Kapitel 32

Aufbruch


Am Abend suchte Rowarn Ragon in seiner Kammer auf.

Der Einäugige wirkte überrascht. »Rowarn! Was führt dich ...« Dann stockte er. »Verzeihung, das steht mir nicht mehr zu. Königliche Hoheit, sollte ich sagen.«

»Unsinn«, widersprach Rowarn und winkte ab. »Ich weiß nicht, ob ich mich jemals an den Titel gewöhnen werde, aber ganz sicher will ich von keinem der alten Gefährten anders angesprochen werden als bisher.«

Ragon wirkte erfreut und verlegen und verharrte unsicher. »Willst du dich setzen ...«

»Ja, danke.« Rowarn ließ sich auf dem freien Stuhl nieder. »Ragon, wir stehen tief in deiner Schuld«, begann er. »Angmor, Tamron und ich. Es ist mir unangenehm, dass sie mich als Helden feiern, denn in Wirklichkeit bist du es gewesen. Ohne dich wäre die Flucht nicht gelungen. Vielleicht wären wir gar nicht mehr am Leben. Jedes Mal, wenn ich kurz davor war aufzugeben, hast du mich aufgerüttelt. Du hast mir wichtige Hinweise gegeben, Warnungen zukommen lassen und mich beschützt. Vor allem der Hinweis auf das Mittel gegen das Absaugen der Kräfte hat uns die Flucht ermöglicht, weil Angmor dadurch endlich wieder zu Kräften kam. Und das alles hast du so perfekt getarnt, dass nicht einmal Heriodon misstrauisch wurde.«

»Ich habe getan, was mir aufgetragen wurde«, sagte Ragon. Langsam setzte er sich auf die Bettkante.

»Du hast mehr als das getan, Ragon. Das weiß ich, und das wissen die anderen. Letztendlich ist genau das der Grund, warum wir so lange gegen Femris bestehen konnten: Weil wir füreinander da sind, weil jeder für den anderen mit seinem Leben einsteht und handelt, wenn es angebracht ist, auch ohne Befehl. Uns hält der Glaube an Ardig Hall zusammen und die Hoffnung auf eine Zeit des Friedens, die frei sein soll von der stets im Hintergrund lauernden Bedrohung durch den Unsterblichen.« 

Rowarn beugte sich vor. »Ich weiß nicht, wie das alles enden wird, Ragon. Aber wenn es gut ausgeht, und wenn du und ich dann noch am Leben sind, stehe ich mit meinem Wort als König von Ardig Hall dafür ein, dass du bekommen sollst, was du dir wünschst. Land, einen Titel, Gold, was auch immer. Du sollst dir ein neues Leben aufbauen und eine gute Zukunft vor dir haben. Was immer es auch sein mag, wenn ich in der Lage bin, deinen Wunsch zu erfüllen, werde ich es dir geben. Neben meiner Freundschaft.«

Ragon saß sprachlos da. Sein Auge füllte sich mit Tränen. »Ich ließ ein schreckliches Leben hinter mir, als ich in Noïruns Dienste trat«, sagte er leise. »Nichts Gutes war mir bis dahin widerfahren. Doch ich habe nicht aufgegeben, auf etwas Besseres zu hoffen. Ich wollte nicht glauben, dass es nur Schlechtes gibt.«

»Es muss schwer für dich gewesen sein, immer wieder zu den Dubhani zurückzukehren«, meinte Rowarn. »Vor allem, nachdem Heriodon das Sagen bekam. Wenn es irgendwo das Böse gibt, so ist es in ihm vereint. Ich glaube, Femris benutzt den Krieg nur als Strategie, um ans Ziel seiner Träume zu kommen. Heriodon aber benutzt das Ziel, um seine Gelüste nach Schmerz und Kampf auszuleben. Er hat über so viele Leid gebracht, über ein Jahrhundert lang. Ich glaube, die Welt wird aufatmen, wenn er nicht mehr ist.«

»Dafür werden wir sorgen«, sagte Ragon grimmig. »Seine Tage sind gezählt.«

Rowarn nickte und stand auf. Er reichte Ragon die Hand. »Danke, dass du mit mir gehst.«

Der Einäugige ergriff Rowarns Hand. »Es ist mir eine Ehre, mit dem König von Ardig Hall zu ziehen.«



Bis zum Aufbruch hatten Schmied, Rüstmeister und Schneider eine Menge zu tun. Pferde mussten beschlagen werden, Waffen geschärft, Rüstungen aufpoliert und Kleidung ausgebessert. Und dazu mussten Haare und Bärte geschnitten, rasiert und neu geflochten werden. 

