Kapitel 12

Die Abtrünnigen


Das Lager war bereits abgebaut und die Versorgungswagen schon unterwegs, als der Fürst und seine Begleiter eintrafen. Alle Soldaten waren gerüstet und zum Marsch bereit. »Rüstung anlegen«, befahl Noïrun Rowarn, während er und Olrig sich ihre eigenen Sachen reichen ließen. »Je näher wir Ardig Hall kommen, desto mehr müssen wir auf alles gefasst sein.« Er zeigte sich zufrieden über die Aufstellung, die Morwen vorgenommen hatte.

Rowarn wartete, bis Noïrun sich mit dem Kupferhengst an die Spitze gesetzt hatte, und passte dann Olrig ab, der sich noch im Mittelfeld aufhielt. Die berittene Schar flankierte die Fußsoldaten, die eifrig ausschritten. Die meisten von ihnen gehörten zu den Hundertfünfzig aus Inniu, doch es war keiner von Rowarns Freunden dabei. »Hat er es dir gesagt?«

»Was gesagt?« Der Kriegskönig hatte die Zügel seines Schimmels am Knauf befestigt und beschäftigte sich damit, liebevoll sein Messer zu polieren.

»Was ich gestern gehört habe. Dass er erkannt wurde.«

Olrig ließ die Hand sinken und blickte zu Rowarn. »Erzähl mal genauer.«

Rowarn berichtete alles, und das Gesicht des Zwerges verfinsterte sich. »Nein, natürlich hat er mir nichts davon gesagt. Das sieht ihm ähnlich«, brummte er. »Wahrscheinlich hat es sich schon wie ein Lauffeuer herumgesprochen, und jetzt bläst das ganze Land zur Jagd.«

»So ernst ist es?« Rowarn wurde blass.

Olrig seufzte. »Femris hat schon vor einem Jahr ein Kopfgeld auf Noïrun ausgesetzt. Er hat ihm damals in der Schlacht einen Speer in die Schulter gejagt. So nah wie unser Freund ist dem Unsterblichen noch keiner gekommen, mit Ausnahme vielleicht von Angmor, von dem ich dir gestern erzählte.«

Rowarns Bewunderung für den Fürsten stieg fast ins Grenzenlose. »So gut ist er ...«

»Er ist der Beste von uns allen, junger Freund.« Olrig schlug mit der flachen Hand auf den Sattel. »Ich habe ihm gesagt, er soll nicht nach Ennishgar gehen, sich in überhaupt keiner Stadt blicken lassen! Aber er nimmt die Warnungen einfach nicht ernst. Ein Glück nur, dass es nicht mehr weit ist!« Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Vor Strauchdieben sind wir mit diesem Aufgebot immerhin sicher. Denn du kannst gewiss sein, Rowarn, dass jeder Taugenichts diesseits und jenseits des Goldflusses versuchen wird, sich diese Belohnung zu verdienen, gleichgültig, zu welcher Seite er gehört.«

»Ich lasse den Fürsten keinen Moment mehr aus den Augen«, versprach Rowarn. »Ich habe vergangene Nacht Wache gehalten, und das werde ich auch weiterhin tun.«

Olrig kratzte sich grübelnd den Bart. »Aber niemand weiß, wer vom Feind unterwegs ist. Ich hörte gestern von marodierenden Truppen, die Femris umherschickt, um Unsicherheit zu verbreiten.« Er hob sich im Sattel und blickte sich um. »Hol Morwen«, befahl er dann.

Rowarn machte sich auf den Weg und kehrte bald darauf mit Morwen zurück, der er unterwegs alles erzählt hatte.

»Dieser verrückte alte Mann, einfach so zu tun, als wäre nichts«, stieß sie hervor, als sie bei Olrig eintrafen. »Was soll ich tun, Olrig?«

»Geh mit deinen Schützlingen Fährtenlesen üben«, sagte der Kriegskönig. »Stell eine Vorhut Späher zusammen, und während der Rast heute Mittag brecht ihr auf. Rowarn und ich übernehmen dann die Nachhut. Fünf Mann von der Schar begleiten den Tross. Bis zur Rast bleibt ihr beide in seiner Nähe.«

»Zu Befehl«, sagte Morwen und trieb ihr Pferd an. Rowarn folgte ihr, und eine Weile trabten sie schweigend nebeneinander, den Fürsten immer in Sichtweite.

»Nette Rüstung«, sagte Morwen schließlich. »Mein Vater hat sich nicht lumpen lassen. Steht dir wirklich gut.«

»Danke«, sagte er verlegen. »Ich fühle mich noch nicht ganz wohl damit. Ich glaube, sie ist mir etwas zu groß.«

Sie lächelte. »Du wirst sie dir bald verdient haben, Rowarn. Selbst der beste Krieger braucht eine gute Rüstung, um geschützt zu sein, und erst recht der schlechteste.« Sie warf ihm einen undeutbaren Seitenblick zu. »Gefällt dir Ennishgar?«

»Ich war noch nie in einer so großen Stadt«, antwortete Rowarn. »Sehr beeindruckend, mit diesen gewaltigen Häusern aus Stein, aber merkwürdigerweise nicht bedrückend.«

»Und beherrscht von Zwergenfrauen«, meinte Morwen leichthin, aber Rowarn merkte deutlich, dass er jetzt auf gefährliches Pflaster kam. »Eine ganz neue Erfahrung, stimmt's?«

»Die Lebensweise der Zwerge ist sehr verschieden von unserer, und interessant«, äußerte er vorsichtig.

»Gefallen sie dir?«

»Wer?«

»Die Steine. Dummkopf! Die Zwergenfrauen natürlich.«

Jetzt musste er jedes Wort mit Bedacht wählen. »Sie ... sind sehr hübsch, auf ihre zwergische Art, und ihre Kunstfertigkeit, das Haar zu tragen ... ganz anders als die Menschen eben, wie ich schon sagte.«

Morwen schwieg eine Weile, und Rowarn hütete sich, den Mund aufzumachen. Dann sagte sie leise lachend: »Zu schade, dass du meinen Vater die ganze Nacht bewacht hast. Du hast dich um ein einzigartiges Vergnügen gebracht.«

»Ich ... äh ... wie ...«, stotterte er und suchte fieberhaft die Umgebung mit den Augen ab. Wenn jetzt ein Ungeheuer in der Größe und Stärke eines Grimwari gekommen wäre, um ihn zu fressen, er hätte es als Freund begrüßt.

Morwen lachte lauter. »Frag mal Olrig.« Sie erklärte es genauer: »Die Zwergenfrauen mögen zwar nicht die schönsten dieser Welt sein, aber sie beherrschen, wie mir nicht nur von einer Seite berichtet wurde, eine einzigartige Technik beim ... du weißt schon. Liebesspiel.« Sie deutete auf ihren Vater, der ruhig an der Spitze ritt. Der Kupferfuchs wiegte sich in kurzen Piaffeschritten, seine Ohren waren gespitzt und der Schweif hochgetragen. »Das einzige Mal, dass er je ins Schwärmen geriet, als Olrig und er sich nach einigen Ushkany Männergeschichten erzählten und vergaßen, dass ich dabei war. Sie sprachen über eine Frau, die irgendwie mit Olrig verwandt sein muss ...«

»Ich kann mir denken, über wen sie geredet haben«, platzte Rowarn heraus.

