Kapitel 24

Ferlungar



Der große Wald rückte näher. Rowarn sah eine durchgehend grüne Wand, so weit das Auge reichte, die das Land in zwei Hälften zu trennen schien. Zahlreiche kleine Flüsse mäanderten durch das Grünland davor und bahnten sich ihren Weg zwischen den mächtigen alten Stämmen hindurch ins dunkle Innere. Laub- und Nadelbäume wechselten sich ab, schlanke und hohe Stämme, knorrige und dicke.

»Ferlungar«, murmelte er für sich. »Der Wald des Lichts und des Steins.«

»Manche sagen auch, Lúvenor sei einstmals durch ihn gewandelt, um dem Lied der Vögel zu lauschen, und sich im gesprenkelten Laubschatten auszuruhen«, erklang Angmors Stimme unerwartet in das bis jetzt andauernde Schweigen. »Der Wald entstand jedenfalls in der Frühzeit der Welt. Früher muss er fast dreimal so groß gewesen sein, aber es wurde inzwischen viel abgeholzt, und große Herden Grasfresser haben mitgewirkt, das Land neu zu gestalten.«

»Ich möchte auch gern wieder Liedern lauschen«, sagte Rowarn leise. Er vermisste Olrigs Poesie und Tamrons schöne Stimme.

»Es steht dir frei, selbst zu singen«, sagte der Visionenritter.

Rowarn schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nicht frei.« Er warf Angmor einen Blick zu. »Habt Ihr je gesungen?«

»Die Götter mögen es verhindern.«

Ein anderer Laut klang misstönend dazwischen, das unmissverständliche Knurren von Rowarns Magen. Kläglich legte er die Hand an den Bauch. Seit gestern Nacht hatte er nichts mehr zu sich genommen, und inzwischen war es fast Mittag. »Habt Ihr denn nie Hunger, Herr?«

»Geduld, junger Ritter. Sobald wir im Wald sind und keine Verfolger uns mehr finden können.« Angmor ließ Aschteufels Zügel lang und saß entspannt im Sattel. Der Hengst hatte sich bisher kein einziges Mal schlecht benommen. Er schien so überaus froh zu sein, seinen Herrn wiederzuhaben, dass er sogar seine Bösartigkeit vergaß, wenigstens für einen Tag.

Windstürmer kaute zufrieden auf seinem Gebiss und zockelte fröhlich dahin. Obwohl er lange Zeit kaum Bewegung gehabt hatte, schien seine Ausdauer keine Grenzen zu kennen – solange der Weg nur weg von der Gefangenschaft führte. Ab und zu drehte er leicht den Kopf und blinzelte glücklich mit einem dunklen Auge zu Rowarn hoch, als könne er es immer noch nicht glauben, wieder mit ihm zusammen zu sein. Seine Mähne war lang und zottelig, das Fell ungepflegt, aber das würde sich bald geben, wenn sie in dem von Angmor genannten Ziel angekommen waren.

»Was ist Farnheim?«, erkundigte sich Rowarn, um von seinem Hunger abzulenken.

»Ein Ort der Heilung und Ruhe«, antwortete Angmor. »Jeder von uns, die wir zumeist mit dem Schwert durch die Lande ziehen, kennt Farnheim, denn wir alle haben schon seine Hilfe gebraucht. Dort gibt es nur Frieden. Nicht einmal Femris würde es wagen, diesen heiligen Platz anzugreifen. Er ist neutral wie ein Freies Haus und steht jedem Hilfesuchenden offen, egal, welchem Volk er angehört. Die Herrin von Farnheim ist die edle Lady Arlyn, eine Frau von großer Heilkraft, trotz ihrer Jugend.«

»Lady Arlyn?« Rowarn horchte auf. »Den Namen habe ich schon einmal gehört, im Gasthaus von Madin.«

»Möglich. Ihre Schönheit wird vielerorts besungen, und natürlich hat sie zahlreiche Verehrer. Kann sein, dass der eine oder andere Barde sich bis nach Inniu verirrt hat und dort ein Lied über sie für Speis und Trank vortrug.«

Rowarn nickte. Ja, so musste es sein. Derlei Vorträge im Gasthaus hatte er immer besonders geliebt, denn sie erzählten von fernen, mystischen Gegenden, Heldentaten und wahrer Liebe. Er hätte natürlich nie angenommen, dass eine der Frauenfiguren, die in romantischen Liedern vergöttert wurden, tatsächlich lebte. »Sie hat nur Verehrer? Keinen Mann an ihrer Seite?«

»So heißt es. Ich kann es nicht beurteilen.«

Natürlich nicht, dachte Rowarn. Wer nie Hunger oder Durst hat, hat wahrscheinlich auch nicht viel für andere Freuden übrig. Bestimmt ist diese Rüstung schon fest mit seinem Körper verwachsen, und er kann sie gar nicht mehr ablegen. Aber er behielt diese Gedanken wohlweislich für sich.

