Kapitel 46

Die zweite Tür


Während des Rückwegs durch den Berg sprachen sie kaum. Mirella verließen zusehends die Kräfte, und Rowarn bot ihr an, sie zu tragen, aber sie war zu stolz. »Ich kehre auf eigenen Füßen nach Hause zurück.« Wie es aussah, hatte sie während ihrer Gefangenschaft nichts zu essen und zu trinken bekommen und auch nicht schlafen dürfen. Bei ihrer Entführung war sie geschlagen worden, als sie sich zur Wehr setzte.

Bevor Rowarn es verhindern konnte, hatte Pyrfinn Gomwei heftig in die Weichteile getreten, und der Mann sackte unterdrückt wimmernd zusammen. Als Pyrfinn weiter auf ihn einschlagen wollte, hielt Rowarn ihn jedoch fest. »Nur Mirella hat das Recht, ihm das erlittene Leid zu vergelten«, sagte er ernst. »Setze dich nicht ins selbe Unrecht, indem du ihn misshandelst.«

»Schon gut, Bruder«, erklang die erschöpfte Stimme der jungen Zwergenfrau. »Das war Teil von Gomweis Plan, um seiner Forderung mehr Nachdruck zu verleihen. Er hoffte wohl, dass ich meinen Vater anflehen würde nachzugeben.«

»Was für ein Dummkopf!«, rief Pyrfinn verächtlich. »Ein Zwerg gibt niemals nach.« Er zerrte Gomwei hoch und schleppte ihn weiter.



Das Königspaar lief ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen, als sie die große Halle betraten. Überall an den Seiten standen Zwerge und applaudierten. Königin Esdrella war schneller als ihr gewichtiger Ehemann, und einige ältere, langbärtige Herren schneuzten sich gerührt, als sie die Tochter in die Arme riss und an sich drückte.

Rowarn überließ den Eltern einige Momente des Glücks. Schließlich aber räusperte er sich und zupfte vorsichtig an Jokims Ärmel. »Herr, auf ein Wort ...«

»Ich bitte um Verzeihung, Euch nicht gebührend begrüßt und gedankt zu haben ...«, fing der Zwergenkönig betreten an, aber Rowarn schüttelte den Kopf.

»Herr, ihr solltet unbedingt einen schwerbewaffneten Wachtrupp aufstellen, der die Nordostflanke von Ganduria sichert«, schlug er vor. »Die Aalreiter werden die Schmach nicht auf sich sitzen lassen und sicher keine Vernunft walten lassen. Sie werden angreifen.«

»Natürlich, natürlich«, sagte Jokim ernüchtert. »Wo hatte ich nur meinen Kopf?«

»Ich kümmere mich darum, Vater«, erbot sich Pyrfinn. »In weniger als einer Stunde ist das erledigt.« Er nickte Rowarn zu und lief eilig aus der Halle.

»Und ich werde meine Tochter versorgen«, sagte die Königin und legte den Arm um Mirella. »Sie hat viele Strapazen hinter sich und ziemlich abgenommen. Eine Schande ist das!«

Jokim riss dem Gefangenen die Augenbinde herunter und starrte funkelnden Blicks zu ihm hoch. »Hast du meine Tochter angerührt?«

»Nein«, brummte der Mann.

»Nein, Vater«, sagte auch Mirella.

»Ich kann es bestätigen, nach allem, was ich hörte«, fügte Rowarn hinzu.

»Dein Glück«, knurrte der König. »Sonst hättest du dich jetzt für immer von deinen Kinderspendern verabschieden dürfen, samt deinem Frauenglück.«

Gomwei wurde blass, aber er war vernünftig genug zu schweigen.

Esdrella verließ daraufhin mit ihrer Tochter die Halle. Die übrigen Zwerge zogen sich auf Distanz zurück und setzten ihr Tagwerk fort. Jokim beauftragte drei schwer bewaffnete Wachen, Gomwei einzusperren, er wollte sich später mit ihm befassen. 

Rowarn bekam ein Gastzimmer zugewiesen, nahm ein ausgiebiges Bad und schlief zwei Stunden lang. Eine Dienstmagd holte ihn zum gemeinsamen Mittagsmahl mit der königlichen Familie ab, und er sah erfreut, dass Mirella wieder munter und rosig aussah, wie es sich für eine Zwergin gehörte. Die Male an den Handgelenken würden bald abheilen und verschwinden.

Die Zwerge begrüßten Rowarn wie einen alten Freund, und nun holten sie überschwänglich den Dank für Mirellas Rettung nach, bewirteten ihn und baten ihn, seine Wünsche zu äußern.

»Ich habe nur einen Wunsch«, sagte er schlicht und Königin Esdrella lächelte.

»Er soll Euch erfüllt werden, junger Herr. Das habt Ihr Euch mehr als verdient.«

Rowarn wollte umgehend aufbrechen, um seine Suche fortzusetzen, auch wenn ihm der Abschied von den fröhlichen Zwergen nicht leichtfiel. 

Als Dankesgabe reichte König Jokim ihm einen kostbaren juwelenverzierten Dolch. »Er soll Euer Königsornat schmücken«, sagte er, und dann gab er ihm auch die drei versprochenen Fläschchen Ushkany. Eigentlich waren es eher Flaschen, sie passten gerade so in den Reisebeutel, der erheblich an Gewicht gewann.

Königin Esdrella ergriff lächelnd Rowarns Hand und legte eine schlichte, auf zwei Seiten gezackte Tonscherbe mit erhabenen und eingeritzten Symbolen hinein. Erstaunt sah er den Splitter an, dann jedoch durchfuhr ihn ein heftiger Ruck, und er hatte das Gefühl, vom Blitz getroffen zu werden. Beinahe hätte er das kostbare Stück fallen lassen, und er verlor die Balance.

»Ich muss es gut verpacken, damit es nicht zerbricht«, sagte er ehrfürchtig. So völlig unvorbereitet zum ersten Mal einen Splitter des Tabernakels ihn Händen zu halten, war überwältigend. Er spürte, wie die beiden Hälften in seinem Inneren in Aufruhr gerieten, und hoffte, dass er sich nicht gleich übergeben musste.

