Kapitel 15

Der Unsterbliche


Der Fürst lenkte den Hengst abwechselnd nach links oder rechts, neigte sich leicht im Sattel und berührte im Vorbeireiten die vielen ausgestreckten Hände.

Rowarn hatte das Visier seines Helmes nach unten geklappt, damit keiner sein Gesicht sehen konnte, denn er war völlig außer sich. Er folgte dem Fürsten auf eine Pferdelänge Abstand, in aufrechter Haltung. Auch Windstürmer schritt stolz einher; er begriff, worum es ging und wollte sich ebenso wenig wie sein Herr eine Blöße geben. Der erste Eindruck, das wusste Rowarn, war immer der wichtigste, selbst wenn er kaum bewusst wahrgenommen wurde. Doch etwas blieb haften und hatte Auswirkungen auf jede zukünftige Begegnung.

Sie brauchten eine ganze Weile bis zum Zentrum des Heerlagers, wo neben einigen weiteren Zelten das größte von allen aufgeschlagen war. An allen Seiten prangte das Wappen von Ardig Hall, und zusätzlich wehte die Fahne an einer hohen Stange über dem Dach. Rowarn öffnete das Helmvisier wieder, um eine bessere Sicht zu bekommen.

»Dort drin schmieden wir alle Pläne«, erklärte der Fürst. »Daneben residieren ich, Olrig und die übrigen Befehlshaber und Offiziere höchsten Ranges.«

Noïrun hielt vor dem großen Zelt an, saß ab und ging – hinkte leicht – auf einen Mann zu, der fast genau denselben Helm und dieselbe Rüstung trug wie er. Olrig und Ragon hielten sich bereits bei ihm auf.

»Felhir!«, rief Noïrun und drückte seinen Arm. »Wie es aussieht, hast du mich prächtig vertreten, denn hier steht ja noch alles, und die Rekruten sind bisher nicht weggelaufen.«

»Alles, was recht ist, du hast dir ordentlich Zeit gelassen!«, gab der andere zurück und riss sich den Helm vom Kopf. Er mochte etwa Anfang fünfzig sein, und auf den ersten Blick, vor allem aus der Entfernung, bestand sogar eine Ähnlichkeit zwischen den Männern. »Bin ich froh, das verdammte Ding endlich absetzen zu können!«

»Das ist der Preis des Heermeisters. Vielleicht sollte ich es mir noch einmal überlegen«, lachte der Fürst. »Habt ihr das oben gesehen, vor Ardig Hall? Wird unserem Feind nicht sehr gefallen haben.«

»Darauf möcht ich wetten«, brummte Olrig. »Schade, dass du dir nicht noch eine Zielscheibe auf deine Brust gemalt hast, er hätte dir bestimmt gern einen Willkommensgruß geschickt und dich zu seiner Festtafel eingeladen ... als Hauptgang.«

Noïrun klopfte ihm grinsend auf die Schulter. Dann bat er: »Tut mir einen Gefallen, lasst mich einen Augenblick allein und haltet mir alles vom Leib, ich muss mich erst einmal sammeln.«

»Ich habe damit gerechnet und ein wenig Speis und Trank im Besprechungszelt bereitstellen lassen«, sagte Felhir. »Nenn uns nur deine Wünsche.«

»Danke, vorerst genügt das.« Noïrun drehte sich mit suchendem Blick um und entdeckte Rowarn. »Was sitzt du auf dem Pferd wie eine gemeißelte Statue? Komm endlich runter und folge mir.« Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand er im Innern des Zeltes.

Rowarn stellte fest, dass ihm immer noch der Mund offenstand. Er saß in aller Eile ab und hielt dem Kriegskönig die Zügel hin. »Olrig, kann ich ...«

»Ich kümmere mich schon um den Kleinen, geh nur«, sagte der Zwerg. »Lass den Heermeister nicht warten, das hat er nicht gern. Aber inzwischen dürftest du das selbst herausgefunden haben.«



Rowarn trat zögernd ein und blieb unschlüssig beim Eingang stehen.

»Verschließ das Zelt«, forderte Noïrun ihn auf, während er seinen Waffengürtel, das Hemd, die Rüstung und das Wams auf einer Truhe ablegte. Das geräumige Zelt war mit vielen Teppichen, einem großen Tisch und jeder Menge Sitzgelegenheiten ausgestattet. Aufatmend ließ der Fürst sich in einen bequem aussehenden Stuhl fallen, legte die Beine auf den Tisch und griff nach einigen Beerenfrüchten, die in einer Schale bereitlagen.

»Gieß uns Wein ein und setz dich, Rowarn.« Er wies auf einen freien Stuhl in seiner Nähe, während er sich zurücklehnte ein paar der Früchte verzehrte.

Rowarn gehorchte und trank zuerst einige Schlucke, bevor er sich genug gefasst hatte, um zu fragen: »Bin ich der einzige Tölpel, der nichts bemerkt?«

Noïrun schüttelte lächelnd den Kopf. »Nur die Garde, die du als Schar kennst und die mich begleitet hat, wusste während der Reise Bescheid. Morwen hat sich zwar als Gardistin verraten, aber du konntest natürlich noch nicht die Zusammenhänge erkennen. Selbst innerhalb dieses Lagers ist es nur wenigen bekannt, dass Noïrun und der Heermeister identisch sind. Ich ließ den Heermeister bisher nur ab und zu in der Schlacht auftreten, stets mit Helm und geschlossenem Visier. Aber jetzt soll Femris es ruhig wissen.« Er hob den Becher und trank ihn in einem Zug leer. »Ich bin froh, dass wir diese Reise so gut und erfolgreich überstanden haben und endlich hier sind. Es ist wie eine Heimkehr für mich.«

Rowarn schenkte ihm nach. »Aber ... warum bist du selbst auf Rekrutensuche gegangen?«

»Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Wir sind in einer verzweifelten Lage, Rowarn«, antwortete der Fürst. »Mein Wort verleiht einer Bitte um Unterstützung mehr Gewicht. Und durch Königin Ylwas letzten Willen war ich ohnehin verpflichtet, nach Inniu zu gehen. Nun haben wir Verstärkung, und das gerade rechtzeitig. Wenn wir Glück haben, können wir Femris den Splitter abnehmen, bevor seine eigene Verstärkung eingetroffen ist. Hoffen wir, dass die Zwerge sie unterwegs wenigstens aufhalten und dezimieren konnten. Jedenfalls durfte niemand wissen, dass der Heermeister während der letzten Zeit überhaupt nicht anwesend war. Weder unsere Seite noch die des Feindes.«

Rowarn schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück. »Ich bin ... immer noch wie erschlagen.«

Noïrun warf sich einige weitere Beeren in den Mund. »Ich dachte, es freut dich, so gut mit dem Heermeister zu stehen. Damit dürften alle Befürchtungen auf einen Schlag wie weggeblasen sein.«

Da musste Rowarn doch lachen, und Noïrun stimmte in sein Gelächter ein.