Morwen schien ihm das nicht zu glauben, denn sie ging nicht darauf ein. »Ich habe die Augen meines Vaters noch nie so leuchten gesehen, und er wirkte fast glücklich. Also muss was dran sein, bei einem sonst so trockenen Mann, meinst du nicht?«

Rowarn dachte an die Art, wie Noïrun Larinda, die Wirtin des Schwarzen Ritters, geküsst hatte, und wurde rot.

»Du hast es also tatsächlich verpasst«, prustete Morwen. »Dir ist wirklich nicht zu helfen.« Sie drängte ihr Pferd dicht an seine Seite und legte ihm in einer mitleidigen Geste den Arm auf die Schulter. Unerwartet ernst sagte sie: »Nicht mal mein gestrenger, um nicht zu sagen: verknöcherter Vater war in deinem Alter so tiefgründig wie du. Wie man an mir sieht.«

»Ich hab immerhin ein Zwergenmädchen geküsst«, murmelte er zu seiner Verteidigung und konnte sich nur wundern über diese groteske Unterhaltung, die mit einer anderen Frau, Anini beispielsweise, ganz anders abgelaufen wäre. Und verknöchert, fand er, war der Fürst keineswegs. Er zeigte diese menschliche Seite nur nie vor seinen Leuten.

»Also besteht wenigstens Hoffnung.« Sie drückte seine Schulter, dann trabte sie schneller.

»Du bist eine großartige Frau, weißt du das?«, rief er ihr nach.

»Ja«, lachte sie zurück. »Ich bin einfach gut!«



Als sie den Tross eingeholt hatten, ordnete Noïrun eine Rast an. Morwen suchte unter dem Vorwand einer Übung einige Leute zusammen und trieb sie bald vorwärts. Olrig schickte die langsamen Versorgungswagen mit fünf von der Schar zur Begleitung bereits wieder los, noch bevor alle das knappe Mahl eingenommen hatten.

»Hältst du mich eigentlich für dumm?«, fragte der Fürst beim Aufbruch, während er nachgurtete und die Lage des Sattels überprüfte.

»Manchmal schon, ja«, brummte Olrig.

»Na schön.« Noïrun saß auf und gab dem Hengst die Sporen.

»Das ist schließlich auch unsere Aufgabe, oder?«, rief Olrig ihm nach. »Aufzupassen! Zu schützen! Eine gute Übung ist es allemal!«

Der Fürst hob lediglich die Hand und galoppierte weiter.

»Denkst du, er ist sehr böse auf mich?«, fragte Rowarn und stieg auf Windstürmer.

»Ach, Unsinn. Im Grunde seines Herzens ist er froh, dass wir die Sache ernst nehmen. Er mag es nur einfach nicht, gewissermaßen bevormundet oder übergangen zu werden, da ist er ganz eigen. Stolz und stur, eine schwierige Kombination. Genau das hat Femris damals unterschätzt, das hat jeder unterschätzt an ihm.« Olrig tätschelte dem Schimmel den Hals. »Ich könnte es mir niemals verzeihen, wenn ihm etwas zustieße«, murmelte er.



Der Weg führte weiter Richtung Südosten, durch blühendes Land, auf gut ausgebauten Straßen, denen sie jedoch nur selten folgten, weil dort häufiger Karawanen und Reisende entlangzogen. Rowarn verstand nun besser, warum die Rekruten in mehrere Einheiten aufgeteilt worden waren, um Ardig Hall auf unterschiedlichen Wegen und in unterschiedlicher Geschwindigkeit zu erreichen. Das von Dubhan aufgebrochene Heer würde zumindest für eine Weile aufgehalten werden; der Verstärkung von Ardig Hall konnte das nicht passieren, und die Kunde von einer durch die Lande ziehenden Soldatenschar konnte sich auf diese Weise auch nicht so schnell verbreiten.

In der Nacht fiel der von den Bauern schon sehnsüchtig erwartete Regen in leisem, aber stetigem Rauschen. Der ausgetrocknete Boden konnte das Wasser nicht so schnell aufnehmen, und bald bildeten sich in Senken kleine Seen, und viele schmale Bäche flossen von den Hängen herab.

Menschen und Tiere unter freiem Himmel waren natürlich nicht allzu begeistert davon, und so drängte sich alles in den Zelten und auf den Wagen zusammen und verbrachte eine unruhige Nacht. Am Morgen allerdings war es schon wieder vorbei, und das Wasser lief rasch ab und sickerte in den durstigen Boden ein. Dafür war alles in dicken Nebel gehüllt, sodass die Sicht kaum ein paar Schritte weit reichte.

Es gab es nur ein kurzes, kaltes Morgenmahl in fröstelnder Eile, dann ging es weiter. Nun waren sie dankbar für Morwens Spähtrupp, denn es war ausgesprochen schwer, sich zu orientieren. Das trübe Licht kam von überall, und sie befanden sich abseits aller Wege. Den Pferden war es völlig egal, wohin es ging, sie hatten überhaupt keine Lust, auch nur einen Schritt zu laufen und taten immer wieder ihren Unmut kund.

»Verliert euch nicht im Nebel, bleibt zusammen«, mahnte der Fürst, der in regelmäßigen Abständen die ganze Truppe abritt und genau abzählte, ob noch alle mithielten. Die Versorgungswagen waren schon etwas zurückgefallen, aber sie hatten Lampen angezündet, und die zur Begleitung eingeteilten Ritter trugen ebenfalls Laternen.

»Gibt es solchen Nebel auch in Inniu?«, fragte Olrig.

»O ja«, antwortete Rowarn. »Dann bleibt man zu Hause und wärmt sich die Füße am Herd.«

So verlief der Tag. Weil sie ohnehin nur sehr langsam vorankamen, machten sie keine Pause, sondern kauten unterwegs mürrisch ein wenig hartes Zehrbrot vom Vorabend. Die Pferde ließen sich auch nicht mit Rosinen bestechen. Mit hängenden Köpfen zockelten sie in immer gleicher Geschwindigkeit dahin und waren kaum zu lenken.

»Was ist, wenn Morwen sich verirrt?«, wagte Rowarn am Nachmittag zu fragen, als sie schon eine ganze Weile verschwunden war.

»Sie verirrt sich nicht«, erwiderte Noïrun. Vor ihm ging ein Fährtenleser und führte den Tross anhand der von Morwen hinterlassenen Zeichen. »Völlig unmöglich.«

»Wie schafft sie das nur?«

»Sie hat eben das Talent.«

»Ja, scheint mir auch so«, murmelte Rowarn und beobachtete fasziniert den Fährtenleser. Er hätte nicht ein einziges Zeichen von Morwen gefunden, obwohl er bei diesem trüben Licht besser sehen konnte als die Menschen. Er überlegte, wo sie sich wohl wiederfanden, wenn sich der Nebel endlich lichtete.