»Dieses Stück ist unzerbrechlich«, versetzte Esdrella. »Die Zersplitterung damals war ein magischer Vorgang, der vielleicht vom Tabernakel selbst herbeigeführt wurde. Ihr könntet mit der Scherbe anstellen, was Ihr wolltet, sie selbst ins Feuer eines Vulkans werfen – sie bliebe unversehrt.«

Rowarn grübelte einen Augenblick darüber, dann steckte er den Splitter in sein Hemd, nah an seinem Herzen. Erleichtert merkte er, wie der magische Druck nachließ und schließlich verschwand. »Wisst Ihr, zu wem ich als Nächstes gehen muss?«

»Kein Hüter kennt den anderen«, verneinte die Königin. »Aber das Freie Haus wird Euch den Weg weisen, solange Ihr ihn zu gehen verlangt.«

»Was mich beschäftigt«, fuhr Rowarn fort, »verzeiht, wenn ich Euch damit belästige, aber – ich verstehe nicht, wie die Sache mit der Zeit funktioniert. Wenn ich durch die Türen des Freien Hauses gehe, verändert sich die Zeit, nicht wahr?«

»Die Zeit ist überall gleich, Herr Rowarn.«

»Aber Arlyn hat gesagt, dass hier draußen Tage und Monde vergehen können, doch wenn ich zurückkehre, sind im Haus vielleicht nur wenige Stunden verstrichen. Dann ... kann dies hier doch noch gar nicht stattgefunden haben, oder?«

Esdrellas Lächeln vertiefte sich. »Ihr betrachtet die Zeit als etwas Lineares, weil Ihr geboren werdet, aufwachst, älter werdet und sterbt. Aber das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Eine Entwicklung wie Euer Leben ist linear und eingebettet in die Zeit, aber nicht die Zeit selbst. Diese ist nicht linear, sie ist immer, alles, zur ... selben Zeit.«

»Wie soll ich mir das vorstellen?«, rief Rowarn verwirrt.

»Stellt Euch einen Punkt vor, von dem aus alle Linien verlaufen und wieder zurückführen«, antwortete die Königin. »Wir bewegen uns zumeist in eine Richtung, nach vorn. Aber das muss nicht immer auf demselben Pfad geschehen. Der Weg, den Ihr gerade geht, wird ein anderer, sobald Ihr das Freie Haus betretet. Die Zeit, die im Freien Haus selbst vergeht, ist wiederum ein anderer Pfad als die Zeit außerhalb, und doch können beide jederzeit wieder zusammengeführt werden.«

»Ich verstehe kein Wort.«

»Das braucht Ihr nicht, lasst es einfach geschehen. Wenn Ihr schließlich nach Dubhan aufbrecht, werdet Ihr das Haus zur rechten Zeit verlassen. Darauf habt Ihr keinen Einfluss. Das ist das große Geheimnis und die Magie der Freien Häuser: sie sind ein Teil von Waldsee selbst. Ein Relikt aus der Urschöpfung, ein Klang der Melodie, der nicht im Äther, sondern in der Welt schwingt.«

»Das erscheint mir alles ziemlich gefährlich«, meinte Rowarn. Esdrellas Worte erschreckten ihn, denn er erkannte, dass er auf diese Reise tatsächlich keinen Einfluss hatte. Er konnte nie wissen, was ihn als Nächstes erwartete, wohin es ihn verschlagen würde. Völlig unvorbereitet musste er sich auf alles einlassen und konnte nur hoffen, dabei am Leben zu bleiben. »Ich bin kein magisches Wesen wie mein Vater. Ich besitze die Gabe des Zwielichtgehens, das ist aber auch schon alles.«

»Fürchtet Euch nicht vor dieser magischen Reise, junger König«, sagte Esdrella mit sanfter Stimme. »Es ist nicht anders möglich, nach einem so mächtigen Artefakt zu suchen, und kein anderer als Ihr könnte es, weil Ihr aus der Magie geboren wurdet, sie aber nicht zu nutzen oder zu beeinflussen vermögt.«

Besorgt fragte Rowarn: »Und ... beeinflusst sie mich?«

»Das kommt darauf an, was Ihr unter Beeinflussung versteht.« Esdrella berührte behutsam seinen Arm. »Ihr habt immer noch Euren freien Willen, falls Ihr Euch darum sorgt. Aber das Tabernakel ist nicht einfach an irgendeinem weltlichen Ort verborgen. Femris hat nie begriffen, dass das der Grund ist, weshalb er nur einen Splitter finden konnte, und diesen eben nur durch Verrat. Das Tabernakel verbirgt sich in den magischen Sphären, und zwar dort, wohin kein Mächtiger blicken kann.«

»So etwas gibt es?«

»Man nennt sie Blinde Flecken. Es ist ähnlich wie mit Eurer Gabe des Zwielichtgehens. Ihr seid da, und doch verborgen.«

Rowarn bildete sich ein, jetzt zumindest einen Teil verstehen zu können. Aber das beruhigte ihn keineswegs und spendete ihm auch nicht mehr Sicherheit. Nicht einmal über den ersten von vier Splittern, den er soeben erhalten hatte, konnte er sich in diesem Moment freuen.

Königin Esdrella ergriff sein Hemd und zog ihn zu sich herab. Dann küsste sie behutsam seine kalte Stirn. »Ihr seid zu ernsthaft für Euer Alter«, sagte sie leise. »Lasst die Dinge geschehen, Rowarn. Das Tabernakel will zusammengeführt werden. Ihr seid dafür ausersehen. Warum, kann ich Euch nicht sagen. Aber einer muss es nun einmal sein. Geht jetzt, mit unseren besten Wünschen, und seid unserer Freundschaft versichert.«

»Kommt wieder einmal vorbei«, schnaufte König Jokim. »Mit Noïrun und Olrig, und dann wollen wir ein Gelage feiern, wie es noch nie eines gab.«

»Das werde ich«, versprach Rowarn, und auf einmal wurde ihm leichter ums Herz.

