Kapitel 52

Der Siebte Splitter


Der Schlachtenlärm blieb draußen, als das große Portal hinter ihnen zufiel. Stille umfing sie, schattenloses Zwielicht. Der versteinerte Körper des Zwiegespaltenen lag immer noch auf dem Altar, das Schwert steckte in seiner Brust, seine Hände umklammerten die drei Bruchstücke. Langsam gingen sie auf den Altar zu. Als er den Mosaikboden mit dem großen Bild des Tabernakels betrat, hatte Rowarn plötzlich das Gefühl, als würde sich etwas verschieben. Nur für einen kurzen, irritierenden Moment glaubte er, sein Fuß würde anderen Boden betreten, doch die Umgebung veränderte sich nicht. Scheinbar nicht. Rowarns Blick glitt zur Decke hoch. »Wir sind im Tabernakel«, flüsterte er.

»Wie meinst du das?«, fragte sein Vater.

»Aber siehst du das denn nicht? Das hier ist ein Tempel. Schon beim letzten Mal ist mir das aufgefallen. Und du hast mir selbst gesagt, dass der Turm etwas Besonderes ist – er saugt jede Magie in sich auf. Andererseits setzt er sie aber auch ein, indem er das Schutzfeld für die Splitter erschuf. Dubhan, die Lichtlose, ist das Gegenstück zu dem Tempel im Meer, in dem das Tabernakel ursprünglich aufbewahrt wurde. Wir sind von purer Magie umgeben, und was an Magie in uns ruht, verbindet sich soeben mit dem Turm. Ich glaube, wir befinden uns jetzt nicht mehr auf Waldsee, sondern in den Sphären, sogar noch jenseits des Reiches der Dämonenfrauen. Dadurch, dass wir den Mosaikboden betreten haben, wurden wir entrückt. Wir sind für die anderen jetzt nicht mehr erreichbar. Und Femris ist hier, überall, nicht nur versteinert dort auf dem Altar.«

»Verlier nicht den Verstand, Junge«, mahnte der bodenständige Schattenluchs, der zurück zum Portal ging und sich dort aufbaute.

»Aber Rowarn hat recht«, erwiderte Arlyn. »Ich kann Femris auch spüren. Warum zeigt sich sein Aurenkörper nicht? Kannst du ihn nicht sehen, Angmor?«

»Nein. Wie immer.«

»Aber warum sollten wir in die Sphären versetzt worden sein?«, rief Graum ratlos.

»Weil hier göttliche Kräfte am Werk sind«, wisperte Rowarn. Er steckte Luvian, das Schwert von Sonne und Mond, ein. »Uns erwartet kein Kampf. Entspanne dich, Graum, wir werden nicht angegriffen. Nun erfüllt sich die Bestimmung. Darum ist auch kein Wächter mehr hier, weder im Saal noch draußen in den Burggängen.«

»Aber was, wenn Femris ...«

»Was kann er uns tun? Er ist verwundet. Wenn ich ihn jetzt heile, braucht er all seine Kräfte, um seinen Körper wieder tragen zu können.«

Der Visionenritter wandte sich zu Rowarn um. »Bist du bereit dafür?«, fragte er ruhig. »Ist der Zeitpunkt gekommen? Nur du kannst es wissen, Rowarn, ich sehe dies klar. Und ich sehe auch, dass du recht hast. Wir werden hier nicht angegriffen, und wir sind in den Sphären, außerhalb des weltlichen Geschehens.«

»Wenn ich das geahnt hätte!«, rief Graum. »Und werden wir zurückkehren, Herr?«

»Das weiß ich nicht, Graum.«

»Aber ...«

»Hier bin ich kein Dämon, nur ein Visionenritter. Gebunden an das Tabernakel. Selbst wenn ich wollte, ich könnte diesen Ort nicht mehr verlassen. Genauso wenig wie Femris und Rowarn.«

»Und ich«, fügte Arlyn hinzu. »Ich spüre ebenfalls, dass ich nicht mehr fortgehen kann. Es beginnt bereits.«

Zum ersten Mal wirkte der Schattenluchs erschüttert. »Aber was wird aus mir?«, flüsterte er.