Der Heermeister hatte tadelloses Aussehen befohlen, um Femris deutlich zu machen, dass Ardig Hall wohl eine Schlacht, nicht aber den Krieg verloren hatte. Sie sollten mit Stolz und Würde gen Dubhan ziehen und dem Feind zeigen, dass Mut und Wille ungebrochen waren und jeder einzelne Soldat stark und gesund war. »Wir werden ihnen vor Augen führen, dass mit der lichtlosen Burg dasselbe geschehen wird wie mit dem Schloss von Ardig Hall. Bisher war es Femris gewesen, der angriff, und Ardig Hall war in der Verteidigung. Nun haben wir nichts mehr zu verlieren, aber alles zu gewinnen. Deswegen werden nun wir die Angreifer sein, unnachgiebig und unaufhaltsam.«

Diese Botschaft sollte in alle Teile des Landes weitergetragen werden. Rowarn zweifelte nicht daran, dass die Stärke des Heeres bald wieder anwachsen würde.

»Ich bin froh, dass ich das nicht alles planen und entscheiden muss«, sagte er zu Noïrun, als sie einmal beim Morgenmahl unter sich waren.

»Rowarn, dafür bin ich doch der Heermeister. Es ist meine Aufgabe«, sagte der Fürst. »Über ein halbes Jahr lang hast du dich gesträubt, die Verantwortung zu übernehmen, und nun willst du alles auf einmal machen, und ganz allein. Was soll der Unsinn?«

»Ich hab schon verstanden«, lachte Rowarn. »Es ist nur ... ich weiß nicht, was von mir erwartet wird.«

»Ich erwarte von dir, dass du als Ritter der Garde an meiner rechten Seite kämpfst, so gut wie bisher auch schon«, sprach Noïrun. »Das ist der Befehl des Heermeisters an dich. Was den Rest betrifft, so bist du das lebendige Symbol der Hoffnung. Benimm dich gut, übergib dich nicht dauernd, und alles andere überlasse uns.«

Rowarn schüttelte kichernd den Kopf. »Das mit dem Nicht-Übergeben wird nicht leicht, fürchte ich. Die beiden Hälften, aus denen ich gebildet wurde, vertragen sich nicht gut miteinander, das hat mir Graum erklärt. Damit werdet ihr genauso wie ich leben müssen. Mit dem Rest aber gebe ich mir Mühe.«

»Hm.« Noïrun beendete die Mahlzeit und schob den Teller von sich. »Und was hast du noch auf dem Herzen? Raus damit. Du trägst es schon seit meiner Ankunft mit dir herum, neben allem anderen.«

»Ich gebe es auf, mich zu fragen, woher du das immer alles weißt«, meinte Rowarn und zerkrümelte ein Stückchen Brot. »Angmor reißt mir den Kopf ab, wenn ich es dir sage. Er hat mir verboten, mit dir darüber zu reden.«

»Dann entscheide dich, ob du dich der Last entledigen willst oder weiterhin den Geheimnisträger spielst.«

»Ich halte sein Schweigen nicht für richtig, also rede ich. In Grinvald hatte er eine Vision, dass ein Verräter unter uns ist.«

»Verräter gibt es immer«, sagte Noïrun leichthin und trank den Becher leer. »Es würde mich wundern, wenn es diesmal anders wäre.«

»Hast du einen Verdacht?«, fragte der junge König verdutzt.

»Rowarn.« Der Fürst faltete die Hände und sah ihn ruhig an. »Dreißig Männer und Frauen haben Pläne gegen den Feind geschmiedet. Bei so vielen Eingeweihten muss man zwangsläufig von einer undichten Stelle ausgehen. Es mag dafür viele Gründe geben. Überzeugung, aber auch Erpressung seitens des Feindes, Beeinflussung, sogar Doppelgänger wie der Similu, der anstelle von Nachtfeuer Ylwa ermordete.«

»Und was können wir tun?«

»Nichts. Denk daran, wie Ragon Heriodon getäuscht hat. Wir wissen nun ganz genau, wie stark sein Heer ist, und was für eine Strategie er plant. Er weiß inzwischen, dass er doppelt verraten wurde, und muss seine Pläne ändern, aber auch das gereicht uns zum Vorteil.« 