Eine Stunde später schien es endlich so weit zu sein. Zumindest hob sich der Dunst, sodass die Sicht zwei Speerwürfe weit reichte, wobei es hinter ihnen schneller aufklarte als vor ihnen, wo die nächste dicke Wand auf sie wartete.

Der Fürst spannte sich plötzlich an und lauschte. Dann sagte er in ungewohnter Hast und Eindringlichkeit: »Rowarn, komm«, und zu Olrig nach hinten: »Mir nach, Olrig, zehn Pferdelängen Abstand!«

Rowarn brauchte Windstürmer nichts zu sagen. Der kleine Falbe hatte bereits begriffen, dass Gefahr drohte, und spurtete gemeinsam mit dem Kupferhengst los, die Nüstern weit gebläht.

Olrig folgte ihnen auf Abstand im langsamen Galopp, und die Truppe hinter ihm erhöhte ebenfalls das Tempo.

Plötzlich sah Rowarn einen dünnen Schatten vor sich, und dann schoss Morwen auch schon wie von Bestien gehetzt aus dem Nebel heraus. »Schnell!«, schrie sie. »Bringt den Fürsten in ...« Dann wurde sie von einem Sirren und einem dumpfen Schlag unterbrochen. Morwen stieß einen ächzenden Laut aus und sackte zu Boden.

»Ein Angriff!«, brüllte Olrig und zog die Axt aus der Halterung neben dem Sattel. »Zu den Waffen!« Er drehte den Schimmel im Kreis, während er weitere Befehle donnerte. Berittene wie Fußsoldaten schwärmten aus und machten sich in Windeseile sowohl für den Angriff wie zur Verteidigung bereit.

»Morwen!«, rief Noïrun. Er sprang von seinem Hengst und rannte zu ihr; Rowarn trieb gleichzeitig Windstürmer an. Dennoch war der Fürst schneller, er kniete schon bei Morwen nieder und drehte sie vorsichtig zu sich.

Rowarn verharrte dicht bei den beiden. Mit zugeschnürter Kehle sah er, wie Morwen flatternd die Lider öffnete. In der linken Schulter, nahe der Achsel, steckte ein Pfeil. Ein dünnes rotes Rinnsal kam aus der Wunde.

»Papa«, flüsterte sie.

»Still«, sagte er rau. »Die Wunde ist tief, aber nicht tödlich. Du schaffst das. Beiß die Zähne zusammen, Soldat.«

Vorsichtig hob er sie hoch. Sie presste fest die Lippen aufeinander, dennoch drang ein unterdrücktes Wimmern hervor. »Rowarn, bring sie zum Wagen des Heilers«, befahl der Fürst und trat an Windstürmer heran. »Lass den Tross anhalten und ein Lazarett aufbauen, es werden bald weitere Verwundete folgen.«

Rowarn hörte Kriegsrufe durch den Nebel dringen, und dann brachen die ersten waffenschwingenden Gestalten hervor. Olrig stürmte mit einigen Rittern an ihnen vorbei, nicht minder laut schreiend und mit erhobenen Waffen. »Herr, Ihr solltet Morwen zurückbringen, und ich ...«

»Das ist ein Befehl!«, unterbrach Noïrun, der kaum noch Kontrolle über seine Stimme hatte. »Wenn sie im Kampf verwundet wird, ist das etwas anderes, dann fällt sie als Soldatin. Aber jetzt«, stieß er bebend hervor, und er war leichenblass vor Zorn geworden, »bei diesem feigen Hinterhalt, ist sie meine Tochter, und du wirst sie in Sicherheit bringen und alles veranlassen, damit der Tross gut abgesichert und vorbereitet ist! Das hier ist meine Angelegenheit.«

Rowarn wusste, es hatte keinen Sinn, an die Vernunft zu appellieren. Er veranlasste Windstürmer, sich auf die Vordergelenke zu kauern, und übernahm Morwen.

Noïrun pfiff nach seinem Hengst und zog das Schwert. »Das werden sie bitter bereuen«, knurrte er mit tiefer Stimme, während er sich auf den Kupferfuchs schwang. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck, den Rowarn noch nie bei ihm gesehen hatte, beinahe grausam, als er den Hengst antrieb und Olrig in den Kampf folgte.

»Los, mein Kleiner, sei geschwind und weich wie eine Wolke«, flüsterte Rowarn dem kleinen Falben zu, der losschnellte, aber mit flachen Bewegungen, damit es Morwen nicht zu sehr schüttelte.

Während hinter ihm das Chaos ausbrach, galoppierte Rowarn eilig dem Tross entgegen. Kurz darauf sah er, dass die Wagen bereits angehalten und hastig mit dem Aufbau des Lazarettzeltes begonnen hatten. Der Begleitschutz war zur Verteidigung bereit.

Morwen regte sich in seinen Armen und stöhnte.

»Wir sind gleich da«, sagte Rowarn, aber mehr, um sich selbst zu beruhigen. 

»Er ist sehr wütend, ich hab's gesehen«, murmelte sie. »Weil ich mich einfach abschießen ließ ...«

Rowarn glaubte, sich verhört zu haben. »Was für ein Unsinn!«, unterbrach er aufgebracht. »Dein Vater liebt dich! Er ist nicht wütend auf dich, sondern auf diese hinterhältigen Schweine, und wahrscheinlich auch auf sich selbst, weil er das zugelassen hat, obwohl er es natürlich nicht verhindern konnte. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn du umgekommen wärst. Ich habe ihn noch nie so außer sich erlebt, und ich hoffe, dass er nicht blindlings vorstürmt.«

»Was ist los?«, rief der Anführer des Begleitschutzes.

»Ein Hinterhalt!«, antwortete Rowarn. »Mitten in der dicken Nebelwand vorn, ich weiß nicht, wer und wie viele. Richtet euch auf einen harten Kampf ein!«

Er hielt Windstürmer vor dem Wagen des Heilers an und rutschte mit Morwen zusammen herunter. »Schnell, ich brauche sofort Hilfe!«

Der Heiler streckte kurz den Kopf durch die Planen heraus, erkannte die Situation und winkte ihm. »Das Zelt ist noch nicht fertig, bring sie herein.« Gleichzeitig befahl er seiner Frau, sofort Wasser abzukochen.

Rowarn kletterte mit Morwen auf den Armen auf den Wagen und legte sie vorsichtig auf einem rasch ausgebreiteten Lager ab. Der Heiler wollte ihn hinauswerfen, doch er ließ sich nicht davon abbringen, bei der Untersuchung dabei zu sein. »Der Fürst hat mich für ihr Leben verantwortlich gemacht«, sagte er störrisch.

»Also gut, bis ich die Untersuchung beendet habe«, brummte der Heiler. »Aber wenn es dann an die Operation geht, wirst du verschwinden.«

Morwen kam wieder zu sich und starrte Rowarn überrascht an. »Was machst du denn noch hier?«

»Was ...«, begann er.