»Ich begleite dich ein Stück, denn ich will dir auch noch etwas geben«, sagte Mirella und ergriff seine Hand. »Komm, beeil dich, ich habe noch anderes zu tun.«

Rowarn hatte gerade noch Zeit, sich hastig vor dem Königspaar zu verneigen und Pyrfinn einen Abschiedsgruß zuzurufen, bevor die junge Zwergin ihn energisch mit sich zog.



In Ganduria gingen alle ihrem normalen Tagwerk nach. Die Sonne schien frühlingshaft, und es war schon angenehm mild. Das Tal war geschützt und konnte viel Wärme aufnehmen.

Rowarn traf fast der Schlag, als Mirella vor dem Geschäft mit dem Schild Bommeln und Plunder anhielt und einen großen, verschnörkelten Schlüssel hervorkramte. »Das ist dein Laden?«

Mirella erwiderte die Grüße ringsum und sah Rowarn dann verwundert an. »Sicher, was dachtest du denn?«

»Ich ... ich weiß nicht ...«, murmelte er verblüfft und stolperte hinter ihr her in den Laden.

Sogleich nahmen ihn die Ausstrahlung des Raumes, die vielen wunderbaren Sachen, die ihn zuhauf umgaben, und ein herrlicher Duft nach Sandelholz und wilden Kräutern gefangen.

»Du darfst dir soviel aussuchen, wie du willst und tragen kannst«, sagte Mirella. »Das bin ich dir für meine Rettung schuldig.«

»Das war doch eine Selbstverständlichkeit«, entgegnete Rowarn und stakste mit leuchtenden Augen durch den Raum, fühlte hier, horchte da und konnte sich nicht sattsehen. »Ich erwarte keinen Dank dafür, aber ... ich würde mir wirklich gern etwas aussuchen, weil ich leider kein Geld habe und Arlyn gern einmal ein Geschenk machen möchte. Ich glaube, ihr würde es hier gefallen.«

»Das meiste mache ich selbst«, erklärte Mirella, nicht ohne Stolz.

Überrascht sah Rowarn sie an. »Wirklich? Diesen herrlichen Schmuck, die Kleider, die Tücher ...«

»Filz, Wolle, Seide, ein paar Juwelensplitter, ein bisschen Goldstaub ... es ist alles nichts Besonderes, aber ich arbeite gern damit.«

»Es ist alles wunderschön und kostbar. In einer Menschenstadt oder wahrscheinlich auch in Ennishgar würdest du mit der Arbeit nicht hinterherkommen. Mag sein, dass die Zwerge hier anderen Luxus gewöhnt sind, aber ich könnte mir nichts Feineres wünschen.«

Mirella hatte dasselbe verschmitzte Grinsen wie ihr Bruder. »Was für ein artiger Bursche! Jetzt verstehe ich, warum meine Mutter die ganze Zeit von dir geschwärmt hat.«

»Oh ...« Rowarn bekam glühende Wangen und drehte sich hastig einem Tisch mit Auslagen zu.

Mirella verschwand und kehrte aus dem hinteren Teil des Raums zurück, mit einem in verschiedenen Blautönen gehaltenen, seidig glänzenden Schultertuch, an dem lange, mit Goldfäden durchwirkte Fransen hingen. Genau passend zu Arlyns außergewöhnlichen Augen und ihrer Lieblingsfarbe für Kleidung. »Das bringst du ihr mit, aber es ist nur die Beigabe für etwas anderes.« Sie hielt die geöffnete linke Hand hoch, und darin lag ein wunderhübsches Paar Ohrgehänge mit glitzernden Kristallkörnchen, die in ein zartes Goldgeflecht eingearbeitet waren. Genau diese hatte Rowarn bei seiner Ankunft sehnsüchtig durch das Fenster betrachtet.

»Woher weißt du ...«, begann er verdattert, doch Mirella winkte ab.

»Ich wäre keine gute Geschäftsfrau, wenn ich nicht wüsste, was meine Kunden wollen. Nimm es für Arlyn, Rowarn. Sie wird sich darüber freuen.«

»Aber ... ist das nicht zu viel?«

»Was denkst du, wie viel mein Leben wert ist? Oder auch meine Jungfräulichkeit?«

»Wie ... wie ...«

»Kein Grund, schon wieder zu erröten. Ich bin Ehrenjungfrau, und zwar freiwillig. Zu den Festen der Fruchtbarkeit, des Wachstums und der Ernten zelebriere ich die Rituale. Ich liebe es, das zu tun, denn es gibt mir das Gefühl, am Kreis des Lebens teilzuhaben und der Erde verbunden zu sein. Ich lebe enthaltsam und beobachte jedes Zeichen am Himmel, jedes neue Korn, das reift, jedes Tier, das geboren wird. Ich bin mit diesem Tal verbunden, und ich höre seinen Herzschlag. Gomwei hat ganz genau gewusst, warum er gerade mich entführt hat, aber so funktioniert das eben nicht.« Mirella drückte Rowarn das Geschenk in die Hand und schob ihn Richtung Tür. »So. Und jetzt gehst du.«

Rowarn war schon halb auf der Schwelle, da stemmte er die Füße in den Boden und sah sie verzagt an. »Ich ... ich weiß nicht, wohin«, gestand er verlegen. »Ich habe keine Ahnung, wie ich das Freie Haus finden soll ...«

Sie stützte die Arme in die Seiten und schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Und so einen schicken sie auf diese Reise? »Wie bist du wohl hierher gekommen?«

»Durch eine Tür.«

»Na, dann such dir eine Tür.«

Rowarn schluckte. Unwillkürlich ließ er seinen Blick schweifen. Der hintere Bereich des Raumes hatte bisher im Dunkeln gelegen. Aber nun schaute die Sonne durchs Fenster herein und warf einen schmalen Streifen Licht dorthin. »Ich sehe eine Tür.«

»Also dann«, sagte Mirella, wandte sich ab und verschwand hinter einem Kleiderhaufen.

Was hatte er schon zu verlieren. Vielleicht landete er im Hinterhof oder in einer Jauchegrube, was auch immer. Er musste es wissen. Forsch schritt Rowarn aus, drückte den Griff herunter, schob die Tür auf, die sich widerstandslos öffnen ließ, und trat hindurch.



