnden Unterhaltungen wieder ein, doch Rowarn sah, dass die Menschen immer wieder ängstlich zur inzwischen geschlossenen Tür schielten. Niemand wagte es, aufzustehen und den Raum zu verlassen, obwohl vermutlich jeder am liebsten ganz woanders wäre.

Olrig stopfte in aller Ruhe seine Pfeife und winkte der Schankmaid, noch zwei Winterbier zu bringen. Rowarn beobachtete unauffällig die Warinen, die schweigend ihre Mahlzeit verzehrten. Draußen war es inzwischen dunkel, und Eisblumen wuchsen am Fenster.

Graum blickte kurz auf, als durch die geschlossene Tür ein kurzes Poltern drang, das jeder andere im Raum geflissentlich überhörte. Der Wirt war schon eine ganze Weile draußen.

»Ich muss mal kurz raus«, sagte Rowarn daraufhin zu Olrig. »Warte mit Graum hier, ich bin gleich zurück. Du könntest derweil heißen Punsch und kandierte Früchte bestellen.«

Der Schattenluchs blinzelte zu ihm hoch und miaute leise.

»Ein paar Augenblicke kann ich wohl allein sein, oder?«, brummte Rowarn. »Was sollte mir da schon passieren.«

Der Zwerg sagte nichts, sondern beschäftigte sich mit seiner Pfeife.

Ohne die Warinen eines Blickes zu würdigen, ging Rowarn an ihnen vorbei nach draußen und schloss die Tür hinter sich. Im Vorraum war niemand, auch auf der Treppe nicht. Rowarn lauschte und glaubte dann, im hinteren Bereich, durch eine halb offenstehende Tür, ein Geräusch zu hören. Es klang wie ein schmerzliches Wimmern. Langsam schlich er sich näher heran. Weitere Laute, ein unterdrücktes Knurren. Dann konnte Rowarn die zitternde Stimme des Wirtes erkennen.

»W-wenn ich euch doch sage … Ich kann nicht mehr zahlen ... Kaum jemand macht mehr Rast, und wer hier lebt, hat kein Geld mehr, um in meine Schenke zu gehen ...«

»Weleb, Weleb, das stimmt mich traurig.« Eine krächzende, eiskalte Stimme. »Was tun wir nicht alles für dich. Wir beschützen dich vor marodierenden Banden, sorgen dafür, dass du nicht ausgeraubt wirst, dass dieser armselige Flecken, auf den du so stolz bist, nicht in Flammen aufgeht, und so dankst du es mir?«

»Aber ...«

Ein klatschendes Geräusch, gefolgt von schmerzlichem Wimmern.

Rowarn stieß die Tür auf. »Heda, Wirt, seid Ihr hier irgendwo? Ich suche nach ... oh, komme ich ungelegen?«

Mit einem raschen Blick erfasste er die Lage. Zwei Männer, die den Gastwirt in der Zange hatten. Keine Warinen, sondern Menschen. Söldner, Habenichtse in Friedenszeiten, die sich auf diese Weise zu bereichern trachteten. Die gab es auf beiden Seiten, doch Rowarn war froh, dass sie das Wappenhemd des zerbrochenen Tabernakels trugen.

Welebs Gesicht war blutüberströmt, ein Auge zugeschwollen, die Nase ein blutiger Klumpen. Sie hatten den armen Mann übel zugerichtet. Auf dem rissigen Holzfußboden unter seinen Füßen breitete sich ein feuchter Fleck aus und Rowarn stieg der beißende Geruch nach Urin in die Nase.

Die beiden Söldner ließen ihr Opfer los und wandten sich Rowarn zu; sie mussten schon lange unterwegs sein, ohne festes Lager, denn sie wirkten heruntergekommen, die Bärte wucherten wild, die Haare waren lang und ungepflegt. Ihre Augen waren kalt und leblos, und ihr Gebiss zeigte Lücken und braune Stumpen, als sie Rowarn angrinsten. Auch ihre Rüstungen waren ungepflegt, die Wappenhemden fleckig und löchrig.

»Wem hast du denn das Wappenhemd geklaut, Kleiner?«, sagte der Mann mit der krächzenden Stimme, und der andere lachte hohl.

»Ein größenwahnsinniges Bürschlein, das sich für einen Helden hält.«

Langsam gingen sie auf Rowarn zu.

»Bei den Göttern, junger Herr, es ist alles in Ordnung, geht ruhig wieder zurück in die Stube, ich komme gleich und bringe Euch alles, was Ihr wünscht!«, rief der Wirt verzweifelt.

»Das übernehmen wir schon, Weleb«, sagte der zweite Mann. »Den edlen Recken Ardig Halls sind wir doch immer gern behilflich.«

»Bitte, bitte, nicht hier drin ...«, flehte der Wirt. »Es ist alles, was ich habe ...«

»Ihr habt euren Gastgeber gehört«, sagte Rowarn. »Gehen wir raus, dann höre ich mir gern an, wobei ihr mir behilflich sein wollt.« Hier drin auf engem Raum war sein Schwert ohnehin nutzlos.

»Mir gefällt deine Rüstung«, sagte der Krächzende.

»Und mir deine Stiefel«, setzte der andere nach.