Sie schlug die Hand des Heilers beiseite, der sie daran hindern wollte, und richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht halb auf. Ihr Gesicht war schweißüberströmt. »Rowarn, du hast selbst gesagt, dass er außer sich war! Also hau endlich ab und pass auf meinen Vater auf, was deine Aufgabe als sein Knappe ist, sonst werde ich blindlings vorstürmen und dir gnadenlos abschneiden, was dir lieb und teuer ist!«

»Das solltest du besser ernst nehmen«, meinte die Heilerin, die gerade mit heißem Wasser hereinkam, und grinste. »Wäre ja ein Jammer! Also verschwinde einfach.«

»Und dann können wir vielleicht endlich anfangen«, knurrte der Heiler. »Falls ihr es nicht bemerkt habt: Morwen ist schwer verletzt, und wenn ich den Pfeil rausziehe, wird sie jeden einzelnen Moment ihres Lebens verfluchen, und alle, die darin eine Rolle spielen.«

Rowarn machte, dass er wegkam.



Mit gezücktem Schwert galoppierte Rowarn in die Schlacht zurück und versuchte, irgendwie einen Überblick zu bekommen. Von Noïrun keine Spur, aber er entdeckte den von zwei Angreifern bedrängten Olrig und stürmte zu ihm. Sein erster Schlag schlug einem der Angreifer den Helm vom Schädel, und Rowarn stockte für einen Herzschlag.

»Aber das ... aber das sind ... Zw…«

Der Gegner hob den Arm, aber nicht schnell genug. Rowarn schlug noch einmal zu, ohne nachzudenken. Ihm fiel in diesem Moment nicht einmal auf, dass er zum ersten Mal in seinem Leben tötete. Ohne einen Laut fiel das große, gedrungene Wesen.

»Nein, sind sie nicht!«, schrie der Kriegskönig und zerschmetterte seinem Feind die Brust mit der Axt. Er wandte sich Rowarn zu. »Es sind Warinen, verstehst du? Einst waren sie Zwerge«, er spuckte aus, »aber dann gingen sie einen Blutsbund mit den Dämonen ein, sie wurden größer und stärker und härter als je ein Zwerg gewesen war, und sie sind Femris treu ergeben! Sie sind seit Jahrhunderten ein eigenes Volk und haben nichts mehr mit uns gemein.« Er trieb den Schimmel an.

»Wo ist mein Herr?«, rief Rowarn. »Ich muss ihn finden!«

»Wo schon!«, schnaubte Olrig und streckte fluchend den nächsten Warinen nieder. »Ganz vorn, im größten Tumult!«

Das genügte Rowarn, und er schlug die Hacken in Windstürmers Bauch, der einen wütenden Schrei ausstieß und mit angezogenem Kopf losdonnerte, rücksichtslos durch die Kämpfenden hindurch, ohne zu zögern oder zu weichen.

Der Nebel dämpfte alle Geräusche und vervielfachte sie zugleich, ringsum wurde Mann gegen Mann gekämpft, doch zu erkennen waren kaum mehr als zuckende, hin- und herwogende Schemen. Es war nicht ersichtlich, wie viele es waren, und wer die Oberhand gewinnen würde. In weiter Ferne ging die Sonne unter und fraß glühend rote Löcher in den Nebel, der dem Schein erbitterten Widerstand leistete.

Olrig hatte recht gehabt, Noïrun befand sich mit dem Kupferhengst an vorderster Front. Um ihn herum türmten sich die Leichen, und sein Schwertarm schien noch nicht im geringsten müde zu sein.

Doch da stürmten sie von allen Seiten auf ihn ein. Ein Speer flog durch den Nebel und bohrte sich in die Seite des Hengstes. Der bäumte sich mit schrillem Wiehern auf, und der Fürst stürzte aus dem Sattel und landete unglücklich auf dem rechten Fuß. Rowarn sah ihn einknicken und fallen, und das Schwert flog dem Fürsten aus der Hand.

Der ebenfalls gestürzte Kupferhengst rappelte sich auf, der Speer war aus der Wunde geglitten, die heftig blutete, aber offenbar nicht tödlich war. Grell wiehernd stellte er sich vor seinen Herrn.

»Jetzt haben wir ihn!«, schrie einer der Warinen triumphierend und hob den Säbel.

In diesem Moment geschah es. Rowarn spürte ein leises Ziehen und einen kurzen Ruck in seinem Kopf. Dann veränderten sich seine Augen und wurden fast weiß, eiskalt und klirrend. »Noch nicht«, sagte er mit fremder Stimme.

Windstürmer tänzelte nach vorn und wieherte laut. Die Warinen hielten überrascht inne, als sie Rowarn entdeckten, der durch den Nebel auf sie zukam.

»Noch nicht!«, schrie Rowarn, und dann sprang Windstürmer nach vorn. Wie ein Unwetter donnerte er mit seinem Herrn durch die heranrückenden Warinen; das Pferd auskeilend, schlagend, beißend; jeder Schwerthieb des Reiters schlug schwere oder tödliche Wunden. Als er eine Bresche um den Fürsten freigelegt hatte, sprang Rowarn den am nächsten stehenden Warinen an, trieb das Schwert bis zum Heft in dessen Bauch und schleuderte ihn mit einem Fußtritt von sich. Ohne Pferd war er ein noch schrecklicherer Gegner, er griff nach dem Schwert eines Gefallenen und raste mit wirbelnden Klingen wie ein Orkan durch die Reihen der Gegner und streckte einen nach dem anderen nieder. Es geschah so schnell, dass sie kaum Gelegenheit zur Gegenwehr fanden. Doch allmählich begriffen die Warinen, dass selbst ihre Überzahl hier nichts ausrichtete, solange ihr Feind sich in derartiger Raserei befand. Er hielt ein furchtbares Blutgericht unter ihnen, wie es wahrscheinlich zehn Mann auf einmal nicht vermocht hätten.

»Ein Rithari!«, schrie einer von ihnen, bevor er erschlagen wurde, und allein dieses Wort ließ die Warinen zurückweichen.

Rowarn stand still, vom Blut seiner Feinde überströmt, und dennoch hell strahlend in der beginnenden Dämmerung, das Gesicht jedoch in Dunkelheit gehüllt, abgesehen von den schrecklichen Augen.

Dann schossen plötzlich Pfeile und Speere durch den Dunst – und trafen die Warinen. Nun ergriffen sie endgültig die Flucht, und zwar allesamt, in den Nebel hinein. Rowarn, der langsam wieder zu sich kam, hörte vor sich ein tiefes Grollen und verzweifelte Schreie. Kurz darauf wurde es still.

Doch Rowarn traute der Ruhe nicht so schnell und verharrte, obwohl ihn alles danach drängte, endlich nach Noïrun zu sehen. Und er tat gut daran! Plötzlich schob sich ein monströser Schemen durch den blutenden Nebel, mit kalt glühenden Augen, gewaltigen Hörnern und den stämmigen, zu aufrechtem Gang fähigen Hinterbeinen eines Stieres. Er trug ein geflammtes Schwert, länger als ein Zwerg, einen stachelbewehrten Panzer, und seine Haut war leuchtend rot. Dampf quoll aus seiner breiten, flachen Nase, und er fletschte die Zähne in einem tiefen Grollen.