Mattes Dämmerlicht empfing ihn, alles wirkte genauso, wie er es verlassen hatte. Es war immer noch oder schon wieder dunkel. Staunend schloss Rowarn die Tür hinter sich und fand sich in derselben Nische wieder, die der Wirt für ihn und Arlyn reserviert hatte.

Lauschend sah er sich um. Niemand war in der Nähe. Leise öffnete er die Tür zum Gastzimmer und trat ein. Arlyn lag im Bett und schlief. Ein Nachtlicht brannte matt in einer Glasschale, und Rowarn stand einige Augenblicke still und betrachtete seine Königin. Sie lag auf dem Rücken, die Decke war leicht verrutscht und offenbarte eine nackte Brust und einen schimmernden glatten Schenkel. Arlyns Gesicht lag im Halbdunkel, das ihre Züge weich nachzeichnete, friedlich und entspannt.

Rowarn schluckte schwer. Am liebsten hätte er alles von sich geworfen und sich auf sie gestürzt, sie mit Küssen bedeckt, ihre Lust mit seinen Händen geweckt, sie verschlungen und ganz in sich aufgenommen. Doch er bewahrte seine Fassung. Leise legte er den Reisebeutel ab. Er hatte keine Vorräte und kein Wasser mehr, also war es nutzlos, ihn weiter mit sich zu tragen. Die Dielen knarzten leise, doch Arlyn wachte nicht auf. Er steckte den Schmuckdolch zu dem Umhang und dem Helm, die bei seinem Schwert auf der Truhe lagen. Dann breitete Rowarn das Schultertuch darüber aus, legte das Ohrgehänge darauf und daneben den Tabernakelsplitter. Er setzte sich an den Tisch, zog die Nachtkerze näher zu sich, griff nach Pergament, Tinte und Feder und schrieb:


Meine verehrte Königin,

meine erste Fahrt war erfolgreich. Ich werde dir alles erzählen, wenn wir uns wiedersehen. Verzeih mir, dass ich es nicht aufschreiben kann, es ist einfach zu viel und mein Kopf immer noch zu voll. Verwirrt bin ich auch. Ich weiß nicht, ob ich das alles jemals verstehen werde.

Ich bitte dich, den Splitter für mich zu hüten, denn hier bei dir im Freien Haus ist er in Sicherheit, so wie du auch. Femris kann euch hier nicht erreichen, und wahrscheinlich kann er den Splitter auch nicht auf magischem Wege sehen und weiß nicht, dass wir ihn haben.

Die anderen beiden Dinge ... will ich dir schenken. Ich hoffe, ich beschäme dich nicht damit. Das Zeug ist nicht sonderlich wertvoll, und vielleicht habe ich auch einen schrecklichen Geschmack. Ich bin nicht sonderlich gut in diesen Dingen. Ehrlich gesagt habe ich einem Mädchen außer ein paar Wildblumen noch nie etwas geschenkt. Ich weiß, das kann man nicht vergleichen, denn du bist eine edle Frau und meine Gemahlin noch dazu. Aber selbst der wertvollste Diamant könnte dir nicht gerecht werden.

Ich bin kein geschickter Briefeschreiber. Ich würde dir gern ein Gedicht widmen, aber das hat mir ein Poet verboten. Viel lieber würde ich dich in meine Arme nehmen und lieben, aber das darf ich jetzt nicht. Ich muss weiterziehen.

Arlyn, du bist mir das Liebste auf der Welt. Du bist die Welt selbst, und deshalb darf ich sagen, dass ich das alles für dich tue.

Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass ich dich nicht geweckt habe. Aber ich habe Angst, dass du mir zürnst, weil ich das letzte Mal ohne Abschied gegangen bin. Und jetzt tue ich es schon wieder. Egal wie – ich könnte deinen Zorn niemals ertragen. Deshalb hoffe ich sehr, dass er wieder verraucht ist, wenn ich das nächste Mal zurückkehre.

Ich weiß, das Tabernakel ist das magischste Ding auf dieser Welt, alle Mächtigen wollen es in die Hände bekommen, und wahrscheinlich wird es irgendetwas im Ewigen Krieg bewirken, aber ... nichts kann so wertvoll und mächtig sein, wie du es für mich bist.

Da kämpfen sie alle in Dubhan und setzen ihr Leben ein, erleiden Schmerz und vergießen ihr Blut, und ich schreibe Liebesbriefe. Wie gut, dass Noïrun das nie erfährt. Oder, noch schlimmer, Angmor. Mir wird schon eiskalt, wenn ich nur daran denke.

Ich gehe jetzt. Schlaf wohl, mein Lieb.

Dein dich anbetender Rowarn


Rowarn wartete, bis die Tinte trocken war, las den Brief aber nicht noch einmal durch, denn sonst hätte er ihn bestimmt in die Glut des Kamins geworfen. Er schob das Pergament unter das Ohrgehänge. Dann ging er zum Bett, beugte sich über die schlafende Arlyn und berührte ihre Stirn ganz vorsichtig mit seinen Lippen, während er sie gut zudeckte. Sie erwachte auch jetzt nicht.

Dankbar, zwischen Glück und Schmerz hin und hergerissen, verließ Rowarn das Zimmer.

Lasst es geschehen, hatte Königin Esdrella gesagt. Ihr seid auf einer magischen Reise.

Damit brauchte er sich um Nahrung und Wasser keine Gedanken zu machen. Alles würde sich fügen. Denk nicht zu viel nach, hatten  weise Leute immer wieder zu ihm gesagt, vor allem Arlyn, das würde er jetzt beherzigen. Er war gespannt, was dabei herauskommen würde.