»Und was werden wir tun?«

»Wir lassen es einfach auf uns zukommen. Noch weiß der Verräter nicht, wie wir in die Burg gelangen und Femris die Splitter abnehmen wollen. Noch weiß er auch nicht, wann und wie ich Dubhan angreifen werde. Wir haben sehr viel besprochen, aber nicht den endgültigen Schlag. Hier ging es erst mal nur um Scharmützel und den Wiederaufbau des Heeres. Die Stärkung der Moral, damit wir Unterstützung bekommen. Denn mit knapp zehntausend Mann kann ich nicht gegen Dubhan ziehen, das wäre Selbstmord.«

Rowarn rieb sich das Kinn. »Du gehst nicht davon aus, dass wir Erfolg haben und Femris die Splitter abnehmen werden.«

»Wenn dem so wäre, würde ich es nicht gestatten, dass du dich daran beteiligst«, erwiderte Noïrun. »Aber ich muss die Möglichkeit eines Fehlschlags einbeziehen. Unser Vorteil gegenüber Femris war stets unsere Schnelligkeit. Er war uns zahlenmäßig immer überlegen, aber auch langsam. Wir reagieren schnell und unerwartet, unsere Strategie kann sich im Verlauf eines Tages ändern und eine Zange zuschnappen lassen, die er vorher nicht sehen konnte. 

Ein Verräter in den eigenen Reihen, selbst in der Befehlshierarchie, ist für mich deshalb das geringste der Probleme, die auf uns zukommen werden. Wichtig ist – sollte er ein Attentat auf dich oder mich verüben, vielleicht auch auf uns beide, und sollte er damit Erfolg haben, muss der Kampf ungebrochen weitergehen. Es kann nicht alles verloren sein, nur weil wir beide dann nicht mehr dabei sind. Unseren Verbündeten muss klar sein, dass es um ganz Waldsee geht, und dass die Zukunft der Welt nicht allein von uns beiden abhängen darf.«

»Sie werden hoffentlich nicht den Mut verlieren«, sagte Rowarn. »Aber ... da sind immer noch Olrig, Angmor und Tamron. Auch sie sind Symbole, vor allem der Visionenritter. Und Felhir und Ragon geben sowieso niemals auf, nicht wahr? Sie können alles weiterführen.«

Noïrun nickte. »Das Attentat selbst werden wir nicht verhindern können. Aber sehr wohl den Ausgang, indem wir immer wachsam und misstrauisch sind. Wir sind beide Krieger und ohnehin in ständiger Gefahr, also sollte es uns nicht stören, wenn wir zusätzlich dafür sorgen, dass wir stets mit dem Rücken zu einer dicken Wand stehen.« Er erhob sich und sah aus dem Fenster. Draußen herrschte lebhaftes Treiben, und seine Anwesenheit war bald erforderlich. 

»Mach dir keine Gedanken, Rowarn«, schloss er. »Angmor denkt genauso, deswegen wollte er nicht, dass du mit mir darüber redest. Suche nicht nach dem Verräter, denn er wird dich finden. Konzentriere dich vor allem auf dich und deine Bestimmung.« Er gab ein Zeichen durchs Fenster und verließ den Raum.



Pünktlich wurde alles erledigt, der Morgen der Abreise brach an, und Rowarn empfand Stolz, als er Windstürmer mit neuem Sattel, Zaumzeug, Kopf- und Brustschutz ausgestattet sah, und als er selbst die Ritterfahne in seinem Rücken befestigte. Er strich über das Wappenhemd von Ardig Hall, rückte den Harnisch zurecht und prüfte den Sitz des Gürtels und der Waffen.

»Na, Baumäffchen, aufgeregt?«, fragte Olrig, während er seinen Reisebeutel am Sattel befestigte.

»Und ob!«, lachte Rowarn. »Endlich reiten wir wieder zusammen.« 

Es war vereinbart, dass alle gemeinsam losreiten und sich erst später trennen sollten, wenn keine neugierigen Augen zusahen. Arlyn hatte neben vielem anderem Pferde zur Verfügung gestellt, sodass niemand zu Fuß gehen musste – bis auf Pyrfinn den Läufer, der schon lange unterwegs zu den Zwergenlanden war.