Ein Dämon. 

Rowarn wusste, dass nun alles vergebens gewesen war. Aber er würde den Tod des Fürsten Ohneland bitter rächen, und seinen eigenen noch dazu, bevor er starb. Er stieß einen wilden Schrei aus, ließ die zweite Klinge fallen und hob sein Schwert mit beiden Händen, doch bevor er sich auf das gewaltige Wesen stürzen konnte, das fast doppelt so groß war wie er, keuchte der Fürst hinter ihm: »Halt ein, Rowarn! Schone deine Kräfte. Dieser da … gehört zu uns.«

Rowarn verharrte und drehte sich halb zu dem Fürsten. »Was?«

Der Dämon stampfte heran und scheuchte den mutigen Kupferhengst beiseite, um zu Noïrun zu gelangen. »So ist es, kleiner Held«, sagte er mit dröhnender Stimme. Das gehörnte Wesen streckte dem Fürsten die Hand hin, groß wie eine Schaufel, und mit langen Krallen bewehrt.

Noïrun ergriff sie und ließ sich hochziehen. »Fashirh, ich bin erfreut, dich zu sehen«, sagte der Fürst und versuchte, auf eigenen Füßen zu stehen.

Rowarn verharrte wie gelähmt, das Schwert immer noch erhoben. Seine Blicke irrten zwischen dem Fürsten und dem Dämon hin und her. Verzweifelt versuchte er zu begreifen.

»Alles in Ordnung, Junge?«, fragte Fashirh und wollte ihm die Hand reichen, aber Rowarn wich zurück.

»Fass mich nicht an!«, zischte er. »Mir ist es gleich, auf wessen Seite du stehst. Du bist ein Dämon und damit mein Feind!« Aufgebracht wandte er sich ab, seinen Fürsten hatte er anscheinend völlig vergessen, und rief nach Windstürmer. Er saß auf und ritt zurück zu den anderen.



Fashirh schaute den Fürsten erstaunt an. »Welch tiefer Hass in einem so jungen Herzen ...«

»Er spricht nicht darüber«, erklärte Noïrun. »Und ich fürchte seinen Zorn, der ihn zur Raserei treibt.«

»Du fürchtest etwas? Das ist bedenklich.«

»Ja.« Der Fürst versuchte aufzutreten und stieß einen Schmerzensschrei aus, seine Hand tastete in der Luft nach einem Halt. »Fashirh, hilf mir, dieses Bein lässt mich im Stich.«

Der Dämon stützte ihn behutsam und half ihm auf den Kupferhengst, der den roten Riesen wütend anprustete. Als Fashirh mit feurigem Dampf aus den Nüstern zurückschnaubte, gab der Hengst klein bei, aber er wich keinen Hufbreit und beäugte den Dämon während des ganzen Weges bis zum inzwischen errichteten Lazarettzelt misstrauisch.

»Das hast du gewusst, oder?«, brüllte Olrig ihnen entgegen, mit einer Mischung aus Wut, Freude und Erleichterung. »Die ganze Zeit hast du darauf gewartet, dass Fashirh zu uns stößt, und warst deshalb so entspannt!«

Der Fürst lächelte fein, enthielt sich aber einer Antwort.

»Hätten wir warten sollen, bis Olrig seine sechsunddreißigste Heldentat vollbracht hat?«, röhrte Fashirh und lachte, dass der Boden bebte.

»Nein, man hätte Olrig etwas darüber sagen können, denn Olrig ist der Stellvertreter des Fürsten und ziemlich aufgebracht darüber, wenn er bei derartigen Dingen übergangen wird!« Der Kriegskönig wedelte wütend mit einer Hand und stampfte davon.

»Warum wundert mich das wieder einmal nicht?«, sagte der Dämon zu Noïrun.

»Es ist alles, wie es sein soll«, erwiderte der Fürst. »Seine Schuld, wenn er sich nicht daran gewöhnt.«

Fashirh fletschte die Zähne in einem breiten Grinsen. »Manchmal, mein lieber Bündnispartner, frage ich mich schon, warum überhaupt noch einer mit dir redet. Und ich bin ein Dämon, wenn du verstehst, was ich meine.«

Noïrun zuckte gleichmütig die Achseln.



Am Abend saß Rowarn allein und abseits vom Feuer und starrte in die Dunkelheit hinaus. Drei weitere Dämonen waren inzwischen eingetroffen, nicht minder bizarre Geschöpfe wie Fashirh, auch wenn sie vier Gliedmaßen wie ein Mensch besaßen, aber das war auch die einzige Ähnlichkeit. Trotz ihres unterschiedlichen Aussehens und der Größe war ihnen allen eines zueigen: diese klugen, aber gefühllosen Augen, in denen ein unheilvolles Feuer brannte, dessen Glut kälter war als ein Gletscher. Sie wurden mit Freude begrüßt, weil sie mächtige Verbündete waren, aber Rowarn entging nicht, dass die meisten, auch Olrig, allzu große Nähe zu ihnen scheuten und keine Scherze mit ihnen tauschten. Das tröstete ihn ein wenig, weil nicht nur er wegen seines Hasses auf den Mörder seiner Mutter eine tiefe Abneigung gegen die Dämonen im Allgemeinen hegte.

Er regte sich nicht, als der Fürst an seine Seite kam, schwer hinkend, auf einen Stab gestützt. Ächzend ließ er sich neben ihm nieder.

»Abtrünnige Zwerge, abtrünnige Dämonen«, murmelte Rowarn nach einer Weile, als ihm das Schweigen zu unangenehm wurde. Es gehörte sich zwar nicht, wenn er als Jüngerer, noch dazu so tief im Rang Stehender das Wort ergriff; aber er hatte das Gefühl, als habe der Fürst genau dies beabsichtigt: Rowarn sollte reden, wenn er es wollte. »Diese Welt steht kopf, und ich begreife sie nicht mehr.«

»Nun siehst du, dass es nicht so einfach ist, zwischen Regenbogen und Finsternis zu trennen«, sagte der Fürst langsam. »Jeder von uns hat die Wahl der Entscheidung, und jeder von uns hat Gründe, warum er so und nicht anders wählt. Es ist leicht, die ›Dämonen an sich‹ zu hassen, weil du damit den Feind deutlich vor Augen hast. Gewiss, sie sind furchterregende Geschöpfe, kalt und grausam und für uns von zumeist schauerlichem Äußeren. Aber eben nicht alle stehen auf der Seite der Finsternis. Einige haben sich dafür entschieden, die Seite zu wechseln. Die Gründe sind für uns nicht immer verständlich und vielleicht auch nicht zu rechtfertigen. Aber es ist gut, sie auf unserer Seite zu haben, und wir werden ihre Hilfe nicht ablehnen.«

»Und wenn sie uns verraten?«

»Sie sind genauso viel oder genauso wenig vertrauenswürdig wie jeder von uns, Rowarn. Wie ich schon sagte: Es ist nicht so leicht. Auch wenn sie nun das GETEILTE sind, so waren Finsternis und Regenbogen doch einst die EINHEIT, und sie gleichen einander ebenso, wie sie sich voneinander unterscheiden.«

»Wollt Ihr mir sagen, dass ich meine Rache aufgeben soll?« Rowarn biss sich auf die Lippe, weil er nun unbedacht die einst geäußerte Vermutung des Fürsten bestätigt hatte.