Rowarn wich langsam durch den Gang zurück, und die beiden folgten ihm. Er tastete nach dem Türgriff, die Kälte traf ihn wie ein Schlag in den Rücken, als er die Tür öffnete. Ihn schauderte es, und beinahe hätte er dem eisigen Druck nachgegeben; es war Dummheit, so ungeschützt in die Kälte hinauszugehen. Andererseits wäre der dicke Winterumhang im Kampf hinderlich gewesen. Er musste es einfach schnell hinter sich bringen, dann konnte er wieder zurück ins Warme.

Er hatte kaum einen Schritt nach draußen gesetzt, als er sein Schwert zog, ebenso wie die beiden Söldner, die sich sofort zu beiden Seiten verteilten. Sie waren mindestens zehn Jahre älter als er und bedeutend kräftiger gebaut. Aber keine Ritter. Sie verstanden sich nur auf schnelles Vorstürmen und kraftvolles Zuschlagen und hatten keine Ahnung von der wahren Kunst des Schwertkampfes.

Und Zeit wollten sie obendrein keine verlieren. Ohne die Lage zuerst abzuschätzen, vertrauten sie auf ihre zahlenmäßige Überlegenheit und griffen ihn gleichzeitig von zwei Seiten an. Rowarn zog seinen langen Dolch mit der linken Hand und parierte beidhändig die gleichzeitig geführten Schläge.

Sie waren gut eingespielt, das musste er ihnen zugestehen, und sie kannten eine Menge speziell einstudierter Finten, die sie mit kurzen Gesten und Blickkontakten absprachen. Für einige Zeit kam Rowarn aus der Deckung nicht heraus und wurde immer weiter zurückgetrieben. Die beiden fielen mit großem Geschrei über ihn her, lachten und verhöhnten ihn, während sie auf ihn eindroschen. Dieser Lärm sollte in voller Absicht Zuschauer anlocken, die sich bald einfanden, auch aus dem Gasthaus kamen Leute, allen voran der Wirt, der rief: »Bitte, ihr Herren, wir können uns doch sicher einigen«, aber niemand hörte auf ihn.

Rowarn sah Olrig und Graum, den Händler von vorhin und zuletzt die fünf Warinen, von denen zwei an Keulen nagten, die sie vom Tisch mitgebracht hatten, ein anderer trank aus seinem Humpen.

»Passt gut auf!«, schrie der Krächzende in die Runde. »Da seht ihr, was wir mit den Anhängern von Ardig Hall machen! Lasst es euch eine Lehre sein!« Damit griff er erneut an.

Rowarn hatte die ganze Zeit keinen Laut von sich gegeben, sich von ihnen treiben lassen und die Vorgehensweise der beiden studiert. Wenn sie nicht solche Angeber gewesen wären, hätte er in großen Schwierigkeiten gesteckt. Er war froh, ihnen nicht auf dem Schlachtfeld begegnet zu sein. Dort waren sie bestimmt nicht so vorlaut; mit diesem Auftritt wollten sie auch die Bewohner des Goldgrunds einschüchtern. Auf dem Schlachtfeld hätten sie sich nur aufs Töten konzentriert. Daher hatte Rowarn es leichter, weil sie zu sehr abgelenkt waren; trotzdem durfte er nicht den Fehler begehen, sie zu unterschätzen.

Der zweite Mann war der Gefährlichere der beiden, da er sich mehr zurückhielt und einen günstigen Moment abwartete, um Rowarn in den Rücken zu fallen. An ihn kam Rowarn vorerst nicht heran, daher musste er erst dessen Kumpan ausschalten. Er sah, wie der Krächzende zu einem Ausfall nach links und einer Finte ansetzte, und stürmte plötzlich vor, stieß sich ab und flog über den verdutzten Angreifer hinweg, der unter ihm ins Leere lief; auch der Gefährte war so überrascht, dass er keine Gelegenheit bekam, das Schwert nach oben zu reißen. Für so etwas waren die beiden zu schwer, ihre starken Muskeln schränkten auch ihre Beweglichkeit ein. Rowarn aber war biegsam und leichtfüßig, er schlug einen Salto, landete im Rücken des Mannes und hieb ihm mit rückwärtigem Schwung das Schwert mit der scharfen Schneide in die Seite, woraufhin der Gegner brüllend einknickte. Das gab Rowarn Zeit, sich zu drehen, er umfasste dabei das Heft mit beiden Händen und setzte zum tödlichen Streich gegen den Hals an. Mit einem kraftvollen Hieb beendete er den Kampf. Der Schrei des Mannes riss abrupt ab, er taumelte, das erhobene Schwert fiel ihm aus der Hand, dann landete der kopflose Körper mit einem dumpfen Laut im Schnee.