Gleich darauf wurde der Fürst wieder ernst. »Uns wird nur eine kurze Ruhepause gegönnt. Wir müssen bald handeln.« Er nahm die Beine vom Tisch und beugte sich vor. »Kommen wir gleich zu einer Sache, die ich nicht aufschieben will, Rowarn. Ich möchte dir gern ein Kommando geben.«

Rowarn war platt. »Mir? Jetzt schon?«

»Ja. Eine Einheit von hundert Mann, die du dir selbst zusammenstellst. Reiterei. Bilde sie für spezielle Einsätze aus.« Der Fürst schenkte sich selbst den dritten Pokal ein und Rowarn den zweiten. Dann belud Noïrun einen Teller mit diversen Kleinigkeiten und griff zu.

So weit war Rowarn noch nicht, obwohl ihm der Magen knurrte. Aber zuerst musste er über eine Menge Dinge nachdenken. »Danke für das Vertrauen«, sagte er leise.

»Dachtest du, ich hätte keinen Hintergedanken, als ich dir meine ganze Aufmerksamkeit in einer besonderen Ausbildung widmete?« Der Fürst nagte einen kalten Hühnerschenkel ab und spülte mit Wein nach. »Sei nicht naiv, Rowarn. Du bist bei den Velerii aufgewachsen, in dir musste mehr stecken als in anderen, das war mir von Anfang an klar. Und du hast dich als äußerst talentiert und vor allem sehr anpassungsfähig erwiesen. Nicht zuletzt verdanken Morwen und auch ich dir unser Leben. Dabei bist du noch keine einundzwanzig. So gut war nicht mal ich in dem Alter, obwohl ich es inzwischen immerhin bis zum Heermeister gebracht habe.« Er grinste ein wenig schief. »Offensichtlich bin ich ein besserer Krieger als Herrscher, denn als Fürst habe ich ziemlich versagt, wenn man es genau nimmt.« Er stieß einen kurzen, trockenen Laut aus. »Fürst Ohneland, fürwahr, ein edler Titel.«

Rowarn war nicht nach Scherzen zumute, auch wenn sie auf Noïruns Kosten gingen. Er war völlig durcheinander. Aber er wusste auch, dass der Fürst eine Entscheidung erwartete, und zwar sofort. »Wenn ich offen sprechen darf ...«

Noïrun hob die Brauen. »Natürlich.«

»Ich möchte kein Kommando«, sagte Rowarn. Er hatte sich diesen Satz vorher genau überlegt und war fest entschlossen, ihn ruhig und gelassen vorzubringen. »Jetzt noch nicht. Stattdessen möchte ich ... einen Platz in deiner Garde.«

Nun war es an Noïrun, erstaunt zu sein.

Rowarn fuhr fort: »Der Ehrenplatz an deiner linken Seite gebührt Olrig. So vermessen würde ich niemals sein, darum zu bitten. Aber ich bitte um die rechte Seite.«

»Neben mir«, sagte Noïrun.

»Ja«, antwortete Rowarn.

»Wo nicht einmal Morwen steht, die hart um ihren eigenen Platz kämpfen musste und ihn erst vor einem Jahr erhielt.«

»Ja«, wiederholte Rowarn.

Der Fürst ließ die Hände neben den Teller sinken und starrte Rowarn einen Augenblick lang schweigend an. Schließlich meinte er: »Hat es Sinn, nach dem Warum zu fragen?«

Rowarn hielt seinem Blick stand. »Das ist mein Platz.«

»Hm.« Noïrun wischte die Hände an einem feuchten Tuch aus einer angewärmten Schale ab, nahm den Pokal und lehnte sich zurück. Nachdenklich stützte er das Kinn auf die andere Hand. »Morwen wird dich umbringen, das ist dir doch klar?«

»Wahrscheinlich«, gab Rowarn zu. »Aber das soll dann meine Sorge sein.«

Noïruns Stirn legte sich in grüblerische, vielleicht auch kritische Falten. »Nun gut«, entschied er schließlich und nahm die Hand vom Kinn. »Ich werde Morwen das Kommando geben. Wenn sie dich am Leben lässt, kannst du sie unterstützen.«

Für einen Moment saß Rowarn wie erstarrt. Er konnte nicht glauben, dass es so schnell gegangen war. Was er da gewagt hatte, würde ihm sicher erst später so richtig zu Bewusstsein kommen. Aber es gab viele Gründe dafür. Hauptsächlich wollte er in Noïruns Nähe bleiben, um ihn zu schützen, aber auch, um weiterhin zu lernen. Und ... auf diese Weise konnte er mehr herausfinden, was seiner Rache dienlich war, dem eigentlichen Ziel seiner Anwesenheit. Natürlich würde er für Ardig Hall einstehen, er würde den Eid leisten und alles tun, um den Splitter zurückzuerobern. Aber im Vordergrund stand immer die Rache. Solange Nachtfeuer lebte, war Rowarns Aufgabe nicht erfüllt. Und damit würde er auch Ardig Hall einen Dienst erweisen, indem er Femris eines mächtigen Verbündeten beraubte. Dann erst konnte er bereit sein – durfte er es sein –, das Amt als Friedenshüter anzunehmen und den Splitter zu bewahren.

Dies alles konnte er Noïrun jedoch nicht offenbaren, ohne gleichzeitig preisgeben zu müssen, dass Königin Ylwa seine Mutter gewesen war. Und so weit war er immer noch nicht, schließlich war er gerade erst angekommen. Da Noïrun ebenfalls seine Identität als Heermeister verborgen gehalten hatte, war es umso wichtiger, den richtigen Moment abzuwarten, bevor die Welt erfahren durfte, dass es noch einen Erben der Nauraka gab.

Vor allem ... weil Rowarn noch immer keine Ahnung hatte, ob er das Erbe überhaupt antreten konnte. Er wusste viel zu wenig über sich. Er durfte alles erst der Reihe nach angehen, Stück für Stück.