Vor Haus Farnheim herrschten dichtes Gedränge und Nervosität, Reisefieber und gespannte Erwartung. Auch die Pferde konnten es kaum erwarten, sie tänzelten herum und wieherten.

Olrig betrachtete Rowarn mit einem Ausdruck des Stolzes. »Prächtig siehst du aus, junger König. Du hast dich ordentlich gemacht. Die Zwerge werden ihren Bund mit dir nicht bereuen.«

Rowarn hörte nur mit halbem Ohr hin. Er beobachtete Arlyn, die gerade mit zwei großen Beuteln bepackt aus dem Haus kam. Sie trug einen langen, seitlich geschlitzten, dunkelgrünen ärmellosen Überwurf, darunter grob gewebte, grünbraune, weite Beinkleider und ein mit silbernen Fäden durchzogenes hellgrünes Hemd mit weiten Ärmeln; weiche, kniehohe Schnürstiefel, einen Doppelgürtel, an dem viele Heilutensilien, Messer, Sichel und Kräuterbeutel hingen, und einen aus dickem Filz gewebten, bodenlangen schwarzen und mit grünen Fäden durchwirkten Umhang mit Kapuze. 

Sie sah so aus, als wäre sie schon ihr Leben lang auf Reisen. Mit ruhigen Bewegungen befestigte sie die Reisebeutel und zwei zusammengerollte Decken am Sattel eines Braunen, der ihr freundlich dabei zusah.

»Du kannst reiten?«, fragte er.

»Rowarn, ich mag die Welt dort draußen nur aus Erzählungen kennen und völlig ahnungslos sein, was mich erwartet – aber ich kann reiten, ja.« Sie prüfte den Sattelgurt und tätschelte den Hals des Wallachs. »Schon seit ich zwei Jahre alt war, stell dir vor.«

»Schon gut«, grinste er. »Wenigstens machst du mir den Rang des Ritters nicht streitig.«

Aschteufel war ganz außen neben Windstürmer angebunden, denn keines der anderen Pferde wollte etwas mit ihm zu tun haben. Sie brauchten auch eine Weile, bis sie bei Graums Anblick nicht mehr scheuten. Der Schattenluchs nützte das natürlich aus und machte sich einen Spaß daraus, zwischen ihnen umherzulaufen. Niemand hinderte ihn daran; die Pferde sollten sich abhärten.

Alle trugen volle Rüstung, auch der Visionenritter hatte seinen geschlossenen Helm wieder aufgesetzt. Noch sollte die Offenbarung nicht öffentlich gemacht werden. Sie würde erst nach und nach bekannt werden, genau wie die Neuigkeit, dass Ardig Hall wieder einen König hatte.

Überhaupt nicht bekannt werden sollte natürlich, wohin Rowarn, Angmor und vor allem Noïrun unterwegs waren. Der Fürst setzte hier darauf, dass sie schneller als die Gerüchte vorankamen. Zumindest würden sie auf ihrem Weg keine Siedlungen kreuzen, wie Angmor versicherte.

Das machte es dem Verräter schwer, eine Warnung an Femris abzusetzen, ohne sich selbst dabei zu entlarven. Es gab viele Hindernisse, und Rowarn erwartete, dass der Verräter bald einen Fehler machen würde.

Gesinde und Heiler waren versammelt, um ihre Herrin zu verabschieden. Die meisten waren verstört oder weinten sogar. Sie gaben Noïrun und Rowarn die Schuld an Lady Arlyns offensichtlicher Geistesverwirrung und zeigten ihnen die kalte Schulter. Auch aus dem Dorf waren viele gekommen, mit kleinen Geschenken, die allesamt auf das dicke Proviantpferd gepackt wurden, das in der nächsten Zeit ordentlich zu schleppen hatte. Dubhan sollte in längstens acht Tagen erreicht werden können, das Heerlager von Ardig Hall lag ein Stück weiter östlich.

Arlyn schwang sich aufs Pferd und hielt von dort eine kurze Ansprache an die Bewohner Farnheims und versprach, bald wiederzukommen. Inzwischen weinten nahezu alle, doch sie sahen ein, dass die Lady sich dadurch nicht umstimmen lassen würde.

Schließlich waren alle aufgesessen und bereit. 

Fürst Noïrun, Heermeister von Ardig Hall, gab das Zeichen, und es ging los.