Rowarn lächelte. »Du bist das Bindeglied. Der Dämon zwischen den Sphären, die Verbindung zur Welt. Durch dich können wir zurückkehren. Es ist alles so, wie es sein muss.« Er atmete tief durch. »Ich bin froh, dass es jetzt endet, und ... ich lege mein Leben in Erenatars Hände. Ich wünsche mir nur noch, das Richtige zu tun.«



Arlyn begleitete Rowarn zum Altar. »Ich bin die Heilerin. Ich werde das Schwert aus ihm ziehen und ihn ins Leben zurückrufen.«

Er nickte. »Ich nehme die Splitter an mich, sobald die Versteinerung aufgelöst ist.«

Einen kurzen Moment sahen sie sich in die Augen. Dann griff Arlyn nach dem Schwert. Über dem Altar bildete sich plötzlich eine schwarze Wolke, und ein Blitz zuckte daraus hervor und schlug in den Schwertgriff ein. Arlyn lockerte ihre Umklammerung nicht. Ihre Aura erstrahlte in hellem Licht, als sie ihre gesamten Heilkräfte einsetzte. Langsam zog sie an dem Schwert. Weitere Blitze zuckten aus der Wolke, schlugen überall auf dem Altar ein. Zoll für Zoll zog die Heilerin die Klinge aus dem reglosen Leib, während ein Gewitter durch den Tempel tobte. Nach und nach löste sich die Versteinerung des Zwiegespaltenen. Überall, wo die Blitze nun einschlugen, wandelte sich Stein zu atmendem Fleisch. Farbe kehrte in den Körper zurück, Kleidung wurde wieder zu Stoff und Leder, Konturen vertieften sich in dem starren Gesicht.

Als die Hände frei wurden, griff Rowarn zu, entriss den immer noch halb steifen Fingern die drei Splitter und presste sie an seine Brust. Er stieß einen Schrei aus und fiel auf die Knie. Ein Sturm brach aus ihm heraus, als die sechs Bruchstücke zum ersten Mal wieder beieinander waren. Rowarn konnte das heftige Ziehen nicht mehr ertragen, er zerrte seine eigenen Tonscherben unter der Rüstung hervor und barg alle Teile in seinen zitternden Händen. Die Finger krampften sich um das Tabernakel, ein grelles Leuchten drang zwischen ihnen hindurch.

»Bei den Vulkanen von Xhy«, stieß Angmor betroffen hervor. »Es zerstört die Welt. Sie kann so viel Macht nicht in sich aufnehmen, obwohl wir hier oben sind.«

Seine visionären Augen glühten heller denn je, und die Hellsicht schien mit solcher Wucht über ihn zu kommen, dass er die Kontrolle über sich verlor. Sein Mund öffnete sich und mit fremder Stimme brach die sich soeben erfüllende Prophezeiung hervor:

»Und als die Splitter zueinander kamen, war der erste Teil erfüllt, und die Macht des Tabernakels brach ungezügelt hervor. Als Sturm offenbarte sie sich, der über Waldsee hinwegfegte und die Welt in ihren Grundfesten erschütterte. Denn diese Macht stammte aus der Frühzeit, noch bevor es weltliches Leben gab, und daher war sie zu stark. Erdbeben erschütterten die Lande, verheerende Wirbelstürme zogen darüber hinweg. Mensch und Tier, Alte und Mächtige flohen und verbargen sich und erwarteten den letzten Tag und das Erlöschen des Lichts.«

»Nein«, stöhnte Rowarn durch das Tosen und Brausen, »das darf nicht geschehen, das kann nicht Erenatars Wille gewesen sein ... dies ist nicht die Bestimmung ...«

»Ich kann es nur sehen, nicht ändern!«, rief der Visionenritter. »Ich weiß nicht, was über mich kommt, aber ich sehe deutlich, die Welt kann diese Macht nicht auffangen und wird daran zugrunde gehen!«

»Dann ist das der Wille Erenatars? Dass weder Regenbogen noch Finsternis die Welt als Bastion bekommen, indem sie zerstört wird? Das kann ich nicht glauben!«, schrie Arlyn verzweifelt. »Wir haben etwas übersehen! Ich werde das nicht zulassen! Ich heile, ich vernichte nicht!« Und mit einer letzten Kraftanstrengung zog sie das Schwert aus dem Körper des Unsterblichen.

Die schwarze Wolke über dem Altar erlosch, als sich die Wunde in der Brust schloss. Ein Ruck ging durch Femris’ Körper, dann kam er mit einem Schrei zu sich und fuhr mit aufgerissenen Augen hoch. Sein Blick war irrlichternd, als er sich umsah. Und dann entdeckte er Rowarn, der neben dem Altar kniete, die Hände um die glühenden Tabernakelsplitter verkrampft, das Zentrum des tödlichen Sturms, der sich über Waldsee entlud.