Natürlich hatte er Schuldgefühle, weil er Noïrun dies alles vorenthielt, dem Mann, dem er bedingungslos vertraute, und den er wie einen Vater liebte und sich manchmal wünschte, er wäre es. Er hatte ihm so viel zu verdanken ...

»Geh jetzt«, unterbrach der Fürst seine Gedanken. »Beichte Olrig, was du mir gerade abgerungen hast, und lass dir ein Zelt von ihm anweisen. Ich werde mich inzwischen mit Morwen auseinandersetzen.« Er seufzte. »O Freude.«

Rowarn sprang auf. »Ich danke für die große Ehre«, stieß er hervor. »Und damit du weißt, wie ernst es mir ist, möchte ich, dass du mir sobald wie möglich den Eid abnimmst.«

»Du kannst es wohl gar nicht mehr erwarten?« Noïrun lächelte seltsam hintergründig.

Rowarn, der das nicht bemerkte, richtete seinen Blick auf die Zeltbahnen, hinter denen die Ruinen von Ardig Hall lagen. »Es ist, wie du sagtest«, murmelte er. »Fast ein Zuhause ...«

»Du bist ein Romantiker, Rowarn«, brummte der Fürst. »Kein Wunder, bei deiner Jugend und deinen Muhmen. Also geh schon.« Rowarn war fast draußen, als Noïrun ihm noch etwas nachrief: »Übrigens kann ich dir keinen Eid abnehmen. Du hast mir dein Schwert schon gegeben, an ein Gelöbnis gebunden, und ich habe es angenommen. Du gehörst mir bereits, und damit auch dem Heermeister, und zwar auf Gedeih und Verderb. – Nein, kein Wort mehr, raus mit dir!«



Draußen setzte bereits die Abenddämmerung ein, und Rowarn blinzelte in die letzten roten Strahlen, die das Lager überfluteten.

Olrig winkte ihm. »Komm, ich zeige dir deine Unterkunft.« Er führte Rowarn an den Rand der Behausungen für die Befehlshaber und wies auf ein kleines Zelt. »Dein neues Zuhause.«

»Und Windstürmer?«

»Wird gerade versorgt. Er steht dort hinten«, Olrig wies Richtung Süden. »Du wirst ihn morgen schon finden. Heute kümmerst du dich erst mal um dich selbst. Iss etwas und sieh dich im Lager um.«

Rowarn nickte. »Das werde ich machen. Und ich soll dir ausrichten ...«

»Ja?«

»Ich ... ich werde ...«

»Raus damit!«

Rowarn kratzte sich die Nase. Allmählich wurde ihm bewusst, was er getan hatte. »Ich bleibe an seiner Seite«, gestand er ausweichend und hoffte, das würde dem Kriegskönig genügen.

Doch der hob eine Braue, legte den Kopf leicht schief und fragte lauernd: »In übertragenem Sinne, oder rangmäßig?«

Rowarn wand sich. »Gewissermaßen ... beides ... an der ... äh ... rechten ... Seite.«

»Wo genau?«

»... neben ihm.«

Olrig riss die Augen auf. Man konnte den erfahrenen Zwerg tatsächlich einmal überraschen. Dann meinte er trocken: »Sie wird dich umbringen.« Kopfschüttelnd ließ er Rowarn stehen.

Rowarn atmete ein wenig auf. Olrig hatte es recht gut aufgenommen. Die erste Hürde hatte er also hinter sich gebracht. Die zweite würde er auch noch schaffen. Morwen war schließlich eine kluge Frau. 

Also erkundete Rowarn im letzten Licht des Tages die nähere Umgebung des Lagers und blieb stehen, als er eine vertraute Stimme von einer Gruppe Zelte hörte, in deren Mitte gerade ein Feuer entfacht worden war. »Rowarn!«

Er wandte den Kopf und winkte. »Rayem!«

Der Wirtssohn kam zu ihm, und sie umarmten sich, ohne sich bewusst zu sein, dass sie seit den Kindertagen Feinde gewesen waren. Doch das war in einem anderen Leben gewesen. Jetzt waren sie Kameraden … und Freunde.

»Du siehst wohlauf aus!«, stellte Rowarn fest. Rayem war neu eingekleidet und wirkte gesund und kräftiger denn je.

»Das kann ich zurückgeben.« Rayem wies auf die eingebundene Hand. »Wir hörten natürlich davon und waren schon voller Sorge, als die Schar ohne dich, Olrig und den Fürsten eintraf.« Er forderte Rowarn mit einer Geste auf, ihm zu folgen. »Du musst uns alles erzählen! Wir haben frischen Hasen-Eintopf, Nussbrot und kandierte Früchte, und außerdem Bier.«

Das ließ Rowarn sich nicht zweimal sagen; ihm knurrte der Magen gehörig, und er freute sich, seine Freunde wiederzusehen: Da waren Lohir Sommersprosse, Kalem Schwarzzahn, Ravia die Blaue und einige andere vertraute Gesichter, die ihn alle gleichermaßen willkommen hießen. Sogar Jelim war mit dabei, und einige Zwerge, mit denen sie bereits Freundschaft geschlossen hatten.

So saßen sie fröhlich bis in die Nacht beisammen, erzählten sich gegenseitig ihre Abenteuer und aßen und tranken, bis nichts mehr da war. Schließlich erhob Rowarn sich. »Ich sollte jetzt besser schlafen gehen. Und ihr auch, denn ich denke, wir werden allesamt viel zu tun bekommen.«

Sie ließen ihn ungern gehen, wandten sich dann aber wieder dem Feuer zu und fingen an zu singen, während er sich auf den Rückweg zu seinem Quartier machte. Zum Glück stach das große, erleuchtete Versammlungszelt gut sichtbar aus der Masse hervor, sonst hätte Rowarn sich wahrscheinlich verirrt. In der Nacht sah alles ganz anders aus.

Sein Zelt war mit einer Liege, einem Stuhl, einer Wäschetruhe, Halterung für Rüstung und Waffen und einigen Teppichen ausgestattet, matt beleuchtet von einer Öllampe. Es war sein eigenes kleines Reich, und das Bett sah sehr einladend aus. Die Reise war anstrengend gewesen, die eigentlichen Strapazen würden aber erst beginnen. Es war an der Zeit, sich wenigstens für eine Nacht auszuschlafen und zu erholen. 

Noch wusste Rowarn nicht, mit welchen Aufgaben Noïrun ihn betrauen würde. Eine Weile schwankte er, ob er die Waffen ablegen und sich entkleiden sollte, dann musste er über sich selbst schmunzeln. Lächerlich, solche Gedanken. Er warf alles von sich und streckte sich behaglich. Die Nacht war mild, der Sommer nicht mehr fern. Das Beste, was man tun konnte, um sich von einem anstrengenden Tag zu erholen: alles abzulegen, einschließlich der Gedanken, und Körper und Geist ein wenig Luft zu gönnen. 