Sein Gefährte hielt für einen Moment inne, völlig überrascht von der unerwarteten Wendung und kurzzeitig verunsichert. Er wandte sich an die Warinen. »Was steht ihr da herum? Greift ein!«

»Brauchst du Unterstützung, Memme?«, knurrte Rowarn und ging langsam auf den Gegner zu, das blutige Schwert halb erhoben. Seine Augen flammten wie Eisfeuer, sein Schatten kroch über den Schnee, schien zu wachsen, und der eine oder andere Zuschauer schwor später, der Schatten sei gehörnt gewesen wie ein Dämon. »Allein bist du wohl nur halb so viel wert. Dabei habe ich mich noch nicht einmal der Raserei ergeben.«

Der vorderste Warine, der nach wie vor an seiner Keule kaute, sagte ruhig: »Das erledigst du leicht selbst, Ködegg, das Bürschlein ist nur eine halbe Portion im Vergleich zu dir.«

»Er hat euren Hauptmann getötet!«

»Und jetzt töte ich dich.« Nun ging Rowarn zum Angriff über, mit Dolch und Schwert. Es bedurfte nur dreier Schläge, dann war es vorbei. Doch Rowarn hielt sich nicht damit auf, seinen Sieg auszukosten; noch bevor der Leib des Mannes gefallen war, ging er mit vorgestrecktem Schwert direkt auf den nächststehenden Warinen zu, und sein Schatten schien hinter ihm weiter in die Höhe zu wachsen.

»Wir werden das jetzt beenden«, zischte er. »Entweder wird weiteres Blut fließen, oder ihr verlasst diesen Ort und werdet künftig einen großen Bogen um ihn machen. Eure Anführer sind tot, doch die Frage ist, ob ihr das Erbe übernehmen werdet? Ich kenne euch Warinen, ihr seid keine Räuber, sondern Krieger von Ehre. Ist das eure Art, Krieg zu führen? Wenn ja, kämpfen wir. Wenn nein, lasse ich euch ziehen und nehme euch den Schwur ab, dass ihr diesen Ort künftig in Ruhe lasst. Und ich werde euch glauben.«

Die Warinen zögerten. Olrig legte die Hand an den Griff der Axt in seinem Gürtel. Graum schlug einen Bogen um die Warinen und stellte sich frontal vor ihnen auf. Er zeigte das gesträubte Rückenfell und die langen Reißzähne; Schwanz und Ohren waren steil aufgestellt. Seine Augen leuchteten wie Feuerbälle.

Ein Warine trat schließlich nach vorne, doch der Vorderste hielt ihn am Arm fest. Er zeigte mit der abgenagten Keule auf Rowarn. »Ich kenne diesen da«, erklärte er mit grollender Stimme. »Er war in der Splitterkrone.«

»Wie kommt er dann hierher?«, knurrte ein anderer.

»Er ist entkommen«, antwortete der Warine grinsend und zeigte spitz zugefeilte Zähne. »Und nicht nur das, er hat den Visionenritter befreit und mitgenommen.« Ein düsteres Licht glühte in seinen Augen. »Und Tamron.«

Da wichen die übrigen Warinen einen Schritt zurück.

»Doch dann habe ich mein Schwert in ihn gestoßen«, fügte Rowarn ruhig hinzu. »Für den Verrat, den er begangen hat.«

Die Menschen ringsum starrten ihn mit aufgerissenen Augen an. Der Händler flüsterte: »Er ist es«, und ein anderer: »Der Erbe von Ardig Hall ...«

»Ja, der bin ich«, sagte Rowarn, und in diesem Moment konnte niemand mehr daran zweifeln, denn seine Gestalt leuchtete silbrig in der Dunkelheit, und der gehörnte Schatten überragte ihn. »Uns verbindet Dämonenessenz, Warinen! Ich weiß, wer ihr seid, und ich weiß, wie ihr kämpft. Ich kann eure Essenz riechen, doch ist die meine um ein Vielfaches stärker, denn Nachtfeuer ist mein Vater. Nachtfeuer, der Herrscher des Dämonenlandes, der sich gegen Femris wandte und nun für den Regenbogen kämpft! Also, geht nach Dubhan und bewacht euren Herrn, denn ich werde bald kommen und Femris den Todesstoß versetzen.« Mit diesen Worten hob er den gestreckten Arm auf Augenhöhe des vordersten Warinen, sodass die blitzende Schwertspitze genau auf seine Stirn zeigte.

Darauf folgte Schweigen, und Kälte kroch langsam in die erstarrten Glieder. Die Menschen wagten sich nicht mehr zu rühren, auch Olrig und Graum verharrten reglos, behielten aber die Dubhani fest im Blick. Der Schnee zu Rowarns Füßen war rot vom Blut der Gefallenen.

Dann warf der vorderste Warine die abgenagte Keule beiseite und hob die Hand. »Wir ziehen ab.« Während die vier anderen sich widerspruchslos umdrehten, die Sachen holten und sich auf den Weg zu den abseits angebundenen Pferden machten, wandte der Sprecher sich noch einmal Rowarn zu. »An einem anderen Tag«, sagte er gelassen.

Rowarn nickte. »Er wird bald kommen.«

Die fünf Warinen saßen auf und trabten in die Nacht hinaus.

Die Menschen standen immer noch wie erstarrt, auch als der dumpfe Hall der Hufe schon vom Schnee erstickt war. 

Rowarn wischte die Klinge im Schnee ab und steckte sie ein, mit dem Dolch verfuhr er ebenso. »Überlegt Euch, ob Ihr weiterhin ein neutrales Haus führen wollt, Herr Wirt«, sagte er zu Weleb und ging zurück ins Gasthaus.



Rowarn ließ sich den Weg zum Zimmer zeigen und ging direkt hinauf. Als Olrig und Graum bald darauf kamen, hatte er Rüstung und Kleidung abgelegt und wusch sich mit einem Schwamm. »Ich will nicht darüber reden«, sagte er, bevor einer von beiden einen Laut von sich geben konnte.