Angmor, der ein sehr feines Gespür zu besitzen schien, bemerkte: »Deine Lebensgeister scheinen wieder zu erwachen.«

»Nicht für lange, Herr. Ich werde nämlich mangels Nahrung bald jämmerlich eingegangen sein, wie eine Topfpflanze, die keiner gießt.«



Der Visionenritter wählte nicht den direkten Weg, und Rowarn vermutete, dass ihnen inzwischen Verfolger auf den Fersen waren, die Angmor in die Irre führen wollte. Trotzdem kam der Wald immer näher. Rowarn hörte den vielstimmigen Gesang unzähliger Vögel, und er sah überall lebhafte Bewegung zwischen den Zweigen und über den niedrigeren Baumkronen. Nun verstand er und fühlte sich getröstet, denn hier schien es nichts Dunkles zu geben. Angmor hätte sie vermutlich an keinen besseren Ort führen können, auch wenn es ein wenig erstaunlich war, für einen finsteren Mann wie ihn. Rowarn vergaß sogar seinen bohrenden Hunger.

»Wie viel Zeit haben wir noch, Herr?«, fragte er, während er in Gedanken schon im Wald war.

»Sie sind fast da«, antwortete Angmor.

»Ist Heriodon dabei?«

»Nein, so wenig wie Tracharh. Wie es aussieht, haben sich die Donnervögel in Sternfall so wohl gefühlt, dass sie nach unserer Abreise zurückgekehrt sind und noch ein wenig dort kreisen.«

»Gut.« Rowarn lächelte grimmig. »Die Chalumi gibt es auch nicht mehr. Sie werden uns nicht aufhalten, nicht wahr?«

»Wir werden keine Schwierigkeiten haben«, versprach der Visionenritter. »Achte auf meine Kommandos.«

Sie hielten an und stiegen ab. Rowarn stellte sich mit gezücktem Schwert vor Tamrons Bahre. Aschteufel tänzelte mit rot aufgeblähten Nüstern. Er schien den Kampf kaum erwarten zu können. Angmor hatte das Flammenschwert gezogen und hielt sich ein gutes Stück abseits, eine gewaltige schwarze Statue vor tiefblauem Himmel.

Rowarn sah über den Hügeln im Westen eine Staubwolke nahen. Er zählte zehn ... fünfzehn Punkte, die rasch näher kamen. Dabei schwärmten sie zu einem Halbkreis aus.

»Aschteufel«, sagte Angmor, als sie nur noch zehn Speerwürfe entfernt waren.

Der schwarzgraue Hengst schien darauf gewartet zu haben. Er schnellte los wie ein Pfeil von der Bogensehne. Aus dem Stand galoppierte er mit wehender Mähne und schweren Hufen und wieherte donnernd. Er war bedeutend größer und schwerer als die Pferde der Dubhani und versetzte sie in Angst und Schrecken, als er mit vorgerecktem Kopf und angelegten Ohren auf sie zuraste. Einige fingen an zu bocken oder stiegen. Zwei Soldaten konnten sich nicht mehr halten und stürzten aus dem Sattel. Aschteufel fiel wie ein Sturm über sie her und zerstampfte sie, ohne dass sie Gegenwehr leisten konnten.

Die anderen Dubhani zogen die Waffen und beschleunigten, da kam Graum aus einer Senke gesprungen, in der er sich bis dahin im Wechselspiel von Licht und Schatten verborgen gehalten hatte. Der Schattenluchs sprang den Dubhani an, der am weitesten voraus war, und riss ihn zusammen mit seinem Pferd um.