Er wickelte die Hand aus dem Verband und betrachtete sie. Dumpf pochte der Schmerz, aber erträglich, nur noch dann spürbar, wenn er daran dachte. Außerdem sah die Wunde tatsächlich schon besser aus. Hie und da platzte bereits schwarz verkohlter Schorf ab und machte rosiger Haut darunter Platz. 

Rowarn strich die Salbe auf den Handrücken, die Isa ihm mitgegeben hatte, dazu einige Kräuter, und wickelte die Hand mit einem neuen Tuch ein. Vorsichtig bewegte er die Finger, schloss sie probeweise um das Heft seines Schwertes. Ja, bald war sie in Ordnung, und er konnte sie wieder benutzen. Erleichtert löschte Rowarn das Licht und legte sich hin.

Eine Weile lag er wach und lauschte beunruhigt in die Dunkelheit. Die Lagergeräusche verklangen zusehends, je weiter die Nacht voranschritt. Hie und da muhte einmal eine Kuh, schläfrige Stimmen wünschten sich eine Gute Nacht, aber bald regte sich nichts mehr. Rowarn schlummerte ein.

Er erwachte schlagartig, als er jemanden in seiner Nähe spürte, genauer gesagt, über sich. Morwen.

Sie hielt ihm ein Messer so nachdrücklich an die Kehle, dass er sich gar nicht erst rührte. Mit den Knien drückte sie seine Arme nach unten, ihr Körpergewicht presste seinen Brustkorb tief in die Liege.

»Was hast du dir dabei gedacht?«, zischte sie.

»K-kann nicht ...«, krächzte er. »K-keine Luft ...«

»Keine Ausrede!« Sie drückte noch ein bisschen fester zu. Erst, als er ernsthaft nach Luft rang und seine Bewegungen fahriger wurden, nahm sie den Druck etwas von ihm, doch dafür spürte er jetzt die scharfe Schneide an seiner Haut.

»Ich schulde ihm so viel«, stieß Rowarn keuchend hervor. »Ich war so lange mit ihm unterwegs, ich will bei ihm bleiben und weiter lernen. Und du hast mir den Schwur abgenommen ...«

»Scheißkerl«, fauchte sie. »Komm mir nicht so!«

»Ich will dich nicht verdrängen«, fuhr er fort und versuchte zu schlucken, aber sein Adamsapfel blieb unter der Schneide hängen, und er schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft. »Aber das ist der Platz, an den ich gehöre. Und du bist doch viel lieber unmittelbar im Einsatz. Du bist zwar kein Hauptbefehlshaber wie Olrig, der sich als Noïruns Stellvertreter nicht nur um seine Zwerge, sondern um das gesamte Heer kümmern muss. Aber du hast alle Qualitäten, ein guter Befehlshaber einer Einheit zu sein, die direkt deine Befehle ausführt und schnell handelt. Hundert Mann unter deinem Kommando ... überleg doch mal ...«

Sie stutzte und verharrte. »Verdammt, du hast recht«, entfuhr es ihr verblüfft. »Worüber rege ich mich auf? Da wird er nicht mehr mich schikanieren, sondern dich, und stattdessen werde ich den anderen befehlen!«

»Und ... und in der Garde bleibst du schließlich auch ...«, fügte er hinzu. »Du hast nach wie vor denselben Platz ... außerdem bist du immer noch ... seine Tochter ...«

»Noch keine Frau hat so eine große Einheit kommandiert«, überlegte Morwen und nahm endlich das Messer von Rowarns Kehle. Er rang nach Luft und schluckte hektisch. »Deine oder seine Idee?«, wollte sie wissen.

»Seine.«

»Aber nur, weil du ihn darauf gebracht hast. Du bist ein Fuchs, Rowarn«, flüsterte sie. In ihre Augen trat ein Glitzern, das ihn fast noch mehr beunruhigte als das Messer. »Du solltest dich in Grund und Boden schämen.«

Bevor er etwas sagen konnte, rammte sie das Messer auf den Stuhl neben seinem Bett und presste die Lippen auf seinen Mund. Er wurde völlig erschlagen von der Leidenschaft und saugenden Gier, mit der sie ihn küsste. Als sie anfing, ihm das Nachthemd und die Leibhose vom Leib zu fetzen, erwachte sein Feuer und entfesselte ihn rasch, und er zerrte ihr nicht minder ungeduldig die Kleidung herunter. Wie Kämpfende ineinander verschlungen, fielen sie von der Pritsche und rollten über den mit Teppichen ausgelegten Boden, alle Verletzungen völlig außer Acht lassend, bis Morwen wieder obenauf kam und ihn festhielt. Rowarn war ihr völlig ausgeliefert und gab sich ihr stöhnend hin, bis die Lust sie ebenfalls überwältigte. Sie sank auf ihn herab, in seine Arme, und sie rollten wieder über den Boden, ineinander verschmolzen, den Höhepunkt verzögernd und ausdehnend, immer wieder neu beginnend, bis an die Grenze der Erschöpfung, ehe sie sich endlich gegenseitig Erfüllung spendeten. 

Ein letztes Mal spürte er dann ihre weichen Lippen auf seinem Mund, als sie wisperte: »Dies oder dein Tod, einen anderen Ausweg gab es nicht, denn irgendwie musste ich mich abreagieren.« Ihr Atem war immer noch heiß und schnell, und er sah ihr glühendes Gesicht über sich.

»Ein Glück für mich, dass es so ausging«, murmelte er und strich ihr eine verschwitzte Strähne aus der Stirn.

»Ja, wäre bedauerlich gewesen, dich aufzuschlitzen«, schnurrte sie. Sie knabberte an seinem Ohr, ihre Hände glitten über seinen schweißglänzenden Körper. »Ich habe dies vermisst, und ich werde es für immer vermissen. Aber es war das letzte Mal, sei dir dessen bewusst, Rowarn. Ich als Befehlshaberin einer Einheit, und du an Noïruns rechter Seite, können – dürfen – wir uns dieses Vergnügen nie mehr leisten.«

»Ich weiß«, sagte er leise.

Sie stand auf und fing an, sich anzuziehen. Er sah ihr schweigend dabei zu. Sie sprachen kein Wort mehr, bis sie schließlich in die Dunkelheit hinausschlüpfte.