»Ich bin viel zu müde zum Reden«, sagte Olrig und gähnte.

»Ich wollte nur deine Waffen und die Rüstung polieren«, sagte Graum, nahm Dämonengestalt an und griff nach dem Waffengürtel.

Rowarn legte sich ins Bett und schloss die Augen. Kurz darauf war er eingeschlafen.



Als Rowarn am nächsten Morgen kurz vor der Dämmerung in die Gaststube kam, war das Frühstück schon vorbereitet. Die Atmosphäre war bedeutend entspannter als gestern. Die Gäste, zu dieser frühen Stunde waren es nur Händler, lächelten ihn schüchtern und mit verstohlener Bewunderung an, er grüßte und setzte sich in eine ruhige Ecke. »Wo ist Graum?«, fragte er Olrig, als der Zwerg kurz nach ihm eintraf.

»Schon unterwegs«, antwortete der Kriegskönig und belud seinen Teller. »Wir werden ein Stück auf der Handelsstraße reiten, das geht schneller, und dann nach Osten abbiegen. Das Wetter ist gut, wir werden schnell vorankommen. Noch zwei Tage, dann haben wir Eisenwacht erreicht. Es sei denn, du möchtest unterwegs jedes einzelne Dorf von Dubhans Schergen befreien. Abgesehen davon, dass sie bald an jeder Ecke und hinter jedem Baum auf uns lauern werden, um herauszufinden, ob du wirklich so gut bist.«

»Ich habe meine Gründe für das, was ich tue«, brummte Rowarn.

»Gewiss. Vor allem, an deiner eigenen Legende zu weben.«

»Sie brauchen Hoffnung, Olrig! Wenn sie nicht an uns glauben, wofür sollen wir dann kämpfen? Es muss allen klar werden, dass sich niemand mehr heraushalten kann. Das Böse kann nur dann an Macht gewinnen, wenn sich ihm keiner entgegenstellt. So zumindest haben es mich meine Muhmen gelehrt. Nichts zu tun ist gleichbedeutend mit Kapitulation. Aber wenn wir alle zusammenhalten, und wenn auch der einfache Mann sieht, dass er nicht allein ist, wächst der Widerstand, und der Einfluss von Femris wird zusehends schwächer.«

»Du willst alles auf einmal, Rowarn, und du bist zu furchtlos, das macht mir Sorgen«, sagte der Kriegskönig ruhig. »Du erinnerst mich zu sehr an Noïrun. Ganz Dubhan wird jetzt hinter dir her sein.«

»Aber sie dürfen mich nicht töten«, versetzte der junge König. »Wenn ihr recht habt und Femris immer noch Einfluss ausüben kann, will er mich lebend. Jetzt mehr denn je. Zumindest ist sein Befehl nie aufgehoben worden, und die Warinen halten sich treu an ihre Anweisungen. Die fünf Dubhani gestern wollten nicht riskieren, mich zu töten, deshalb sind sie abgezogen.«

»Ah«, brummte Olrig, »und wenn eine Hundertschaft ausrückt, um dich zu gefangen zu nehmen?«

»Wir müssen eben rechtzeitig in Eisenwacht sein«, antwortete Rowarn und grinste.

»Bleibt immer noch der Rückweg.«

»Dann nehme ich eine Hundertschaft Soldaten mit und schicke sie vor Farnheim zurück. Sei zuversichtlich, Olrig! Wir haben tapfere und mächtige Verbündete. Allen voran dich, alter Freund.«

Rowarn schaute auf, als der Wirt an ihren Tisch trat. Er sah immer noch übel zugerichtet aus, aber die Angst war von ihm abgefallen. Er verbeugte sich vor Rowarn. »Ist es wirklich wahr, Herr?«, fragte er scheu. »Seid Ihr der Erbe von Ardig Hall?«

»Ich bin der Sohn von Königin Ylwa und Angmor, dem Visionenritter«, antwortete Rowarn. »Ich werde Femris die drei Splitter abnehmen. Tragt es weiter, wenn Ihr wollt. Die Zeit des Versteckens ist vorbei.«

»Ich bin Euch zu Dank verpflichtet ...«

»Ihr schuldet mir nichts, Herr Wirt. Baut diesen Ort auf, wie Ihr es geplant habt.«

Bald darauf waren sie wieder unterwegs; die Straße war so früh noch frei, und sie kamen schnell voran.

Am Vormittag bog Olrig wie geplant wieder nach Osten ab, und Rowarn erschauerte unwillkürlich ein wenig, als er in der Ferne den Wald sah, durch den sie damals nach Dubhan geritten waren. Dort waren sie Heriodon ein letztes Mal begegnet und dort war Noïrun  so schwer verwundet worden.

Schweigend trieben sie die Pferde über die Hügel, abseits aller Wege und Höfe. Der Himmel trübte sich, Hochnebel verdeckte die Sonne. Am frühen Nachmittag kam Wind auf, und Schneewehen wallten von den Hügeln herab und verschlechterten zusehends die Sicht. Sie mussten die meiste Zeit Schritt gehen, und die Pferde hielten die Köpfe schief, um dem Wind auszuweichen. Bald waren sie mit nassem Schnee bedeckt, der Wind biss immer kräftiger zu, und Rowarn schlug die Kapuze über den Helm. Sie mussten sich durch immer tiefere Verwehungen kämpfen, und selbst Graum verlor die Lust, allzu weit vorauszulaufen. Bei dem Wetter würde wohl kein Angriff erfolgen.