»Nein. Das ist deine Entscheidung. Ich will dir nur sagen, du darfst deine Rache nicht auf ein ganzes Volk ausweiten. Wäge sorgfältig ab, wen du hassen willst.« Der Fürst bedachte ihn mit einem langen, möglicherweise wohlwollenden Blick. »Falls du überhaupt hassen musst.«

Rowarn erwiderte den Blick kühl. »Tut Ihr das denn nicht?«

»Manchmal. Aber ich möchte es lieber nicht, Rowarn. Ich will aufbauen, nicht zerstören.« Der Fürst rieb sich den Bart. »Wir treiben dem Untergang entgegen, wenn wir so weitermachen«, fügte er leise hinzu. »Und eines Tages werden wir uns von Femris nicht mehr unterscheiden.«

Rowarn schwieg. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Schließlich murmelte er: »Ich bin kein guter Knappe, nicht wahr?«

Der Fürst lachte unerwartet. »Du wirst nicht mehr lange genug Knappe sein, um darüber nachgrübeln zu müssen«, versetzte er. »Nach all dem, was du heute geleistet hast, werde ich dich in den Status eines Ritters erheben, und das bereits morgen früh.«

Rowarn blinzelte entgeistert. »Aber ... meine Ausbildung ...«

»Ich werde sie weiterführen und beenden, wie vereinbart. Aber du hast dich als vertrauenswürdig und entscheidungsfreudig gezeigt. Du hast gehandelt, wo es angebracht war, und dich nicht einfach auf Befehle verlassen. Du bist erwachsen, Rowarn, in dir steckt eine Menge. Vor allem aber eine gute Seele, daran solltest du festhalten.« Der Fürst legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich weiß nicht, was dich quält, und du musst auch nicht darüber sprechen. Aber du darfst dich nicht selbst bestrafen. Fange an, dir selbst zu vertrauen. Du bist viel zu jung, um derart in Schuldgefühle verstrickt zu sein.«

Rowarn fühlte einen Kloß im Hals. »Sie ... die Warinen haben gesagt, ich bin ein Rithari ...«

»Nein, das bist du nicht!«, widersprach der Fürst unerwartet heftig. Sein Blick ging in weite Fernen, und ein kurzer Schmerz huschte über sein Gesicht. »Glaub mir, ich weiß das«, schloss er sehr leise.



Nachdem der Schrecken überwunden war, die Nacht sich herabsenkte und der Nebel endgültig wich, kam zaghaft Freude auf. Und schließlich beglückwünschten sich die frischgebackenen Soldaten zu ihrem ersten Sieg. Keiner von ihnen war gewichen, alle hatten sie tapfer und gut gekämpft. Wer im Lazarett lag, würde weiterleben und bald wieder einsatzbereit sein.

Der wiedererstarkende Mond tauchte das Lager in silbernes, mildes Licht, auch wenn es ziemlich kühl war. Aber der große Hof um Ishtrus Träne versprach einen sonnigen neuen Tag, an dem man sich schnell aufwärmen würde.

Und bis dahin leisteten die Feuer gute Dienste. Knechte und Mägde waren eifrig dabei, Essen und Trinken zu verteilen, das Feuer in Gang zu halten und die Verwundeten zu versorgen.

Nun hatten alle zum ersten Mal getötet und sich bewährt. Sie wussten jetzt annähernd, was sie in Ardig Hall erwartete, und waren mehr denn je dazu entschlossen, ihren Beitrag zu leisten.

Fashirh wandte den gehörnten Kopf, als Rowarn sich ihm näherte. »Kann ich ... mit dir sprechen?«, fragte der junge Mann zögernd.

»Natürlich«, antwortete der Dämon. »Es macht mir nichts aus, mich mit deinesgleichen zu unterhalten.«

Rowarns Blick glitt zu den anderen drei Dämonen, die außerhalb des Feuerkreises lagerten, matt glühende Schemen in der Dunkelheit. »Diesen schon?«

»Ja«, antwortete Fashirh mit grollender Stimme. »Glaube nicht, dass deine Art das ausschließliche Privileg besitzt Andersartige zu verachten.«

»Trotzdem stehen sie auf unserer Seite?«

»Auf der des Regenbogens, Kind. Sie würden bedenkenlos diese Truppe opfern, wenn dies dem harmonischen Reich einen Sieg einbringen würde.«

So seltsam es auch sein mochte, das beruhigte Rowarn, weil es sich nicht zu weit von seiner Einschätzung entfernte. »Und du?«

Fashirh betrachtete seine Hände, deren Haut bei diesem Licht einen leichten Grauschimmer zeigte. »Ich neige mich schon dem Alter zu. Ich bin auch anders als die. Sie sind nur Söldner.«

»Besteht dann nicht die Gefahr, dass sie plötzlich die Seite wechseln, wenn sie von Femris besser bezahlt werden?«, stellte Rowarn eine ähnliche Frage wie zuvor dem Fürsten.

»Besteht diese Gefahr nicht immer?«, gab auch Fashirh ganz ähnlich Antwort. »Aber: nein, törichtes Kind. Diese Dämonen werden ihrer gewählten Seite treu bleiben, sonst hätten sie nicht so entschieden. Ihr wisst nicht viel über uns. Auch im Reich der Finsternis und ihrer Kinder gelten Ehre und Pflicht etwas. Vielleicht sogar mehr als bei euch.«

Rowarn wagte es, die Frage zu stellen, die ihn am meisten beschäftigte: »Warum hast du dich für den Regenbogen entschieden?«

Der Dämon lächelte finster. »Im Gegensatz zu meinen drei Artgenossen stamme ich von Xhy, der Hauptwelt der Dämonen. Eines Tages erschien der Nichtige bei uns, Tar'meso, den man heute den Herrn des Flammenthrons nennt. Er ist ein Annatai, aber er gehört der Finsternis an. Er ist der Schwarze Annatai.«

»Das verstehe ich nicht«, warf Rowarn ratlos ein. »Ist das nicht normalerweise auch die Seite der Dämonen? Vor allem eure Hauptwelt liegt sicher dort ...«

»Der Nichtige hat meine Welt in Schutt und Asche gelegt, Rowarn.«

»Oh ...« Rowarn versuchte sich vorzustellen, was das für ein Geschöpf sein mochte, das dazu fähig war, ganz allein die Hauptwelt der Dämonen zu zerstören. Dann entschied er, besser nicht darüber nachzudenken.