Rowarn war nicht erstaunt, als er sich mitten im düsteren Osten wiederfand. Der Himmel hing hier schwer herab, beinahe nachtdunkel, obwohl die Sonne hoch im Zenit stand. Auch dies war eine Steppe mit kurzem und hartem Gras. Knorrige Bäume und große, in sich selbst gewundene Büsche durchbrachen die Eintönigkeit. Es sah nicht so aus, als ob es hier jemals Frühjahr oder Winter gäbe oder sonst eine Veränderung. Kein Tier zeigte sich, der Himmel war leer. Ab und zu kreuzten trockene Bachläufe Rowarns Weg, und er sah seltsame Krater, als ob einstmals riesige Steine hier heruntergefallen wären und sich dann in Luft aufgelöst hätten. Die Luft stand still, es war weder warm noch kalt. Rowarn brauchte eine ganze Weile, bis er erkannte, was ihn hier am meisten störte – es gab keinerlei Gerüche. Selbst ein Traum gaukelte Gerüche vor. Aber hier gab es kaum Farben, alles war fahl und still und völlig geruchlos. Der Himmel schien von oben herabzudrücken; Rowarn merkte, dass er leicht gebeugt ging, den Kopf zwischen den Schultern eingezogen. Kopfschüttelnd straffte er seine Haltung und ging weiter.

Die Sonne wanderte langsam über den Himmel, doch das diffuse Licht veränderte sich kaum. Rowarn war nicht einmal sicher, ob die Schatten mitwanderten. Seinen eigenen Schatten konnte er nirgends entdecken, egal, in welche Richtung er sich drehte. Er versteckte sich wohl hinter ihm.

Schließlich sah er einen bleigrauen Streifen vor sich, der sich am Horizont entlangzog, soweit das Auge reichte. Rowarn hatte keine Wahl, er musste direkt darauf zugehen, ein Ausweichen gab es nicht. Der Streifen verbreiterte sich rasch, gelegentlich glitzerte und blitzte etwas weit entfernt auf. Schließlich erkannte Rowarn, dass es Wellenbewegungen waren, auf denen das Sonnenlicht spielte. Ein See von gewaltigen Ausmaßen. Oder hatte er etwa die Umschließende See erreicht? War er schon so weit im Osten? Aber noch weiter in der Ferne lagen die Berge, deren ferne Spitzen er gerade noch in den düsteren Himmel hineinragen sah.

Bald nahm der See das gesamte Blickfeld ein, eine spiegelnde Fläche in ständiger sanfter Bewegung. Bäume und Sträucher wurden spärlicher, ebenso das Gras, und Rowarns Stiefel versanken bald in weichem Sand.

Vor der Wasserlinie blieb er stehen und sah sich um. Wasser, soweit er schauen konnte. War es möglich, dass er hier den nächsten Splitter fand? Die Nauraka hatten das Tabernakel einst aus den Tiefen des Meeres geborgen. War es möglich, dass ein Teil des Artefaktes wieder ins Wasser zurückgekehrt war?

Das kann ich nur herausfinden, indem ich hineingehe.

Rowarns Herz klopfte aufgeregt. Er hatte sich aufgrund seines naurakischen Erbes immer gern im Wasser aufgehalten, aber noch nie in einem so riesigen See oder etwa dem Meer. Vor allem hatte er erst vor kurzem entdeckt – oder wurde vielmehr durch seinen Vater gewaltsam darauf gebracht – dass er sowohl an Land als auch im Wasser atmen konnte. Beide Lebensräume standen ihm zur Verfügung. Es war ein unglaublich berauschendes Gefühl gewesen, als er es im See von Dubhan zum ersten Mal erprobt hatte. War dies seine wahre Heimat? Seine dämonische Hälfte hatte sich nicht daran gestört, und Rowarn hatte sich ... völlig verändert gefühlt. Als ob er auf einmal ein ganz anderer gewesen wäre.

Und genau deswegen zögerte er nun. War es das Richtige, einfach hineinzutauchen? Entfernte er sich dabei nicht immer weiter von der Wirklichkeit? Was kümmerte es die Wasserwesen, was an Land geschah?

Rowarn blickte sich wieder um. Natürlich könnte er umkehren und hoffen, dass er einen anderen Weg finden würde. Aber die Tür hatte ihn hierher geführt, er war einfach immer geradeaus gegangen, so wie beim letzten Mal nach Ganduria. Es war der magische Pfad, den Esdrella beschrieben hatte. Rowarn hatte sich einfach treiben lassen, Fuß vor Fuß gesetzt, ohne darüber nachzudenken, wohin es ging, welche Richtung er wählen sollte.

Lass es geschehen.

Das Wasser lag vor ihm. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Also gut. Rowarn legte seine sämtliche Kleidung, einschließlich der Leibwäsche, ab, sie würde ihm nur hinderlich sein. Schließlich wollte er den See nicht einfach durchqueren, sondern in seinen Tiefen nach dem nächsten Hüter suchen. Als er die Zehen ins Wasser tauchte, fühlte es sich genauso wie die Luft an – nicht kalt, nicht warm, einfach nur da.

Entschlossen ging Rowarn tiefer hinein, dann tauchte er ab.



Seine Kiemen arbeiteten gut. Lediglich die Veränderung der Augen irritierte am Anfang ein wenig. Sein normales Augenlid zog sich zurück, und stattdessen klappte seitlich, von außen zur Nasenwurzel hin, ein drittes, halb durchsichtiges Augenlid zu. Wozu das wohl nützlich war? Rowarn übte ein paarmal, dann konnte er es bewusst steuern. Er brauchte allerdings eine ganze Weile, bis der Reflex des regelmäßigen Lidschlags endlich nachließ. Zwischen Fingern und Zehen öffneten sich zarte Schwimmhäutchen, die sonst unsichtbar eng mit der Haut verbunden waren.

Das Wasser brach die Sonnenstrahlen in Fächer auf, die schimmernde Lichtreflexe auf seine Haut zauberten, es wirkte fast wie Schuppen. Doch seine Haut fühlte sich glatt und seidig wie immer an.

Rowarn legte die Arme seitlich an den Körper und fing an, die eng aneinandergepressten Beine auf und ab zu bewegen. Sofort trieb es ihn durchs Wasser, das Ufer sank hinter ihm zurück, und unter ihm breitete sich dunkle Tiefe aus. 