Rowarn war nun schon fast daran gewöhnt, seine ritterliche Kleidung zu tragen, und in seiner neuen Position war es auch von Bedeutung, dass er darauf achtete. Als er zu den Koppeln ging, wo er Windstürmer vermutete, überquerte er dabei zur Abkürzung ein Übungsviereck – und fand dort Moneg und Gaddo. Moneg fing gerade mühsam an, seinen zerschlagenen Körper zu bewegen, und Gaddo war natürlich wie stets an seiner Seite. Monegs Gesicht schillerte noch grünblau verschwollen, sein gebrochener Kiefer war eingebunden, und die zertrümmerte Nase sah aus wie eine Knollenwurzel. 

Rowarn war sich der Blicke bewusst, die ihm rundum zugeworfen wurden. Es kam schließlich nicht alle Tage vor, dass ein namenloser junger Mann aus irgendeinem unbedeutenden Tal so schnell die Ritterwürde erhielt – und den Platz an der Seite des Heermeisters. Er zweifelte nicht daran, dass es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen hatte, und er wusste, dass er seinen Rang deutlich machen musste, damit er auch respektiert wurde. Dies musste sehr schnell und unmissverständlich geschehen. Daher kamen ihm diese beiden gerade recht.

Zielstrebig schritt er auf Moneg und Gaddo zu, obwohl ringsum genug Platz war, und fühlte Dutzende Augenpaare auf sich gerichtet. Die beiden hielten inne und musterten ihn misstrauisch, als er vor ihnen stehenblieb. »Geht mir aus dem Weg«, sagte er. Er legte die linke Hand lässig an den Knauf seines Schwertes. Über die aufkeimende Wut und den glühenden Hass in den Augen der beiden blickte er kühl hinweg und machte durch seine Haltung deutlich, dass er keinesfalls nachgeben würde. Viel Zeit würde er ihnen auch nicht mehr gewähren. Das machte er deutlich, indem er spielerisch mit der linken Hand ein wenig am Schwertgriff ruckelte.

Schweigend, die Augen zu Boden gerichtet, traten sie beiseite.

Rowarn setzte vergnügt den Weg fort.

Der Schmied nahm Windstürmer gerade in Augenschein und eröffnete Rowarn, dass er den Falben beschlagen würde. »In der Schlacht sind Eisen unerlässlich«, machte er auf Rowarns Protest hin deutlich.

»Aber das kennt er nicht ...«

»Er wird sich daran gewöhnen.«

Der Schmied kannte sich mit seiner Arbeit aus, und mit Pferden. Das musste Rowarn anerkennen, während er kritisch zusah.

Windstürmer war so verdutzt, was da mit ihm geschah, dass er brav alles mit sich machen ließ. Anschließend stakste er zuerst ein wenig unsicher und hob die Beine übertrieben an, aber bald hatte er sich daran gewöhnt, und Rowarn konnte mit den Übungen beginnen.

Und da begegnete er Tamron.



»Setz die Lanze höher an und nimm sie direkt vorn am Handschutz, sonst brichst du dir bei dem Stoß, den du vorhast, den Arm«, erklang eine Stimme hinter Rowarn. Der hielt Windstürmer augenblicklich an und drehte sich um. Die Stimme, die er gehört hatte, klang angenehm und weich, fast wie ein Gesang. Sie berührte ihn tief und ließ ihn an einen Zwielichttag im Wald denken, kurz vor der Sonnenwende, wenn die alten Mächte zwischen den Bäumen wandelten. Diese Stimme war alt und weise, voll gelassener Harmonie.

Ein Mann warf seinen Schatten auf den staubigen Boden des Areals, groß und schlank, schmal wie Rowarn selbst. Seine Haut war bleich und von nichtmenschlichem Glanz, die fast hüftlangen Haare silbrigweiß. Seine Augen leuchteten im Blau des Himmels kurz vor der Abenddämmerung, und das strahlende Licht Lúvenors lag in ihnen.

Rowarn beeilte sich, von seinem Pferd herunterzukommen, und er verneigte sich vor dem Mann, der ihn um einen halben Kopf überragte. »Ihr ... seid ein Unsterblicher, nicht wahr?«, flüsterte er.

Der Mann lächelte. »Ich bin Tamron«, stellte er sich vor. »Und gerade im rechten Moment eingetroffen, wie mir scheint.«

»Tamron!« Rowarns Gesicht zeigte Staunen. »Meine Muhmen erzählten mir von Euch. Ihr seid ein großer Held, doch galtet Ihr lange Zeit als verschwunden ...«

»Du schmeichelst mir, junger Ritter Rowarn«, wehrte der Unsterbliche ab. »Viele mächtige Helden gelten inzwischen als verschwunden, doch sind die meisten Gerüchte übertrieben, und man sollte nichts auf sie geben. Ich hätte daher gehofft, man würde mich nicht mehr an meinen vergangenen Taten messen, die so groß nicht gewesen sein können, wenn wir uns immer noch im Krieg befinden.«

Rowarn dachte an die Worte von Halrid Falkon im Freien Haus: Du hast viele mächtige Verbündete, mehr als du ahnst ...

»Und Ihr seid gekommen, um uns zu helfen ...«

»Sicherlich. Wie so viele bin auch ich an das Tabernakel gebunden. Ich habe nur leider lange bis hierher gebraucht, da ich mich in fernen Gefilden aufhielt. Ein Glück, dass ich nicht zu spät bin.« Tamron hielt Rowarn seine Hand hin, in der ein Paar neue Handschuhe lag. »Diese hier soll ich dir von Fürst Noïrun überbringen, wegen deiner verletzten Hand, und gleichzeitig soll ich dich tadeln, weil du keinen ausreichenden Schutz trägst.«

»Wie kann er denn ...« Rowarn brach ab. »Ich gewöhne mich nicht daran, dass er immer alles weiß.« Er nahm die Schafthandschuhe in Empfang und streifte sie über. Sie passten hervorragend, und tatsächlich konnte er mit der rechten Hand nun nahezu schmerzfrei greifen.