Fashirh fuhr fort: »Offenbar gefiel es ihm nicht, dass der Düstere Vanna, der Herr von Xhy, ihm den Flammenthron streitig machen wollte. Es gab einen großen Kampf, und Tar'meso rang den Düsteren Vanna nieder. Doch damit war er nicht zufrieden. Er verwüstete die ganze Welt. Sie blutet noch heute an vielen Stellen und hat sich kaum erholt.«

Rowarn schüttelte es. »Und das schaffte ein einzelner Mann?«

»Ein Annatai. Dieses Volk ist das Mächtigste des Universums, die Heimatwelt ist Annata, die Erenatar, der Erste Gedanke, selbst dem auserwählten Volk einst schenkte. Als Zauberer und Lehrmeister bereisen die Annatai das Träumende Universum, sie sind hochgeachtet. Der Name des Nichtigen hingegen wird inzwischen an vielen Orten voller Furcht genannt. Nach der Verwüstung von Xhy entschied ich, dass die Finsternis mit einem Mächtigen wie ihm niemals den Sieg erringen darf, denn selbst für Dämonen wird dies dann ein Universum des Schreckens. Deshalb unterstütze ich in Treue den Regenbogen.«

Rowarns helle Haut wurde fast durchsichtig, so bleich war er geworden. »Das ist eine große Geschichte ...«, flüsterte er.

»Allerdings«, nickte der Dämon. »Manchmal zu groß, Junge. Doch wir haben keine Wahl, wir sind in den Ewigen Krieg der GETEILTEN hineingezogen worden, und nun müssen wir unseren Beitrag leisten. Bald wird sich niemand mehr heraushalten können.«

»Und was ist, wenn ... dieser Nichtige hierherkommt?«

»Die Götter mögen uns davor bewahren, da wir schon mit Femris nicht fertig werden. Aber nein, ich befürchte es nicht, wenn es dich beruhigt. Die Finsternis hat viele Hände und ist an vielen Orten tätig. So wie der Regenbogen auch.«

Rowarn nickte. »Ja, wie man an dir sieht. Und wenn ich bedenke, was aus Zwergen werden kann, und dass selbst Dämonen Furcht vor einem einzigen Zauberer aus den eigenen Reihen haben, sollte jeder von uns versuchen, seinen Beitrag für den Frieden zu leisten, denn anscheinend haben beide GETEILTEN ihre Licht- und Schattenseiten.«

»Weiser kleiner Mann.« Fashirh zeigte die messerscharfen Zähne, doch dann wusste er noch etwas draufzusetzen, als er wohl merkte, wie sehr der Bericht über den Annatai Rowarn erschreckte. »Übrigens befindet sich ein Abkömmling der Annatai auf Waldsee, geboren auf Erytrien, einer von hier weit entfernten, abgeschieden liegenden Insel, die viele Legenden birgt. Man nennt ihn Halrid Falkon, und er ist seit vielen Jahren mit seinem Drachen Fylang unterwegs in allen Landen.«

»Oh!«, rief Rowarn. »Genug damit! Besteht diese Welt nur aus Mächtigen und furchteinflößenden Wesen?«

Da lachte der Dämon. »Nun, dann reden wir doch über etwas, das alle Männer stets beschäftigt, egal ob sie Mächtige sind oder nicht, Dämon oder Mensch: Frauen

Rowarn, der annahm, dass dies als Scherz gemeint war, hakte dennoch sofort nach: »Dämonenfrauen?«

Fashirh schnaubte Feuer vor Vergnügen. »Aber natürlich, unschuldiges Kind, schließlich müssen auch wir für Nachkommen sorgen. Unsere Frauen, das sind die mit den Flügeln.«

»Die mit den Flügeln?«

»Aber ja. Unwiderstehlich, sage ich dir. Machen aus jedem Dämon einen sabbernden Idioten, wenn sie es darauf anlegen. Lieben es, andere um den Verstand zu bringen. Sie sind ganz anders als wir, sprechen eine andere Sprache, und sie leben auch nicht mit uns zusammen.«

Rowarn war halbwegs fassungslos und gierig nach mehr. Solche Geschichten hatten ihn schon immer fasziniert, und er wollte es sich nicht noch einmal sagen lassen, dass er zu viele Vorurteile gegen Dämonen hegte. »Und ... was tun sie so?«

»Manchmal kommen sie zu uns und suchen sich einen Partner«, antwortete Fashirh. »Dann verschwinden sie wieder. Stell dir vor, es ist tabu für uns, ihr Reich oben in den Sphären aufzusuchen. Sie ziehen unsere Kinder auf und bilden sie aus, bevor sie die männlichen Nachkommen zu uns schicken. Sie sind verführerisch ...«

»Gefährlich ...«

»Und ob. Sie bestehen nahezu aus purer Magie. Sie greifen niemals zu Waffen, aber das brauchen sie auch nicht. Denn sie mischen sich selten in weltliche Belange ein. Sie suchen Menschen und andere Völker, wenn überhaupt, nur zur Abwechslung und zum Vergnügen auf. Wir, der männliche Teil unseres Volkes, kennen ihre Gedanken nicht. Wir wissen nicht einmal, wem sie dienen.«

»Vielleicht keiner Seite«, murmelte Rowarn. »Und jeder ...«

»Ja, mag sein.« Fashirh rieb sich den langen dünnen Spitzbart, der jedoch nicht aus Haaren, sondern aus Haut und Sehnen bestand, die beweglich waren. »Auch wenn es nur noch das GETEILTE gibt, so sind wir doch irgendwie immer noch alle Eins, oder? Ich habe Dinge gesehen, die Anhänger des Regenbogens taten, welche selbst einem Dämon die Essenz gefrieren lassen. Der Schwarze Annatai, den ich vorhin erwähnte, und den man nicht ohne Grund den Nichtigen nennt, hat mir beigebracht, was Furcht ist. Mir, einem Dämon von Xhy! Mich etwas gelehrt, das unmöglich bei uns scheint! Soll ich dir etwas sagen?« Er richtete seine kohleglimmenden Augen auf Rowarn. »Ich weiß nicht einmal, ob es das Richtige ist, was ich tue. Denn ich glaube, dass wir, egal was wir tun, unweigerlich auf den Untergang zusteuern und die Schlafende Schlange erwecken.«

Rowarn fand diese Äußerung nicht gerade aufbauend. »So etwas wie Hoffnung kennt ihr wohl auch nicht?«

»Nutzlos, wie die meisten Gefühle.« Fashirh musterte Rowarn von der Seite. »Raus damit.«

»Was meinst du?«, gab sich der junge Nauraka harmlos, machte jedoch ein ertapptes Gesicht.

»Du bist aus einem ganz bestimmten Grund zu mir gekommen, wegen einer Frage, die dir am meisten auf der Zunge brennt. Stelle sie, und dann mag es genug sein für heute.«

»Also gut.« Rowarn fasste sich ein Herz. »Was weißt du über den Dämon Nachtfeuer?«

Täuschte er sich, oder zuckte Fashirh zusammen? Er zischte den jungen Nauraka mit entblößten Reißzähnen an: »Bist du von Sinnen, diesen Namen so offen und frei zu sprechen, ganz ohne Schutz um dich?«

»Bist du nicht Schutz genug?«, fragte Rowarn verdattert.