Zunächst tauchte Rowarn noch im Sonnenbereich und ließ seinen Blick schweifen. Seine Sicht reichte unter Wasser nicht so weit wie an Land, es war, als blickte er durch einen sanften Nebel. Nirgendwo konnte er Zeichen von Leben entdecken. Keine Fische, keine Aale oder Seekäfer, einfach nichts.

Alles um ihn herum sah gleich aus, und Rowarn wurde klar, dass er nie wieder dorthin finden konnte, wo seine Kleidung lag. Es gab keinerlei Orientierungspunkte, nur unendliche, völlig gleichförmige Weite.

Was kümmerte es ihn. Er saugte das Wasser durch seine Kiemen und presste es wieder aus und schwamm schneller und schneller. Sein Körper erinnerte sich immer mehr an das Erbe der Nauraka, wurde gewandter, geschmeidiger und flinker. Eine silbrige Bahn hinter sich herziehend, sauste er durch das Wasser, das sein wahres Element war. Schwerelos, frei, unabhängig von allen Bedingungen, die das Land an ihn stellte. Alles war so leicht.

Rowarn lachte, stieg auf, schoss über die Wasseroberfläche hinaus, drehte sich sprühend im Sonnenlicht und tauchte mit einer eleganten Wendung wieder ein. Hinunter ging es, bis an die Grenze des Lichts, und dann tanzte er, vollführte Kapriolen, zog Kreise aus Luftblasen, durch die er hindurchschwamm, ließ sich auf dem Rücken dahintreiben und schlug Saltos.

Als er den dritten Luftsprung vollzog, gelang er am schönsten, er kam so hoch wie nie zuvor und schaffte einen vollendeten Bogen, weil seine Beine zusammengewachsen und seine ausgebreiteten Arme durch eine Lederhaut mit dem Rumpf verbunden waren.

Der Nauraka lachte und sprang gleich noch einmal, flog über dem Wasser dahin, klappte die Arme zusammen und tauchte platschend ein. Er spielte mit den Sonnenstrahlen, schlängelte sich durch sie hindurch, bis er genug vom Licht hatte und sich der tiefen Dunkelheit zuwandte, die dort unten auf ihn wartete. Ein letztes Mal blickte der Nauraka nach oben, dann kehrte er sich davon ab.



Die Dunkelheit war heller als erwartet. Als die Zwielichtgrenze durchtaucht war, wurde es nicht finster, sondern dämmrig-trüb. Die Augen des Nauraka hatten keine Schwierigkeiten mit den Lichtverhältnissen hier unten. Allmählich schälten sich Konturen aus der Tiefe. Lange Schlingen aus Tang, ganze Wälder davon, die sich sanft in der Strömung wiegten. Felsschlote und Kamine ragten empor und seltsame Bäume, die ebenfalls aussahen, als seien sie aus Stein, sich aber vielfach verzweigten und an deren Ästen wurmartige Wesen hingen, die sich ringelten und mit Fächerarmen wedelten.

Hier unten gab es auch Fische, silbrige Schwärme mit leuchtenden Flossen und einzelgängerische Räuber mit zähnestarrenden, riesigen Mäulern. Der Nauraka sah langbeinige Krebse und froschartige Wesen und vieles mehr. Ruhig schwamm er zwischen ihnen hindurch, und sie fürchteten sich nicht vor ihm. Sie konnten ihn nicht sehen und auch nicht spüren. Immer wieder fing der Nauraka den einen oder anderen Fisch. Hielt ihn, ließ ihn zappeln, spielte mit ihm. Schnupperte an ihm, leckte mit der Zunge. Und dann, er wusste nicht wie, hatte er auf einmal den Kopf abgebissen, und der Rumpf taumelte, eine Blutspur hinter sich herziehend, davon.

Der Nauraka verschluckte vor Schrecken den Kopf. Er wollte ihn hervorwürgen, aber er war schon in den Magen gerutscht, und der schloss sich gierig darum. Dann schmeckte der Nauraka das Blut auf der Zunge, und seine Kiemen spreizten sich weit. Er griff nach dem kopflosen Rest, riss ihn mit den Zähnen in Stücke und schlang ihn hinunter. Sein Magen sang vor Freude. Das weckte erst recht den Hunger des Nauraka, und er raste in einen Fischschwarm und hielt dort eine blutige Jagd ab, saugte das rotgefärbte Wasser gierig durch seine Kiemen, biss und riss und fetzte und schluckte, bis er sich satt und zufrieden dahintreiben ließ, mit wohlgerundetem Bauch und träge schlagenden Beinen.



Irgendwann begegnete der Nauraka einem Wesen, das so aussah wie er. Zumindest war es ihm ähnlich – der Körper war schlank, doch die Arme waren nicht mit einer Haut mit dem Rumpf verbunden. Ab der Hüfte besaß es eine lange, geschmeidige Schwanzflosse.

Das fremde Wesen hatte den Nauraka auch gesehen und kam näher. Der Nauraka wollte ausweichen, sich verstecken, aber er befand sich im freien Wasser, also wartete er schüchtern ab. Er hätte nicht geglaubt, dass es andere wie ihn gab. 

Das Wesen war weiblich, das erkannte er an den ausgeprägten, festen Brüsten. Sein Kopf war nicht von Haaren bedeckt, sondern von einem gezackten Kammschild, der sich über den Rücken fortsetzte. Die ovalen Augen waren riesig und dunkel; dort, wo die Nase sein sollte, befand sich ein schmaler Höcker, der sich von den Augen bis zum Mund hinabzog. Der Mund war dicklippig, fleischig und breit, ähnlich wie bei einem Fisch. Wie der Nauraka trug auch das Wesen seitlich am Hals ausgeprägte Kiemen, doch die Ohren waren wie breite Fächer und konnten angelegt, zur Seite oder nach vorn geklappt werden.

Der Nauraka rollte sich zusammen und machte sich klein, als das weibliche Wesen vor ihm verhielt.

Keine/Angst.

Der Nauraka hob leicht den Kopf.

Ja/du/hörst/meine/Stimme/in/deinem Geist. Du/kannst/mir/auch/so/antworten.

Ich weiß nicht, wie ... oh …

Siehst/du?