Speerwerfer und Bogenschützen legten an, und in Angmor kam Bewegung. Er rief Rowarn ununterbrochen Befehle zu, wohin er ausweichen sollte, während er gleichzeitig die günstigste Distanz abwartete und dann in rascher Folge mit großer Wucht die Messer aus seinem Gürtel warf. Jedes Einzelne traf und holte einen Dubhani aus dem Sattel. Aschteufel und Graum nahmen die Angreifer von zwei Seiten in die Zange, und dann schlug Angmors Schwert das erste Mal zu.

»Was bleibt denn da noch für mich übrig?«, rief Rowarn. Speere und Pfeile pfiffen wirkungslos an ihm vorbei, während er nach vorn stürmte.

»Genug«, antwortete der Visionenritter. »Nimm den Soldaten mit dem Stachelhelm!«

Der junge Ritter gehorchte und griff den herannahenden Dubhani an. Mit einem Ohr war er immer bei Angmor und seinen Anweisungen; durch seine Hellsichtigkeit konnte der Visionenritter jede Bewegung rechtzeitig vorhersehen und Befehle geben. Dies hatte Ardig Hall in der letzten Schlacht beinahe den Sieg gebracht, doch dann waren Angmor und Femris gegeneinander angetreten und unter der Überbeanspruchung ihrer Kräfte zusammengebrochen. Die Verteidiger von Ardig Hall hatten der viele tausende Krieger zählenden Verstärkung Dubhans, die im letzten Augenblick eintraf, daraufhin nichts mehr entgegenzusetzen. Erst recht nicht durch den Verrat aus den eigenen Reihen, wie ihn Moneg begangen hatte.

Doch nun konnte Angmor wenigstens für kurze Zeit seine Gabe wieder einsetzen, und auf diese Weise dauerte der Kampf nicht lange. Keiner der Dubhani überlebte, während die Verteidiger nicht einmal einen Kratzer davontrugen. 

Rowarn empfand danach jedoch nichts, weder Triumph noch Erleichterung. Er war nur froh, dass es vorüber war und sie bald im Schutz des großen Waldes untertauchen konnten. Endlich die Splitterkrone und ihre Schrecken hinter sich zu lassen, war ihm unendlich wichtig, vorher würde er keine Ruhe finden. Er sah nach Tamron, der unversehrt und wie zuvor bewusstlos auf der Bahre lag. Aschteufel und Graum trabten heran. Sie schüttelten sich und wirkten zufrieden.

»Wir können weiter, Herr. Es ist alles in Ordnung.« Rowarn wollte gerade in den Sattel steigen, als er merkte, dass Angmor immer noch am selben Platz stand. »Aschteufel«, sagte der Visionenritter mit einem müden Klang in der Stimme. »Komm hierher.« Mit einer fahrigen Bewegung steckte er das Schwert in die Scheide und veränderte die Haltung nicht, als der Hengst bei ihm verhielt. Er streckte wie suchend die Hand aus.

Graum strich um die Beine seines Herrn und maunzte. Aschteufel schnaubte, dann stellte er sich an die Seite, bis Angmors Hand den Sattel berührte. Der Visionenritter zog sich mühsam hinauf und saß für einen Moment vornübergebeugt wie ein alter Mann.

Hastig saß Rowarn auf und lenkte Windstürmer, dem das angebundene Pferd mit der Bahre gehorsam folgte, an Angmors Seite. »Herr«, flüsterte er. »Sind wir jetzt wirklich sicher?«

»Für den Moment«, antwortete der Visionenritter mit dumpfer Stimme. »Bring uns in den Wald, Rowarn. Auf direktem Wege. Es ist gleich, welchen Durchgang du nimmst.«

»In welche Richtung halte ich mich dann?«

»Östlich. Graum wird dir helfen, er kennt den Weg nach Farnheim. Er weiß, wohin wir wollen.«

»Kann ich sonst etwas ...«

»Ich werde durchhalten«, unterbrach Angmor. »Ich kann für den Moment nur nichts sehen, das ist alles.«

Da war Rowarn ganz und gar anderer Ansicht. Aber er schwieg, lenkte Windstürmer voraus und steuerte einen schmalen Durchlass neben einem Bachlauf an.



Rowarn schien zu erwachen, als sie schließlich ins Innere von Ferlungar eintauchten. Das Land Valia blieb vor der Baumgrenze zurück, und dem jungen Ritter tat sich eine andere, in sich abgeschlossene Welt auf.