»Wahnsinniger!«, schrie der Zwiegespaltene. »Das Tabernakel ist nicht für dich bestimmt! Du hast die Macht in sich verkehrt!«

»Das ist unmöglich«, gab Rowarn schmerzerfüllt zurück. »Der siebte Splitter fehlt immer noch, und es ist nicht zusammengefügt! Ich weiß nicht, was hier geschieht, doch ist es nicht meine Schuld! Ich bewahre die Bruchstücke nur, ich wende sie nicht an!«

»Die sechs Teile müssen den Weg zu dem siebten weisen«, erhob sich Arlyns Stimme über den Sturm. »Dies ist derselbe Wirbel wie im Freien Haus, du bist auf dem richtigen Weg!«

»Aber wir müssen etwas tun, bevor die Welt auseinanderbricht!«, brüllte Graum vom Portal. »Selbst ich kann sehen, was dort unten geschieht!«

Femris bewegte die Arme, die Beine, dann sprang er vom Altar. Er schien keine Mühe zu haben, seinen Körper nach der langen Versteinerung zu kontrollieren. »Gib mir die Splitter, Frevler!«, rief er zornerfüllt. »Dies ist mein Reich, und ich verlange mein Recht! Du kannst es mir nicht vorenthalten!«

»Und die Welt verfinsterte sich. Alle Wesen duckten sich und beteten zu den Göttern, und der letzte Tag war wahrhaftig gekommen, als das Tabernakel erwachte.« 

Angmor hustete und schüttelte den Kopf, als würde er gerade wieder zu sich kommen. »Das ist es!«, donnerte er mit unverhüllter Dämonenstimme, und Femris, der sich gerade auf Rowarn stürzen wollte, hielt für einen Moment inne und wandte sich überrascht zu ihm, als erwarte er einen Angriff. »Jetzt endlich kann ich es sehen!« Er stellte sich aufrecht hin und hob die Arme in Arlyns Richtung. »Arlyn, du und ich!«, fuhr er fort. »An uns liegt es jetzt, und dies ist deine Macht! Hebe deine Arme, verbinde dich mit mir, und ich zeige dir, was wir tun müssen! Das ist es, was der Orden mir zu den Visionen noch gab, und das ist es, was du von deinem Vater geerbt hast! Du kannst die letzte Bestimmung an seiner statt erfüllen!«

Arlyn nickte und hob die Arme.

Femris ging mit drohender Haltung dazwischen. »Was habt ihr vor? Dies ist mein Reich, ich werde nicht zulassen, dass ...«

»Du hast keine Wahl«, unterbrach Loghirs Tochter ihn, und ihre Augen glühten nun ebenso wie die Angmors auf, ihre Stimme schallte ungewöhnlich tief und kraftvoll durch die Halle. »Wir sind bereits mit der Macht Dubhans verbunden, und nun schließe ich das Band zu Angmor, als letzter lebender Nachkomme der Visionenritter. Die Macht, die mein Vater mir vererbte, erwacht in mir, und ich weiß, was ich tun muss.«

»Aus dem Weg, Femris, wenn du das Tabernakel bekommen willst«, grollte Angmor. »Du bist fast am Ziel, also lass es geschehen!«

Rowarn stand taumelnd auf, die Splitter an seine Brust gepresst. »Verstehst du denn nicht, das ist der Weg zum siebten Splitter«, keuchte er. »Nur so können wir durch den Wirbel gelangen!«

Femris zögerte, und dieser Moment genügte.

Lichtstrahlen schossen aus den Fingern Angmors und Arlyns, bildeten einen Bogen über dem Zwiegespaltenen und trafen zusammen.

Und die Welt hielt in ihrem Lauf inne.



Rowarn merkte, wie der Sturm abrupt versiegte, das Glühen in seinen Händen erlosch. Der Schmerz war fort. Er blinzelte und sah sich um.

Er stand im weißen Nichts, zusammen mit Femris. Grenzenlose, leere Weite umgab ihn. Er wusste nicht einmal, worauf er stand, denn es gab keinen Boden, kein Oben und Unten, nur das Weiß.

Und dann verstand Rowarn. 

Tränen stiegen in seine Augen.