Das schlechte Wetter wuchs sich bald zu einem Schneesturm aus, der willkürlich die Richtung wechselte, mal aus Norden, dann wieder aus Westen kam. Olrig überlegte, ob sie anhalten sollten, weil sie kaum mehr vorankamen, doch es gab hier draußen keinerlei Deckung. Also weiter, auch wenn die Pferde maulig wurden und immer wieder stehen blieben. Graum stapfte voran und suchte nach dem Weg. Als Windstürmer sich einmal absolut weigerte weiterzugehen, bedeutete Rowarn Olrig, Graum über den nächsten Hügelkamm zu folgen. »Ich komme gleich nach, mach dir keine Gedanken.«

Er saß ab und prüfte die Hufe seines Pferdes; seit dem späten Herbst trug Windstürmer keine Eisen mehr, damit sich im Schnee keine Eisschicht darunter bildete. Es schien alles in Ordnung zu sein, auch die Fesseln waren nicht übermäßig heiß oder geschwollen. Rowarn klopfte den schneebedeckten Hals des kleinen Falben und redete ihm gut zu. In seinen Taschen fand er süße Lakritze, die gab er Windstürmer, der schmatzend darauf kaute. Der Wind peitschte ihnen Schnee und Eiskörner ins Gesicht. Rowarn konnte den Widerwillen des Pferdes verstehen. Trotzdem musste es weitergehen, wenn sie am Abend irgendein Gehöft erreichen wollten, wo sie übernachten konnten.

Ein Gutes hatte das Wetter: Etwaige Verfolger würden ihrer Spur nicht folgen können. Rowarn konnte Olrig nur noch als fernen Schatten erkennen, die Huffährte war schon längst wieder zugeweht. Er stieg wieder in den Sattel und kämpfte kurz mit seinem Wallach, bis Windstürmer doch nachgab und endlich vorwärtsging. Bis dahin verschwand Olrigs Kopf gerade hinter dem Hügel, und Rowarn trieb den Falben an, der sich mit wütendem Schnauben durch den Schnee kämpfte. Als er auf dem Hügelkamm entlangritt, entdeckte Rowarn unter sich zwei dunkle Flecken im windumtosten Weiß, die soeben anhielten und sich auf der Stelle bewegten; wahrscheinlich drehten sie sich zu ihm um. Rowarn hob winkend die Hand und lenkte Windstürmer den Hügel hinunter.

Auf halbem Weg gab plötzlich der Schnee unter den Hufen nach, und sie sanken in ein Schneeloch ein. Rowarn hörte von fern die Gefährten erschreckt rufen, als der Wind gerade wieder drehte und die Laute mit sich trug. Rowarn wollte Ruhe bewahren und absteigen, um dann Windstürmer irgendwie freizuschaufeln, da hob es ihn aus dem Sattel, als der Boden gänzlich unter ihnen wegsackte. Sie rutschten nach unten, der Schnee schlug wie eine Meereswoge über ihnen zusammen, und dann ging es im freien Fall abwärts.

Windstürmer wieherte schrill vor Angst, doch dann kamen sie mit einem dumpfen Aufprall inmitten einer aufstiebenden Schneewolke am Boden auf. Rowarn flog in hohem Bogen über Windstürmer hinweg, der sich unter ihm mit wirbelnden Hufen überschlug, dann landete er selbst Kopf voran im Schnee und rollte wie ein Schneeball weiter, bis er in einer Vertiefung liegen blieb. Schnee spuckend richtete er sich auf alle viere auf und sah sich nach dem Pferd um, das soeben wieder auf die Beine kam und sich grunzend schüttelte. Erleichtert rappelte Rowarn sich hoch und stellte fest, dass auch seine Knochen alle noch heil waren. Er klopfte sich den Schnee ab und ging auf Windstürmer zu, der ihm prustend und schnaubend entgegenkam.

»Wir sind wohl in eine schmale Schlucht gestürzt, die vom Schnee bedeckt war«, sagte Rowarn zu dem Pferd und nahm den Zügel. »Ein paar Schritte weiter und wir hätten wahrscheinlich wieder festen Boden gehabt. Tut mir leid, alter Junge, das war mein Fehler, und du hast mich auch noch gewarnt.«

Rowarn sah sich um. Links und rechts wölbten sich Schneewände hoch; nicht einmal die Einsturzstelle über ihnen war noch erkennbar. Der Sturm hatte sie bereits wieder zugeweht.

Es sah so aus, als gäbe es weiter vorn einen Pfad. Olrig und Graum waren vermutlich schon panisch auf der Suche nach ihnen, er musste so schnell wie möglich einen Weg hinausfinden.

Mit Windstürmer am Zügel stapfte Rowarn den schmalen Weg entlang, aber er hatte das Gefühl, dass sie immer tiefer in die Schlucht gerieten. Es lag hier nur noch wenig Schnee, der Boden wurde steinig, und zu beiden Seiten erhoben sich scharfkantige Felsen, die immer mehr in die Höhe wuchsen. Keine Lücke zeigte sich über ihnen, und Rowarn hegte die Befürchtung, dass sie in eine Höhle hineingingen. Damit würden sie sich immer weiter von den Gefährten entfernen. Andererseits wurde es kaum dunkler, überall herrschte ein gleichmäßiges Licht. Also war zwischen ihnen und dem Himmel nach wie vor nur Schnee.