»Vielleicht kennt er dich einfach nur gut.« Der Unsterbliche lächelte breit. »Und wenn ich bitten darf, junger Ritter: Keine Förmlichkeiten. Genau genommen müsste ich mich vor dir verneigen, da ich nur den Rang eines freien Soldaten habe. Nicht mal den eines Söldners, denn ich lasse mich nicht bezahlen.«

»Einverstanden«, sagte Rowarn verdutzt. »Auch wenn es mir nicht leicht fällt.«

»Nun, dasselbe gilt für mich! Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass ein Jüngling wie du zum Ritter geschlagen wird. Doch nach allem, was ich über dich hörte, wundert es mich nicht.« Tamron wies auf Windstürmer. »Ich habe euch außerdem beobachtet. Du und dein Pferd, ihr bildet eine Einheit. Ihr seid beide hochtalentiert und in der Kriegskunst weit gereift. Das findet man nicht oft. Noïrun muss sich glücklich schätzen, einen Helden wie dich gefunden zu haben.«

Rowarn war peinlich berührt. »So ist es ganz und gar nicht. Ich bin weit davon entfernt, ein Held zu sein«

»Höchstens einen halben Schritt.« Tamron musterte ihn neugierig. »Offen gestanden, könnte man dich für einen von uns halten«, meinte er. »Zu welchem Volk gehörst du?«

»Ich kenne meine Herkunft nicht«, murmelte Rowarn. »Ich wurde in Weideling aufgezogen, im fernen Inniu.«

Der Unsterbliche horchte auf. »Von den Velerii? Schneemond und Schattenläufer haben diese Gestade gar nicht verlassen, wie es heißt?«

Rowarn schüttelte den Kopf, unwillkürlich musste er grinsen. »Wie es scheint, befassen sich auch Unsterbliche mit Gerüchten. Meine Muhmen sind wohlauf und gedenken nicht, Weideling so schnell aufzugeben.«

»Darüber musst du mir unbedingt mehr erzählen, junger Rowarn, denn Geschichten von alten Gefährten zu hören interessiert mich natürlich sehr.«

»Ihr kennt euch?«

Tamron nickte. »Ja, aus fernen Tagen. Schon ... ah, gewiss über tausend Jahre. Doch fast ebenso lange haben wir uns auch aus den Augen verloren.«

Rowarn starrte ihn fasziniert an. Es war immer eine besondere Sache, Angehörige der Alten Völker zu treffen, und die Begegnung mit dem Annatai würde er sein Leben lang nicht vergessen. Aber ein Unsterblicher, das war im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreiblich. Diese Ausstrahlung, das Licht in seinen Augen ... Es war deutlich zu spüren, dass er kein normaler Sterblicher war, aber auch keiner der Alten. Die Unsterblichkeit umgab ihn mit einer besonderen, einzigartigen Aura, die mit nichts zu vergleichen war. Tamron war zudem einer seiner Lieblingshelden der Kindheit, und Rowarn hätte niemals geglaubt, dass er ihm jemals leibhaftig begegnen würde. Und dann so ... unkonventionell, als wären sie Gleichgestellte.

»Wir sollten besser weitermachen«, sagte Tamron. »Der Heermeister ist ein strenger, fordernder Mann, und das zu Recht. Um gegen einen Feind wie Femris zu bestehen, müssen wir doppelt so gut sein wie er. Schwatzen können wir heute Abend.«

»Wir?« Rowarn war überrascht, zugleich beschleunigte sich sein Puls.

Der Unsterbliche nickte lächelnd. »Noïrun hat mich gebeten, dich im Umgang mit dem Schwert zu unterstützen, und mir kann etwas Übung keinesfalls schaden.«



Und so bekam Rowarn einen neuen Lehrmeister, und er lernte viel in jenen Tagen, während seine Hand weiter heilte. Obwohl ihm oft alle Muskeln und Gelenke wehtaten, war er unermüdlich und voller Begeisterung dabei.

Tamron zeigte sich trickreich mit dem Schwert. Er kämpfte ganz anders als Noïrun, wobei Rowarn nicht hätte sagen können, wer von beiden besser war. Der junge Ritter lernte ganz neue Facetten des Kampfes zu Pferde, aber auch Mann gegen Mann kennen. Nicht ein einziges Mal gelang es ihm, dem Unsterblichen das Schwert aus der Hand zu schlagen, oder ihn auch nur zu bedrohen.

»Wenn ich in den vergangenen Jahrhunderten nichts gelernt hätte und leicht zu überwältigen wäre, hätte ich kaum so lange überlebt«, lachte Tamron, als Rowarn sich wieder einmal geschlagen geben musste und daraufhin wütend das Schwert auf den Boden schleuderte.

»Ich sollte meine Ritterfahne abgeben«, brummte der junge Nauraka und ließ sich neben die Waffe fallen. Der Schweiß rann in Strömen, und er keuchte. 

»Ich weiß nicht, was du willst.« Tamron hielt ihm versöhnlich die Hand hin, und als Rowarn sie ergriff, zog er ihn hoch. »Du bist vielseitig. Du kannst mit der Lanze umgehen, Speere werfen und selbst deine Pfeile treffen ins Ziel.«

»Wenn es so groß ist wie eine Scheunenwand ...«

»Sei nicht so ungeduldig. Ich weiß nicht, was dich antreibt, so verbissen wie du bist. Aber du scheinst nicht zu erkennen, dass du schon bald auf einer Stufe mit Noïrun stehen wirst, und der ist der begabteste Kämpfer, den ich kenne.«

»Nicht du?« Rowarn rieb sich den Schweiß von der Stirn.

Tamron schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm Jahrhunderte an Erfahrung voraus, nicht aber Talent. Auf eine Probe mit dem Schwert würde ich es nicht ankommen lassen wollen.« Er klopfte den Staub von Rowarns Schultern. »Und ich verstehe mich nur aufs Schwert, auf keine anderen Kriegskünste. Also hast du mir bereits eine Menge voraus, Rowarn. Selbstkritik ist gut, dann wirst du weiterhin vorsichtig und nicht übermütig sein. Aber übertreib’s nicht.«

»Jawohl, Meister.« Rowarn hatte sich wieder einigermaßen gefangen und grinste jetzt. Er massierte und lockerte die Schultern und griff nach seinem Schwert. »So schnell gebe ich nicht auf.«

Der Unsterbliche schmunzelte und ging in Stellung.