»Was ist geschehen?«, fragte der Unsterbliche. »Bin ich wieder versteinert? Hier war ich, nachdem du mich ... aber das ist doch nicht möglich ...«

»Angmor und Arlyn haben die Zeit angehalten«, antwortete Rowarn. »Alles ist erstarrt. Waldsee ist damit sicher, vorerst zumindest. Ich weiß allerdings nicht, wie lange sie das durchhalten können.«

»Woher weißt du das?«

»Ich begriff es, als sie ihre Macht zusammenschlossen. Ich bin mit Arlyn so eng verbunden, dass ich für einen Augenblick durch ihre und somit auch Angmors Augen sehen konnte. Die Zeit steht still. Und wir sind durch den Wirbel getreten.«

Femris blickte um sich. »Also liegt es jetzt nur noch an uns.«

»Ja. Du und ich.« 

»Weshalb spüre ich dann nichts? Wo ist der siebte Splitter?«

»Narr«, sagte Rowarn ohne Hohn. »Unsterblich, tausende von Jahren alt und voller Macht, aber begriffen hast du nichts.«

»Wovon sprichst du?«

»Es hat nie einen siebten Splitter gegeben!«, lachte Rowarn, obwohl er es alles andere als erheiternd fand. Doch es war zu grotesk, all die Jahrtausende des Krieges und der Suche, einschließlich seiner eigenen, die sie nun hierher geführt hatten. Er wischte voller Bitterkeit die Tränen aus den Augen.

Der Zwiegespaltene erstarrte. »Was ...«

»Das Tabernakel war von Anfang an unvollständig. Deswegen konnte es niemand nutzen! Die Nauraka haben das gewusst, und als Ylwas Mutter es zerstörte, schuf sie die Legende des siebten Splitters, damit nie die Wahrheit herauskam – dass das Tabernakel gar nicht vollständig zusammengesetzt werden konnte

»Alles war nur eine Lüge? Nicht nur, was mir angetan wurde ... von Anfang an ...«

»Ja«, sagte Rowarn leise. »Ylwa hielt die Legende aufrecht, um das Geheimnis zu bewahren, das die Nauraka seit dem Fund gehütet hatten. Sie folgte damit der Tradition ihrer Sippe. Warum? Ich kann es dir nicht sagen. Vielleicht aus Scham, vielleicht aus Pflichtgefühl oder aus einer Mischung von beidem. Vielleicht aber auch, weil niemand geglaubt hätte, dass das Tabernakel in Wirklichkeit nutzlos war, und alle Kämpfe darum sinnlos. Sie hätten trotzdem stattgefunden, denn das Artefakt barg auch so noch ungeheure Macht. Selbst die einzelnen Splitter. Ich konnte es spüren.« Er lachte wieder, schrill und verzweifelt.

Femris schwankte. 

Rowarn hätte erwartet, dass er aufbegehren, seinem Zorn freien Lauf lassen würde, doch das Gegenteil war der Fall. Der Unsterbliche war völlig vernichtet. Er hatte sein Ziel endlich erreicht, nach so langer Zeit, und nun schien alles umsonst. 

»Und weshalb fehlte das Stück?«, stellte Femris die bedeutendste Frage von allen.

»Ich ...« Rowarn verstummte abrupt, und ein staunender Ausdruck trat auf sein Gesicht. Er spürte, wie die Erkenntnis  gleich einem Licht über ihn kam und sich ausbreitete und Wärme verströmte. Dann wurde er ruhig. Seine Stimme wurde sanft, angesichts der unfassbaren Tragweite dessen, was ihm soeben offenbart worden war. »Weil die Zeit noch nicht gekommen war. Erst mussten alle Voraussetzungen gegeben sein. Es ging nicht nur darum, dass das Tabernakel vereint werden muss – auch, um es zu nutzen, brauchte es mehrere ... sagen wir ... Teile, die erst zusammenfinden mussten.«

»Was ist denn nun mit dem fehlenden Stück?«, schrie Femris, obwohl langsames Begreifen auch in seinen Augen aufflackerte, gepaart mit Furcht und beginnendem Wahnsinn.