Das weibliche Wesen streckte die Hand nach ihm aus. Der Nauraka sah, dass der Oberkörper und das Gesicht mit einer feinen, glänzenden, schuppigen Haut bedeckt war. An der Innenseite der Hand saßen Tastknospen und kleine Saugnäpfe. Darf/ich?

Der Nauraka rührte sich nicht. Er ließ es zu, dass das Wesen ihn berührte und verspürte ein eigenartiges Kribbeln.

Ich/bin/Aareeaa/von/den/Luulurluu.

Ich bin Nauraka.

Dein/Name?

Weiß nicht.

Dein/Volk?

Weiß nicht.

Gibt/es/noch/andere/wie/dich?

Nur ich bin da.

Wie/lange?

Schon immer. Ich schwimme durchs Wasser. Treibe dahin. War nie anders. Nauraka.

Hast/du/andere/wie/mich/gesehen?

Nie. Nur ich bin da. Fische, Krebse, Frösche. Nicht so wie ich. Nicht so wie du.

Aareeaa betrachtete ihn lange aus lidlosen Augen. Als es dem Nauraka zu viel wurde, klappte er seine Nickhaut vor, und nun wusste er, wozu sie gut war. Er konnte immer noch verschwommen sehen, aber er musste den Blick nicht erwidern. Wieso siehst du mich? Niemand sonst sieht mich.

Es/ist/dunkler/um/dich/als/du/es/bist. Du/bist/da. Und/ich. Aareeaa/ja?

Ja. Dein Name. Hab verstanden.

Sie ergriff seine Hand. Komm. Ich/zeige/dir/mehr/wie/mich.

Mehr?

Ja/keine/Angst. Wir/töten/keine/Brüder. Wir/essen/sie/auch/nicht.

Ich esse Fisch.

So/wie/wir/kleiner/Bruder.

Der Nauraka ließ sich von Aareeaa mit sich ziehen. Er begriff nicht, warum sie das tat und ließ einfach alles geschehen.

Schließlich näherten sie sich einem großen Felsengebirge, das von großen und kleinen Löchern durchsetzt war. Licht strömte heraus, Fächerpflanzen, Wedel, Geweihgewächse, Stielsterne wuchsen überall und zeigten ihre bunte Pracht.

Der Nauraka sah Wesen, die waren wie Aareeaa. Das mussten Luulurluu sein, so wie sie. Sie musterten den Nauraka neugierig, blieben aber auf Abstand. Darüber war er froh. Er zögerte allerdings, als Aareeaa ihn in das Gebirge hineinlocken wollte. Vielleicht wäre er dann gefangen?

Kann keine Enge aushalten.

Keine/Sorge.

Brauche Weite. Keine Wände. Muss Weite sehen. Fühlen. Werde getrennt, wenn ich in Berg gehe. Nein.

Zunehmend geriet er in Panik und wollte sich von Aareeaa losreißen. Sie hielt an und streichelte beruhigend seinen Arm.

Wir/bleiben/hier. Mein/Vater/kommt/raus. Ich/habe/ihn/gerufen.

Vater? Was ist das?

Was/wir/alle/haben. Vater/und/Mutter/unsere/Erzeuger.

Nein.

Aber/du/wurdest/geboren/siehst/du? Sie berührte das Loch in der Mitte seines Bauches, wie eine Narbe, aber er wusste nicht, woher er sie hatte.

Nein. Nicht geboren. Ich bin Nauraka. Das Wasser. Die See. Ich esse Fisch.

Er zerrte immer heftiger, fing an zu zappeln und hielt erst still, als er plötzlich eine weitere, starke Präsenz fühlte. Ein männlicher Luulurluu, groß und muskulös, mit kräftigen Schuppen an den Oberarmen. Auch seine Stimme erklang nun im Kopf des Nauraka.

Keine/Angst. Beruhige/dich.

Ich bin gefangen!

Nein. Hör/uns/zu. Wir/sind/Freunde.

Aareeaa sah den Mann an. Das/ist/der/Nauraka/Vater. Er/weiß/nichts/mehr. Er/hat/sich/verloren.

Ich bin das Wasser!, rief der Nauraka verzweifelt. Warum glaubte ihm niemand? Es gab nur ihn, immer nur ihn und die See und die Fische und den Tang.

Zu viel/Weite. Nicht/hier/geboren.

Wir/sollten/ihn/aufnehmen. Beschützen.

Willst/du/ihn/etwa/wählen/Tochter?

Als/Bruder. Ich/kann/ihn/so/nicht/ziehen/lassen. Er/ist/einsam. Wir/haben/Platz. Vielleicht/findet/er/sich/wieder.

Was/siehst/du/in/ihm?

Etwas/Besonderes.

Der Luulurluu-Mann betrachtete den Nauraka lange, doch schließlich kam er zu einer Entscheidung. Sei/willkommen/neuer/Bruder.

Und da umringten sie ihn alle und nahmen ihn in ihre Mitte auf. Es wurde gefeiert, und der Nauraka erhielt den Namen Hasantee, was »Fliegender Fisch« in ihrer Sprache bedeutete.



Hasantee fand sich damit ab, dass er einen Namen erhielt und dass er von nun an als Luulurluu galt. Er blieb bei ihnen, weil er neugierig war, weil er begreifen wollte, was mit ihm geschah. Sie waren seltsame Wesen, die im Gebirge verschwanden, wenn das Zwielicht dahinging, und erst wieder hervorkamen, wenn es dämmerte. Das Licht im Inneren erlosch nie, aber Hasantee konnte sich nicht überwinden, einmal hineinzutauchen und nachzusehen, wie es entstand. Er blieb allein draußen, wenn sie alle fort waren, und genoss die einsame Weite um sich. Obwohl er durchaus Gefallen an der Gesellschaft der Luulurluu fand, liebte er die dunklen Gegenden am meisten. Dann streifte er seinen Namen ab, schwamm davon und löste sich im Wasser auf, wie er es schon immer getan hatte.

Trotzdem kehrte er in der Dämmerung wieder zurück, weil seine Fragen unbeantwortet waren.