Es gab keine Abzweigung, keine Möglichkeit, nach oben zu klettern. Der Weg wand sich immer weiter durch die schmale Schlucht. Rowarn hatte bald jegliches Zeitgefühl verloren, und Windstürmer zockelte müde hinter ihm her. Die eng stehenden Wände waren beklemmend. Zudem glaubte Rowarn, einen merkwürdigen Geruch wahrzunehmen, wie nach ... Pilzen. Und es wurde zusehends unangenehmer.

Plötzlich polterten an der linken Wand Steine aus dem Weißgrau über ihnen herab, und es knallte, als sie auf vorragende Spitzen trafen, die daraufhin abbrachen und zu Boden prasselten. Windstürmer, der sonst so Nervenstarke, stieß ein grelles Wiehern aus, stieg kopfschlagend, riss sich von Rowarn los und stürmte über den Pfad davon. Rowarn versuchte ihm nachzulaufen, schrie ihm hinterher, aber er musste bald keuchend aufgeben. Das Pferd war verschwunden, nicht einmal sein Hufschlag war noch zu hören.

»Verdammt!«, fluchte Rowarn, nun ganz allein. Abgesehen von Schwert, Dolch und Umhang hatte er nichts bei sich. Ruhig bleiben, ermahnte er sich. Wenn es nur einen Weg gibt, wirst du auch Windstürmer wiederfinden, oder er kehrt zu dir zurück. Geh weiter, einen Fuß vor den anderen.

Er stapfte weiter. Vor seinen Augen flimmerte es, und er riss den Helm herunter, weil er das Gefühl hatte, darunter zu ersticken. Das Gehen wurde immer mühsamer. In seinem Kopf breitete sich ein Druck aus, der den Nacken hinunterkroch und Arme und Beine immer schwerer machte. Rowarn schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfen, als ihm schwindlig wurde. Was ist los mit mir?, dachte er schläfrig.

Er entschied sich zu einer Rast, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Dann würde er weitergehen und nach Windstürmer suchen. Auf einem einzeln stehenden Felsbrocken ließ er sich nieder. Er fühlte sich plötzlich um Jahre gealtert. Müde stützte er die Arme auf die Knie und ließ den Kopf sinken. Schlafen, nur ein bisschen. Stimmen flüsterten in der Schlucht, flogen suchend umher, aber keine verweilte bei ihm.

»Die Stimmen, die du hörst, sind verlorene Seelen einer vergangenen Schlacht.«

Rowarn kannte diese Stimme, ein wohltönender Bariton, zugleich aber kalt und hart. Wie im Zweiklang. Langsam hob er den Kopf und sah eine bläulich leuchtende Gestalt auf sich zukommen, die nicht ganz stofflich wirkte. Es musste ein Geist sein. Und er kannte dieses Wesen. Lange, grauschwarze Haare, kalte kristallgrüne Augen, bleiche Haut. »Femris ...«, flüsterte er und erschauerte. Er konnte Femris sehen, aber nicht spüren. Er fühlte jedoch sehr wohl das Flüstern um sich herum, wie ein kalter Todeshauch. Das hatte vermutlich die Verbindung zu Femris geschaffen.

Die Aurengestalt verhielt bei ihm. »Ja, ich bin Femris. Tamron liegt im Turm versteinert auf dem Altar, immer noch durchbohrt von deinem Schwert.« Das blaue Licht, aus dem die ätherische Hülle des Unsterblichen bestand, flackerte kurz. »So nah ist uns noch nie jemand gekommen.«

Rowarn wich zurück, als Femris sich dicht vor ihn stellte. Er musste nur die Hand ausstrecken, um das blaue Licht zu berühren. Aber er hütete sich davor. Obwohl er wusste, dass der Unsterbliche ihm in dieser Gestalt nichts antun konnte, fürchtete er sich. Femris war auch so noch mächtig. Und unberechenbar. Nicht einmal Angmor wusste genau, über welche Kräfte er verfügte.

»Nun bist du noch wichtiger für mich als zuvor«, fuhr Femris fort. »Du wirst meinen Bruder aus dem Bannschlaf befreien und meinen ... unseren versteinerten Körper heilen.«

»Niemals«, flüsterte Rowarn.

»Du hast keine Wahl.« Die Stimme des Unsterblichen strich wie ein eiskalter Windhauch über ihn, der weitere üble Dünste mit sich brachte. Rowarn spürte, wie sich sein Verstand zusehends umwölkte. »Anschließend wirst du die restlichen Splitter finden und zu mir bringen.«

Rowarns Blick glitt an der Aurengestalt vorbei, er konnte nicht mehr scharf sehen. Fahrig rieb er sich übers Gesicht. »Niemand gebietet über mich«, sagte er kraftlos. »Ich werde die Splitter finden, doch du wirst sie nicht bekommen. Im Gegenteil, ich werde dir die drei abnehmen, die du schon besitzt.«