Auch abends waren sie oft noch zusammen. Tamron schien Gefallen an seiner Gesellschaft zu finden, weil Rowarn bei den Velerii aufgewachsen war, und sie hatten sich gegenseitig viel zu erzählen. So viel hatte Rowarn noch nie in seinem Leben gelacht. Manchmal waren sie unter sich, manchmal aber nahm Tamron eine ganze Zuhörerschaft gefangen, vor allem, wenn er zu singen anfing. Sicherlich gab es keine wundervollere Stimme in ganz Valia, und trinkfest war er außerdem. Innerhalb kürzester Zeit hob sich die Stimmung im Lager bis zum letzten Fußsoldaten, und alle waren voller Ansporn, Hoffnung und Ehrgeiz, den Sieg zu erringen. Irgendwann gesellte sich Olrig dazu, und so wechselten sie sich mit Liedern und stimmungsvollen Gedichten ab. Rowarn staunte nicht schlecht, als er irgendwann den Fürsten im Hintergrund entdeckte, auch seine Miene war gelöster als sonst, wenngleich er sich nicht unmittelbar beteiligte.

Einmal, kurz bevor sie zu vorgerückter Stunde zu den Zelten gingen, kam die Rede auf Königin Ylwa. Tamron hatte eine Geschichte aus einem früheren Kampf gegen Femris erzählt, der wie jetzt auch vor den Toren Ardig Halls stattgefunden hatte. Doch damals hatte das Schloss noch gestanden, und die Hüterin des Tabernakels war am Leben gewesen. »Ja, ich hatte den Vorzug, Königin Ylwa begegnen zu dürfen«, antwortete der Unsterbliche auf Rowarns Frage. »Nicht viele kannten sie, es war eine besondere Vergünstigung.«

»Wie war sie?«, wollte Rowarn aufgeregt wissen. Er wusste, dass auch Olrig die Hüterin gekannt hatte. Der Kriegskönig hatte allerdings nicht viel dazu sagen wollen, aber seine Augen hatten einen ganz besonderen Glanz angenommen.

»Eine außergewöhnliche Frau«, sagte Tamron, und auch in seine Augen trat ein Leuchten. »Sehr willensstark, dabei aber voller Sanftmut. Und Humor, sie lachte gern und viel. Sie sprühte vor Energie, war klug und gebildet, und ihr Witz besaß einen kräftigen Biss.« Er lächelte versonnen. »Und sie war schön, Rowarn. Wie ein Stern in der Nacht, so unerreichbar und anbetungswürdig. Ich glaube, es gab keinen Mann, der sich nicht im Augenblick der Begegnung in sie verliebte.«

Rowarns Herz klopfte laut. So viel, so Wundervolles über seine Mutter zu erfahren machte ihn glücklich, und zugleich schmerzte es. »Du auch?«

»Natürlich.« Tamron blickte zum Himmel. »Ich glaube, sie war die einzige Frau, die ich je wirklich geliebt habe.« Er winkte ab. »Genug der vergangenen Romantik, mein junger Freund, es ist spät, und wir brauchen beide Schlaf.«

Schlaf fand Rowarn in dieser Nacht allerdings kaum, zu viel wirbelte ihm durch den Kopf. Tamrons Worte gingen ihm nicht mehr aus dem Sinn. Sollte es möglich sein ... Die Art, wie er über Ylwa gesprochen hatte, das Strahlen in seinen Augen ... Es wäre möglich, dass Tamron, ohne dass jemand davon erfahren hätte, in den vergangenen Jahrzehnten hin und wieder in Ardig Hall gewesen war. Vielleicht war er in der Friedenszeit zu Ylwa zurückgekehrt, und sie hatte ihn nicht abgewiesen ...

Er hat sie geliebt, dachte Rowarn. Und er ist ein Unsterblicher, er hatte viel Zeit für seine Werbung. Er ist dadurch geduldiger als jeder andere Mann. Vielleicht hat seine Hartnäckigkeit meine Mutter eines Tages überzeugt. Meinen Muhmen zufolge war Ylwa eine junge Frau, sie wollte sicherlich nicht immer allein leben. Solange der Frieden herrschte, hatte sie Zeit, sich einmal auf sich selbst zu besinnen, an sich zu denken. Und wenn Tamron in diesem Moment da war ... er ist ein gutaussehender Mann, und er versteht es, andere zu bezaubern. Warum sollte es unmöglich sein?

In der nächsten Zeit fing Rowarn an, Tamron genau zu beobachten. Dieser hatte zu Beginn festgestellt, der junge Ritter würde beinahe so aussehen wie ein Unsterblicher. Und es stimmte, irgendwie sahen sie sich ähnlich. Die hohe, schmale Gestalt, die helle Haut. Und nun, da er darauf achtete, entdeckte Rowarn immer mehr Gemeinsamkeiten und Vorlieben, sogar Gesten, die ihm vertraut waren.

Bald ließ es ihm keine Ruhe mehr. Die zuerst nur vage Vermutung, in Tamron seinen Vater gefunden zu haben, wurde immer wahrscheinlicher. Es passte so viel zusammen, auch dass der Unsterbliche jetzt hierher zurückgekehrt war. Natürlich musste er noch einmal für Ardig Hall kämpfen, nachdem die Königin und ihr Schloss gefallen waren!

Wer weiß, was damals geschehen war, weshalb Königin Ylwa Tamron nichts von der Schwangerschaft gesagt hatte. Vielleicht hatten sie einen Streit gehabt, vielleicht hatte er sie auch schon verlassen, bevor sie von dem neuen Leben in sich gewusst hatte. Es gab viele Möglichkeiten.

Aber wenn es so war, wenn Tamron tatsächlich Rowarns Vater war, dann musste er es erfahren. Und Rowarn musste ebenfalls Gewissheit erhalten, sonst würde er keinen Frieden finden und innerlich noch zerrissener werden, als er es ohnehin schon war. 

Weitere Tage quälte Rowarn sich mit der Unentschlossenheit. War es wirklich richtig, sich zu offenbaren? Wie würde Tamron reagieren? Oder ... was wäre, wenn Rowarn sich täuschte? Wenn er sich zu sehr in Wunschdenken verloren hatte?

Nein. Er konnte sich nicht irren! Es konnte kein Zufall sein, daran glaubte er niemals. Da waren zu viele Übereinstimmungen, und Rowarn fühlte sich auf eine Weise zu Tamron hingezogen, die anders war als seine Zuneigung zum Fürsten. Der junge Mann spürte ein Band zwischen ihnen, eine starke Verbindung, die über normale Freundschaft hinausging. Und die der Unsterbliche zu teilen schien, denn warum sonst sollte er sich so viel mit Rowarn abgeben, außerhalb der Unterrichtszeit lange Unterhaltungen mit ihm führen? Spürte er, dass zwischen ihnen Blutsbande bestanden? Wusste er es vielleicht sogar bereits und bemühte sich deswegen so sehr um Rowarn?