Die anderen, vor allem die Jungen, bezeichneten ihn manchmal als wunderlichen/Kauz, wenn sie glaubten, dass er nicht zuhörte, aber er konnte sie ja alle hören, denn er war das Wasser um sie herum und damit immer in der Nähe. Aber das störte ihn nicht, denn er wusste nicht, was sie damit meinten.

Schließlich fragten sie ihn, ob er mit auf die Jagd gehen wolle, und da sagte er begeistert ja. Fische! Wie lange war es her, dass er zuletzt ihr süßes Blut geschmeckt hatte? Ihre kräftigen Muskeln in seinen Fingern fühlte, bevor er sie in Stücke riss? Natürlich wollte er auf die Jagd gehen!

Sie nahmen seltsame Dinge mit, die wie verlängerte Arme aussahen, und die gebogenen Zähne des Großen Beißers. Was wollt ihr damit?, fragte Hasantee.

Das/sind/Waffen. Sie/helfen/bei/der/Jagd.

Ich zeige euch, wie man jagt.

Und das tat er dann auch, als sie einen großen Schwarm auftrieben. Er schoss mitten unter sie, packte und knackte, und die Beute brauchte nur noch eingesammelt zu werden. Ein Dutzend, zwei, Hasantee geriet in Blutrausch und fing an zu reißen und zu schlingen, nichts um sich herum bekam er mehr mit, bis endlich Aareeaas Ruf zu ihm durchdrang: Hasantee! Tauch/ab! Gefahr!

Gefahr? Unsinn. Hier gab es nur eine Gefahr, und die war Hasan... der Nauraka. Er verstand nicht, warum die Luulurluu flohen, warum sie nach ihm schrien, warum Aareeaa so wild mit den Armen ruderte.

Da fiel ein Schatten über ihn. Ein Schatten, der so groß war, dass er das Licht von oben vollständig auslöschte. Der Nauraka konnte sich nicht mal mehr selbst sehen, so finster wurde es, selbst sein eigener Schimmer verging.

Der Fischschwarm war zusammen mit den Luulurluu geflohen, irgendwo in die Tiefen hinab. Der Nauraka blickte nach oben. Es war wohl ein Fisch, so gigantisch, dass der Nauraka keinen Begriff dafür hatte. Mindestens zehnmal so lang wie er selbst. Grob geschätzt. Er hatte eine riesige keilförmige Schwanzflosse, mit der er in Seitwärtsbewegungen das Wasser aufwühlte. Begleitet wurde er von einer Wolke aus Blasen und Wasserstrudeln und irgendwelchen kleineren Fischen, die sich an ihm festgesaugt hatten. Das Maul war lang und spitz und besetzt mit drei Reihen Zähnen, von denen jeder Einzelne so lang war wie der Unterarm des Nauraka. An der Seite des grauschuppigen Schädels lauerte ein gewaltiges, rotleuchtendes Auge mit einer gespaltenen schwarzen Pupille, die sich eng zusammenzog, als das Untier den Nauraka entdeckte.

Der Nauraka legte die Arme an und schwamm um sein Leben. Tauchte so schnell wie noch nie, raste schneller als die Lichtstrahlen, mit denen er so gern gespielt hatte. Doch er kam nie aus dem Schatten heraus. Der riesige Räuber folgte ihm, angelockt vom Fischblut, das immer noch an dem Nauraka haftete. Er stieg auf, tauchte durchs Zwielicht, um sich unsichtbar zu machen, doch das half nichts gegen die Geruchsspur, die er hinter sich herzog.

Der Fisch holte auf, obwohl der Nauraka das Wasser selbst war und noch nie eingeholt worden war. In seiner Angst stieg er immer weiter und weiter auf, sah in der Ferne schon die vertrauten Lichtspiele, obwohl er selbst immer noch im Schatten schwamm. Hinauf, hinauf. In einer letzten gewaltigen Anstrengung erreichte er die Oberfläche, sprang aus dem Wasser, so hoch er nur konnte, breitete die Arme aus und segelte weiter.

Sein Geist schrie, als er hörte, wie der Räuber hinter ihm die Wasserlinie durchbrach, er spürte, wie sich der gewaltige Körper aus den Fluten erhob und ihm nachsprang. Der Nauraka flog, doch zu langsam, das begriff er, und er legte die Arme an, um wieder einzutauchen, nur so konnte er sich retten ... wenn der Räuber irgendwann der Jagd auf ihn müde wurde.

Kurz bevor der Nauraka das Wasser erreichte, kam der gigantische Fischleib mit einem gewaltigen Platschen auf, verfehlte ihn nur knapp – er hörte die Zähne klickend zuschnappen. Eine riesige Wasserfontäne stieg auf, während der Räuber langsam nach unten sank, und dann tauchte auch der Nauraka ein, doch bevor er losschwimmen konnte, erfasste ihn der enorme Sog, nahm ihn auf und zerrte ihn mit sich. Der Nauraka wurde hilflos herumgewirbelt und fortgerissen, mal war er obenauf, dann wieder unten, und schließlich, ganz zuletzt, wurde er noch einmal hinaus in die Luft geschleudert, und dann ...



... prallte er auf. Harter Boden, trocken. Der Nauraka rollte über den Boden, immer weiter weg vom rettenden Wasser. Er war so erschöpft, das Gewicht seines Körpers so schwer, dass er nicht gleich wieder zurückkonnte. Mühsam kroch er auf die Seelinie zu, die verlockend nah und doch unendlich weit entfernt war – das Wasser, das ihn verraten hatte. Die Luft wurde knapp, die Kiemen flatterten, allzuschnell trocknete alles aus. Er konnte nicht mehr zurück.

Der Nauraka riss den Mund auf und schnappte nach Luft, die Augen traten ihm aus den Höhlen. Dem Erstickungstod nahe, brach er zusammen, zappelte noch einmal und lag still.

Sein Mund schnappte immer noch auf und zu. 

Und plötzlich ... zog sich sein Brustkorb zusammen, Wasser sprudelte ihm aus Nase und Mund. 

Sein Brustkorb flatterte und pumpte, und mit einem pfeifenden Geräusch atmete er ein.

Und aus.

Ein.

Aus.

Dann schrie er.

»Neeiin!«