»Es wäre ein tödlicher Irrtum zu glauben, du könntest mir etwas vorenthalten, das mir allein zusteht.« Die Aurengestalt schien im selben Maß zu wachsen, wie Rowarn die Kräfte verließen. »Viertausend Jahre sind vergangen, doch nun ist das Ziel nahe. Durch dich, Junge. Dein außergewöhnliches Erbe wird mir nicht nur endlich das Tabernakel verschaffen, du wirst mir auch danach dienlich sein. Bald schon kannst du dich meinem Einfluss nicht mehr entziehen. Es ist weniger schmerzhaft, wenn du dich gleich fügst.«

Rowarn schüttelte langsam den Kopf. »Das wird dir nicht gelingen.«

Femris beugte sich leicht zu ihm herab, und Rowarn spürte plötzlich ein Kribbeln auf der Haut, wie tausend feine Nadeln, und seine Haare knisterten. Konnte der Unsterblich seinen Aurenkörper etwa verfestigen? »Was Heriodon dir angedeihen ließ, ist nichts im Vergleich zu dem, was ich dir antun kann«, flüsterte er. »Meine Macht wächst seit viertausend Jahren …«

»Ich ... stoße ... mein ... Schwert in dich ...«, keuchte Rowarn. »Und ich ... habe keine Angst ... ich habe die Schrecken des Landes Farinvin gesehen, und du bist nicht anders als die Totengeister dort ... ich kenne dich ...«

»Was du kennst, junger Narr, ist die Schuld«, erwiderte Femris kalt. »Sie ist es, die dich niederdrückt, die dich zweifeln lässt und die dir nun die Kräfte raubt. Denn ich bin im Recht. Ist es nicht so?«

»Du wirst die Finsternis bringen«, stammelte Rowarn. »Waldsee wird eine lichtlose Bastion, wie es dein Turm bereits ist.«

»Woher willst du das wissen?« Femris’ Gestalt glühte auf. »Das ist nur eine törichte Ausrede deiner Vorfahren, nichts anderes.«

Rowarn hatte Mühe, den Kopf hochzuhalten. »Nicht nur meiner Vorfahren«, stieß er hervor. »Du hast meine Mutter, die du angeblich geliebt hast, durch einen von dir erschaffenen Similu umgebracht!«

Femris verzog höhnisch die Lippen. »Und du bist reines Licht? Du Halbdämon, Sohn des Finstersten von allen?«

Rowarns Willenskraft flackerte noch einmal auf. Unter großen Mühen stand er auf und straffte den Rücken. »Angmor ist nun auf der Seite des Regenbogens, und ich habe mich längst entschieden«, versetzte er stolz.

»Du weißt nichts über deinen Vater!«, sagte der Unsterbliche scharf. »Hat er dir seine Lebensgeschichte erzählt? Nein? Keine Sorge, auch ich werde es nicht tun, das würde zu lange dauern. Aber eines will ich dir sagen: Dein Vater gehört zu den grausamsten und blutrünstigsten Dämonen. Für das Massaker auf dem Titanenfeld ist er verantwortlich!«

Rowarn schloss für einen Moment die Augen. Der Hieb saß. Diese Wunde würde er noch lange spüren.

»Das hat er dir nie erzählt, nicht wahr?«, fuhr Femris höhnisch fort. »Sag mir, wie viele deiner Fragen hat er dir beantwortet? Keine, wahrscheinlich, aus gutem Grund.«

»Warum sagst du mir das?«, murmelte Rowarn. »Damals stand Angmor auf der Seite der Finsternis! Aber er hat sich geändert, und vielleicht will er auf diese Weise sühnen, was damals auf dem Feld geschah.«

»Er kann sich nicht selbst verleugnen, Rowarn.« Femris’ Gestalt verblasste kurz, und ein Ausdruck des Schmerzes zuckte plötzlich über sein durchscheinendes Gesicht. Die Konturen der Aurengestalt verschwammen.

»Das tut er auch gar nicht.« Rowarns Stimme sank zu einem heiseren Flüstern herab. »Aber meine Mutter hat ihn geliebt, und sie hat ihm vertraut. Sie hat ihm die Tür zum Regenbogen geöffnet. Durch den Eintritt in den Orden wurden seine Kräfte in eine andere, bessere Richtung gelenkt. Er ist sehr gefährlich, ja, und ich fürchte ihn – aber er will den Frieden nicht weniger als ich. Du hingegen kannst uns keinen Frieden bringen.«

»Deine Mutter war verblendet«, erwiderte Femris. »Und es liegt keine Zukunft vor euch, wenn das Tabernakel nicht zusammengefügt wird. Ohne mich könnt ihr es niemals aktivieren, und das widerspricht Erenatars Willen und meiner Bestimmung. Denk darüber nach, junger König. Wir sehen uns bald wieder, und dann gebe ich dir ein letztes Mal die Möglichkeit, mir freiwillig zu folgen. Danach wird dir nichts mehr bleiben als Schmerz.« Damit löste seine Gestalt sich auf und hinterließ nichts als Stille.

Rowarn taumelte und griff sich an den Kopf. Der Druck war unerträglich. Als er sich erneut auf den Felsen setzen wollte, fiel er daneben. Er ächzte auf, als er auf den harten Boden prallte, und rang nach Luft. Hier unten war der Geruch noch unerträglicher und machte ihn zusehens schwindliger. Hilflos lag Rowarn da und kämpfte um seine Besinnung.