»Ich? Gewiss nicht, ahnungsloser Tölpel. Ich bin ihm nur ein einziges Mal begegnet, und damals war ich noch jung. Ich lege keinen Wert darauf, ihm je wieder gegenüberzustehen, erst recht nicht, da wir nunmehr auf verschiedenen Seiten kämpfen. Er ist sehr mächtig, Rowarn. Niemand hat ihn je besiegt. Wenn er entschieden hat, dich zu töten, wird er es auch tun. Du wirst nie erfahren, wann und wie es geschieht.« Der Dämon schüttelte das gehörnte Haupt. »Warum stellt ein zerbrechlicher Wicht wie du Nachforschungen über einen Mächtigen wie ihn an?«

»Es heißt, er habe Königin Ylwa getötet.«

»Ja, das habe ich auch gehört. Und ich glaube es, denn auch die Königin war eine Mächtige, und nur einem wie Nachtfeuer hätte es gelingen können, unbemerkt in ihr Schloss einzudringen und sie zu töten.« Fashirh schnippte Rowarns Arm mit dem Finger an, und der junge Mann kippte seitlich weg, als wäre er nur ein Staubfussel auf Kleidung gewesen. »Jetzt pack dich und schlaf, Kind, keine Fragen mehr, und keine Antworten.« Er stand auf und stampfte davon.



Rowarn ging aber nicht zu seinem Zelt, sondern zum Lazarett, um vor dem Schlafengehen noch einmal nach Morwen zu sehen. Er stockte und erstarrte, als er Fürst Noïrun begegnete, der gerade heraushinkte. Unwillkürlich errötete er. »Ich ... äh ... wollte nur ...«

»Schon gut.« Der Fürst winkte ab. »Ich bin nicht blind, Rowarn, und ich habe auch nicht alles vergessen, was mit Vergnügen zusammenhängt. Ich weiß längst, was ihr beiden hin und wieder nachts treibt, genau wie Jelim und Rayem und all die anderen, aber das geht mich nichts an, solange ihr diskret seid.«

»Ihr seid Morwens Vater ...«

»Ich habe sie gezeugt, aber ich habe sie nicht aufwachsen gesehen und nicht erzogen. Ich fange jetzt gewiss nicht damit an. Sie ist seit drei Jahren in meinen Diensten, und ich habe mich nie eingemischt, weil sie schon als erwachsene und selbstständige Frau zu mir gekommen ist.« Er richtete seinen Blick auf Rowarn. »Natürlich ist sie mir ans Herz gewachsen«, gab er zu. »Und sie ist mir sehr wichtig. Aber meine Pflicht geht vor, und das weiß sie. Sie erwartet es auch nicht anders, sie ist selbst Soldatin.« 

»Ja, Herr«, murmelte Rowarn.

Eindringlich fügte Noïrun hinzu: »Als ich meinen Eid leistete, habe ich mich gleichzeitig verpflichtet, niemals meine Gefühle über meine Verantwortung und Aufgabe zu stellen. Dafür ist das, was ich tue, zu wichtig. Daran halte ich unverbrüchlich fest, denn nur so kann ich es auch von allen anderen verlangen.« Er deutete zum Zelteingang. »Geh jetzt besser rein, es ist spät, und wir alle brauchen Schlaf. Sei morgen ausgeruht und pünktlich.« Leise vor sich hinfluchend humpelte er zu seinem Zelt.

Morwen war noch wach, als Rowarn sich zu ihr an den Rand des Feldbettes setzte. »Wie fühlst du dich?« Er strich eine Strähne aus ihrer Stirn. Sie war blass, aber die Augen waren klar und ohne Fieber.

»Ziemlich müde, aber die Schmerzen halten sich in Grenzen«, antwortete sie. »Es ist nur eine harmlose Fleischwunde, wahrscheinlich wird sie sich nicht mal entzünden, da ich so schnell hier war und umgehend behandelt werden konnte.« Sie bewegte den gesunden Arm und tastete nach seiner Hand. Drückte sie. »Du hast ihn gerettet«, sagte sie leise. »Danke.«

Eine Weile sahen sie einander still in die Augen. Dann fuhr Morwen in seltsam ernstem, fast feierlichem Tonfall fort: »Rowarn, eines musst du mir hier und jetzt schwören: Sollten wir je in die Situation kommen, dass du zwischen ihm und mir entscheiden musst, wirst du ihn wählen.«

»Morwen, das kann ich ni-«, wollte er erschrocken abwehren. Aber sie drückte seine Hand fest, und er spürte, wie die Nägel sich schmerzhaft in seine Haut bohrten.

»Rowarn, du verstehst nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich sage das nicht aus Edelmut oder Pathos, oder weil ich gerade in rührseliger Stimmung wegen meiner wundersamen Errettung bin. Es ist mir bitterernst. Mein Vater ist ein großes Vorbild, und Ardig Hall braucht ihn. Die Königin ist tot, das Schloss eine Ruine. Er ist einer von denen, die alles zusammenhalten und dem Kampf überhaupt noch einen Sinn geben, glaub mir! 

So grausam es klingen mag, Ardig Hall konnte nichts Besseres passieren, als dass er von seinem Land vertrieben wurde, weil er sich von ganzem Herzen dafür einsetzt und daran glaubt, was er tut. Er hat sonst nichts mehr, aber gleichzeitig gibt er damit den Soldaten alles. Erhalte ihm das, und erhalte ihn dadurch uns. 

Er lebt dafür, für Ardig Hall zu kämpfen und Femris daran zu hindern, das Tabernakel vollständig in seine Hände zu bekommen. Ich weiß, du verfolgst andere Ziele. Aber du und Olrig, ihr seid die Einzigen, die er nahe an sich heran lässt, und er braucht euch – beide, das weiß er genau. Mehr als mich, ich bin ihm sogar eher hinderlich als seine Tochter. So, wie er die Soldaten anfeuert, braucht er eure Unterstützung.«

»Er würde mir das nie verzeihen«, wandte Rowarn trotzdem ein, auch wenn ihm einleuchtete, was sie sagte.

»Das ist dann eben eine Bürde mehr, die du tragen musst«, erwiderte sie. »Und ich weiß, du kannst es, Rowarn. In dir ruht eine machtvolle Größe. Ich weiß nicht, wer du bist, aber du bist nicht wie wir. Allein dein Aussehen ... nein, sag es nicht!« Sie hob unwillkürlich die verletzte Hand, als er ansetzte, etwas zu sagen, und zuckte voller Schmerz und Wut zusammen. »Ich will es nicht wissen, Rowarn, was du verbirgst, was dich quält. Vor allem nicht jetzt.« Dann seufzte sie. »Das ist der Moment, wo du deinen Schwur leisten solltest und dann gehen.«

»Ich schwöre es«, sagte er langsam.

»Sei dir bewusst, dass du daran gebunden bist, auf Gedeih und Verderb. Wenn du diesen Schwur brichst, verlierst du mehr als nur deine Ehre.«

»Ich schwöre es«, wiederholte er.

»Und schwöre auch nicht deshalb, weil du glaubst, dass du nie in diese Lage kommen wirst. Wir wollen hoffen, dass es so ist. Aber wenn es dazu kommt, darfst du nicht zögern. Du bist gebunden.«

»Ich schwöre es«, wiederholte er zum dritten Mal.