Nun, Rowarn konnte sich winden, wie er wollte, sich im Kreis drehen und die Sterne um Rat fragen – es lief immer aufs selbe hinaus: Er musste es zur Sprache bringen, sonst fand er keine Ruhe mehr.

Eines Abends daher, als sie sich etwas zu essen holten, fragte Rowarn: »Tamron, kann ich dich ... vertraulich sprechen?«

»Aber natürlich«, antwortete der Unsterbliche freundlich. »Wir sind bekannt dafür, Geheimnisse hüten zu können.«

»Oh, ein richtiges Geheimnis ist es nicht«, meinte Rowarn, während sie sich einen Platz abseits des Treibens suchten. »Eher sind es Fragen, auf die ich Antworten brauche, und weil du ... ich meine, als Unsterblicher ... du weißt sehr viel.«

»Also dann«, sagte Tamron auffordernd, »reden wir.«

Rowarn nahm den Faden dankbar auf und fing ohne Umschweife an, sonst hätte er es sich vielleicht doch anders überlegt: »Wann hast du Königin Ylwa zuletzt gesehen?«

»Darüber müsste ich nachdenken«, sagte Tamron. »Es muss eine Weile her sein. Warum interessiert dich das?«

Rowarn schluckte. »Ich kannte sie nicht«, sagte er leise. »Aber es ist so ... ich ... ich bin ihr Sohn.«

Tamron ließ fast den Teller fallen, und zum ersten Mal erlebte Rowarn ihn überrascht, fast ... schockiert. »Sag das noch mal.«

»Es ist wahr.« Rowarn nickte bekräftigend. »Sie hat mich in Weideling geboren, und die Velerii zogen mich auf. Ihr Weißer Falke ... hat jedes Jahr nach mir gesehen.«

»Das ist … kaum zu glauben«, stieß Tamron hervor und schüttelte den Kopf. »Jetzt brauche ich was zu trinken.« Er stellte den Teller ab und griff nach dem Bierkrug. »Wenn Olrig noch etwas von seinem Ushkany hätte, würde ich den mit Dankbarkeit annehmen.«

Rowarn schob den Teller beiseite, nur um irgendetwas zu tun, rührte sein Bier aber nicht an. Er spürte das wütende Aufbäumen seines Magens.

»Verzeih.« Der Unsterbliche legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich hätte mich nicht so gehen lassen dürfen. Aber seit Jahrhunderten galt Ylwa als jungfräuliche Königin, die nur unter ganz bestimmten Umständen einem Mann erlaubte, die Schwelle von Ardig Hall zu überschreiten. Ich hätte nie … gedacht …« Er musterte Rowarn, und seine Miene fiel endgültig auseinander, als er den verzweifelten Ausdruck auf dem jungen Antlitz erkannte. »Oh. Nun tut es mir zweifach leid, Rowarn. Ich ... ich habe jetzt wohl eine verborgene Hoffnung auf sehr rüde Weise zerstört.«

»Das ist ja nicht deine Schuld«, murmelte Rowarn mit brüchiger Stimme. »Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen. Ich habe geglaubt, aus vielen Einzelteilen ein Bild zusammenzusetzen ...«

Tamron rieb sich das Gesicht, er wirkte jetzt ziemlich erschüttert. »Welche Ehre für mich«, sagte er leise. »Und verstehe dies nicht als billigen Trost: Ich wäre sehr gern dein Vater. Du weißt nicht, wie oft ich mir vorstellte ... Manchmal, wenn ich allein unter dem Sternenhimmel wanderte, hatte ich ... ganz ähnliche Gedanken wie du. Eine Familie zu haben, anstatt immer einsam und ruhelos umherzuziehen. Und natürlich dachte ich dabei oft an Ylwa. Ich wünschte deshalb für uns beide, es wäre anders. Denn du hast richtig erkannt, wir werden beide von etwas in unserem Innern getrieben, das uns zerreißt, und das uns dadurch verbindet. Es hätte alles verändern können. Aber ... wer auch immer das Herz deiner Mutter erobern konnte, mir ist es nicht gelungen.«

Rowarn blickte ihn an. Tiefes Leid umwölkte den Glanz in seinen Augen, der dem Leuchten des Unsterblichen so ähnlich war. Wie sie beide so niedergeschmettert dasaßen, schmal und hellhaarig, hätte man sie in diesem Moment wirklich für Vater und Sohn halten können. »Verrate es niemandem, bitte.«

»Natürlich nicht. Kein Wort, Rowarn. Es ist gut, dass du bisher geschwiegen hast, denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre es eine Katastrophe, wenn Femris davon erführe.«

»Kennst du ... ihn?«

»Niemand kennt ihn wirklich, ich glaube, nicht einmal sein eigener Heermeister. Er zeigt sich nur selten. Ich kämpfte schon Mann gegen Mann mit ihm, doch wir hatten beide unsere Visiere geschlossen, sodass ich zumindest sagen kann, dass er mich ebenso wenig kennt.«

Rowarn rieb sich unbewusst den Verband an seiner Hand, unter dem es seit einiger Zeit ziemlich juckte. »Und was ist mit Nachtfeuer?«

»Der Dämon? Was hat der ...« Über Tamrons Gesicht zuckte plötzliche Erkenntnis. »Verstehe. Deswegen also bist du hierhergekommen: Um Rache zu nehmen!«

Rowarn sah still zu Boden.

Eine Weile schwieg auch der Unsterbliche. Dann sagte er: »Lass uns einen Handel schließen, Rowarn: Wir wollen Seite an Seite kämpfen, wenn die Schlacht beginnt. Wir werden Femris den Splitter entreißen; ich weiß, zusammen können wir es schaffen. Und dann, wenn dies erledigt ist, werde ich dir helfen, Nachtfeuer ausfindig machen, ihn zu stellen und seiner gerechten Strafe zuzuführen. Dies soll ein Bund innerhalb dieses Bündnisses ein, der uns gegenseitig Kraft und Mut spenden wird, und den Willen, nicht aufzugeben, bis wir unser Ziel erreicht haben.«

Rowarn sah auf, und zum ersten Mal, seit er die Wahrheit über seine Mutter erfahren hatte, war nahezu alle Qual aus seinen Augen verschwunden, und Hoffnung strahlte aus ihnen. Er hielt Tamron die Hand hin. »Einverstanden. Dieser Bund heftet uns aneinander und verpflichtet uns, einer für den anderen einzustehen. Solange, bis der Splitter nach Ardig Hall zurückgekehrt und Nachtfeuer ausgelöscht ist.«

»So möge es sein«, stimmte Tamron zu und drückte seine Hand.