In diesem Moment erschien er.



Er musste seiner Fährte gefolgt sein, möglicherweise schon von Anfang an. Vielleicht war Windstürmer deswegen durchgegangen.

Rowarn blinzelte, zu mehr war er nicht mehr fähig. Er konnte nicht einmal mehr mit einem Finger zucken. Wehrlos lag er da und starrte auf das riesige Wesen, das auf lautlosen Pranken langsam näherkam.

Ein Löwe, groß wie ein Pferd, mit einer mächtigen schwarzgoldenen Mähne, die über die Brust hinabwallte. Sein massiger, muskulöser Körper war sandfarben, die Flanken und Hinterbeine mit dünnen schwarzen Streifen gemustert. Seine Krallen waren eine Handspanne lang, und aus dem Maul ragten gewaltige Eckzähne. Seine Ohren waren sehr lang und spitz und in ständiger Bewegung, ebenso sein pechschwarz glänzender, langer Schwanz, der von einem Insektenpanzer umhüllt schien und in viele Segmente unterteilt war. Er endete in einem langen goldfarbenen Stachel. Die Augen aber, diese Augen ... wie die eines Dämons, so kalt und wild loderten sie, die geschlitzten Pupillen waren eng zusammengezogen.

Rowarns träger Verstand fragte sich, wie ein Waldlöwe hier herunterkam, und wie es möglich war, ausgerechnet jetzt einer solchen Legende zu begegnen, die einer anderen, finsteren Legende als Beiname diente. Wäre noch Kraft in ihm gewesen, hätte er wie ein Irrer gekichert.

Seine Lippen bewegten sich lautlos, als das gewaltige Tier langsam näher kam. Das Fell glänzte, die Muskeln spielten, und doch bewegte der Waldlöwe sich nicht mit der Eleganz und verhaltenen Energie eines Jungtiers. Auch erkannte Rowarn beim Näherkommen, dass die Mähne langsam ergraute, und viele alte Narben hatten Furchen ins Fell gegraben.

Rowarns Augenlider flatterten, als der Waldlöwe bei ihm verhielt. Eine einzelne Pranke würde vollständig seine Brust bedecken. Ein einziger Schlag könnte ihn in Stücke reißen. Der Schweiß brach dem jungen Mann aus, als das Geschöpf den gewaltigen Schädel neigte. Schnuppernd glitt die Nase über sein Gesicht, die furchterregenden Reißzähne strichen dabei rau über seine Wange. Ein leises Grollen drang aus der Brust des Tieres. Seine Mähne wogte wie Meereswellen, und Rowarn war sicher, dass im Inneren seines Leibes eine Feuerseele loderte, die aus seinen Augen leuchtete.

Der Löwe ließ sich Zeit, den Körper des jungen Mannes zu beriechen. Der Schweiß trocknete derweil auf Rowarns Stirn, und er erkannte plötzlich, dass er auch sterben würde, wenn der Löwe ihn nicht tötete. Sein Verstand sackte immer mehr ins Vergessen, der Schmerz in seinem Kopf war grausamer als jede Folter, und er hatte einen metallischen Geschmack im Mund. In einem letzten klaren Moment begriff Rowarn, dass er die ganze Zeit Giftdämpfe eingeatmet hatte, die der Schnee in der Schlucht eingesperrt hatte. Sansarium, ein normalerweise harmloses Betäubungsmittel, solange es richtig dosiert wurde. Arlyn hatte es ihm in Farnheim gezeigt. Irgendwo in den Felsen versteckt musste es eine riesige Pilzkolonie geben, die das Gift ausströmte. Es war ein schweres Gas, das sich dicht über dem Boden sammelte. Rowarn hatte sich diesem Gas zunehmend ausgesetzt, als er sich zuerst auf den Stein gesetzt hatte und dann zu Boden gefallen war.

»Pass auf, mein Freund«, wisperte er mit letzter Kraft. »Halt den Kopf nicht solange tief, dann erwischt es dich auch ...«

Der Kopf des alten Löwen ruckte hoch, als habe er verstanden. Er stieß ein donnerndes Gebrüll aus, das die Wände zum Erzittern brachte, und Rowarn hörte ein gewaltiges Getöse aus der Richtung, aus der er gekommen war. Anscheinend war die Schneedecke durch die Erschütterung endgültig zum Einsturz gebracht worden. Eine Druckwelle aus Schnee und Wind pfiff über ihn hinweg und vertrieb für einen kurzen Moment den fürchterlichen Gestank, nicht aber den lähmenden Druck im Kopf.

Kein Laut drang mehr über Rowarns Lippen, als der Löwe das Haupt erneut senkte und der junge Mann die gewaltigen Zähne in seinem Nacken spürte. Das ist also der Tod, dachte er träge und wartete auf das scharfe Knacken und Brechen seiner Wirbel. Er fragte sich, wie viel sein Bewusstsein davon noch mitbekommen würde. Der heiße Atem des Waldlöwen strich über seine Haut, doch da gab es keinen scharfen Stich, kein Bersten und Reißen, nur einen kurzen Ruck, als er angehoben wurde.

Schlaff hing Rowarn im Maul des Raubtiers, als es ihn unsanft über den Boden schleifte.

Dann verlor er endgültig das Bewusstsein.