»Der Siebte Splitter«, sagte Rowarn behutsam, »bist du.«



Femris wich einen Schritt zurück. »Du ... du redest irre! Das kann nicht sein!« Heftig schüttelte er den Kopf. »Das ist unmöglich!«

»Es ist die Wahrheit. Genau das hat Erenatar beabsichtigt«, fuhr Rowarn fort. »Diese ungeheure Macht in nur eine Hand oder ein Artefakt zu legen, wollte er nicht wagen. Deshalb teilte er von Anfang an das Tabernakel, in die tönerne Hälfte und in den Zwiegespaltenen. Drei Ringe, drei Teile. Dadurch, dass die Nauraka das Tabernakel vor seiner Zeit fanden, geriet alles durcheinander. Du erwachtest zu früh und ohne Wissen, die anderen Voraussetzungen waren noch nicht gegeben ... dadurch mussten tausende Wesen leiden und jahrhundertelangen Krieg erdulden, bis letztendlich alles zusammengeführt werden konnte. Auf einen einzigen, kurzen, törichten Moment folgten Jahrtausende des Unrechts. Für uns alle.«

Femris vergrub stöhnend das Gesicht in Händen. »Dann ... dann kann ich es niemals nutzen?«, flüsterte er verzweifelt. »Von Anfang an war ich nur dafür gedacht, es zu ergänzen? Ich hatte niemals einen freien Willen, eine Möglichkeit zur Entscheidung? Mein Bruder ... Tamron ...« Voller Qual schrie er auf. »Bruder! Verzeih mir, wir wurden beide betrogen!«

»Es tut mir leid«, sagte Rowarn erschüttert. »Nein, du kannst das Tabernakel nicht nutzen. Denn ... das ist meine Aufgabe. Und ich kann es auch nur ein einziges Mal benutzen, genau in diesem Moment, da die Welt den Atem anhält. So war es bestimmt, von Anfang an. Arlyn und Angmor, du und ich, nur wir alle zusammen konnten an diesen Punkt gelangen, damit geschieht, was Erenatar geplant hat. Jeder von uns trägt etwas in sich, das notwendig ist, um das Tabernakel seiner Bestimmung zuzuführen. Wie ich zuvor schon sagte: Genau genommen sind wir ebenfalls Splitter, die zusammengefügt werden mussten. Erst, nachdem wir alle aufeinandergetroffen sind, war der Zeitpunkt gekommen, den Siebten Splitter an seinen Platz zu bringen. Für uns mögen Jahrtausende vergangen sein, für Erenatar war es sicher kaum mehr als ein Herzschlag.«

Tränen liefen über die Wangen des Unsterblichen. »Aber ... warum du?«

»Ich bin das GETEILTE, Femris. In mir vereinen sich Regenbogen und Finsternis, ohne sich miteinander zu vermischen. Ich bin das Jetzt, der lebende Beweis, dass es nie wieder eine EINHEIT geben wird. Und nur für diesen einen Moment in der Zeitlosigkeit, wo wir außerhalb allen weltlichen Lebens und über allen Sphären stehen, kann ich die Macht einsetzen, die mir dafür gegeben ist. Ein einziges Mal werden sich die beiden Mächte in mir verbinden, um das Tabernakel zu aktivieren.« 

Auf Femris’ Gesicht stand nun nackte Angst. »Aber was wird das bewirken?«, flüsterte er. 

»Finden wir es heraus«, sagte Rowarn. »Bist du bereit?«

Tamron trat aus Femris heraus, hielt jedoch die Verbindung zu seinem Bruder, indem er ganz dicht Schulter an Schulter mit ihm stand. »Ich bin es«, sagte er langsam.

Femris schüttelte den Kopf. »Nein ... nein, ich will nicht alles verlieren ... ich werde nicht nachgeben, noch kann ich ...«

»Bruder«, sagte Tamron sanft und ergriff seine Hand. »Du hast doch gar keine Wahl.«

»Aber es ist ungerecht!«, schrie Femris gequält auf.

»Gewiss«, sagte Tamron traurig. »Das ist es. Mein einziger Trost ist, dass wir es bald nicht mehr wissen werden.«

Femris zitterte am ganzen Leib. »Werden wir sterben?«

»Ja, wir drei werden sterben«, antwortete Rowarn. »Unsere sterblichen Hüllen können dieser Macht nicht standhalten.«

»Wie kannst du so ruhig sein?«, flüsterte Femris.

Rowarn lächelte. Er fühlte großen Frieden in sich. »Weil alles so ist, wie es sein soll.«

Tamron sah Rowarn an, die Hand des Bruders fest in seiner, und sprach die letzten beiden Worte seines Lebens.

»Tu es.«