Der Wald war licht, zwischen den knorrigen, dicken alten Stämmen breiteten sich Unterholz und weite Grasflächen aus. Die Rinde der meisten Bäume war hell gestreift und faserig. Es gab auch glatte, schwarzweiße Stämme, die oft zu sehr hohen Nadelbäumen gehörten, deren Äste erst in schwindelnder Höhe ansetzten. Lianen, Orchideen- und Efeuschlingen verbanden das verwobene Astwerk. Die Blätter waren teils hell und dünn wie Papier, teils dick und fleischig. Es duftete atemberaubend nach Orchideen und deren Fruchtständen, nach Efeurosen, Winden und Prachtglocken. Nüsse, Beeren und Früchte, die Rowarn noch nie gesehen hatte, hingen schwer an Buschwerk und zierlichen Jungbäumen. Der Waldboden war mit Tierspuren übersät, und Rowarn entdeckte zahlreiche Käferarten, Vielfüßer und Ameisen. Im unteren Blattwerk zeigten sich prächtige Gottesanbeterinnen, schillernde Libellen schwirrten zwischen ihnen. Schmetterlingswolken schoben sich vor die Sonnenfächer und warfen taumelnde Schatten auf alten Laubboden. Honigsammler brummten dicht an Rowarns Ohr vorbei, schwer von Pollen. Und dazu die Vögel, in allen Größen und Farben, voller Prachtgefieder und Gesang.

Rowarns Sinne wurden überflutet, und er hatte das Gefühl, sich aufzulösen und in den flirrenden Lichtstrahlen davonzuschweben. Nach der Splitterkrone war dies hier purer, nie erlebter Überfluss.

»Verhungern werden wir hier nicht«, stellte er sachlich fest. Er sah sich immer wieder besorgt nach Angmor um, der kraftlos im Sattel hing und sich von Aschteufel tragen ließ. Rowarn fragte sich allmählich, ob der Kampf den Preis wert war. Aber vielleicht gingen die Anfälle ja zurück, wenn der Visionenritter Zeit zur Erholung gehabt hatte.

Graum ging nun voran, den dicken kurzen Schwanz steil erhoben, die langen Pinselohren gespitzt. Er lief kreuz und quer zwischen den Bäumen hindurch, ab und zu stieg er auch in Bachläufe. Die Pferde begrüßten das kühle Wasser, das um ihre Beine sprudelte, wohingegen der Schattenluchs jedes Mal die Pfoten abspreizte und kräftig ausschüttelte, wenn er das Wasser wieder verließ.

Rowarn hoffte, dass dies alles ausreichte, um weitere Verfolger abzuschütteln. Wann würden die nächsten sie einholen?

Liebliche Lichtungen wechselten sich mit dichten, dunklen Hohlwegen ab. Immer tiefer hinein ging es. Rowarn hatte längst jegliche Orientierung verloren, der Lichteinfall schien von überall zu kommen. Der allgegenwärtige Duft legte sich schwer auf die Sinne, machte ihn träge und beschwingt zugleich. Die Gedanken flossen davon, bevor er sie festhalten konnte, und ihm war zunehmend leichter zumute.

Kurz vor der Dämmerung hielt Graum auf einem freien Platz an. Eine kleine Lichtung mit weichem, braunem Boden, umgeben von dunklen alten Nadelbäumen. Es roch nach Pilzen, Tannöl und feuchter Erde. Am Rand rann ein Bach entlang, der in einen Tümpel mündete und am anderen Ende nach Norden abbog und im dichten Unterholz verschwand. Der Schattenluchs maunzte.

»Können wir hier rasten, Junge?«, fragte der Visionenritter. Seine ersten Worte seit dem Kampf.

Rowarn nickte, dann fiel ihm ein, dass Angmor das nicht sehen konnte. »Es ist ein guter Platz, Herr. Ich kann Feuer machen und darauf hoffen, dass man es nicht zu weit sieht.«

»So schnell werden sie uns hier nicht finden«, versetzte Angmor. »Dieser Wald hat seine eigenen Gesetze, vor allem nachts. Es gibt Wandellichter, Trugbilder und vieles mehr.«

Rowarn hoffte, dass er recht hatte. Er war besorgt, nachdem der erste Suchtrupp sie so schnell eingeholt hatte. Mit der Bahre kamen sie einfach viel zu langsam voran. Andererseits vermutete er, dass Angmor absichtlich verzögert hatte, um die Dubhani vor dem Wald zu stellen und niederzumachen. Nun hatten sie wieder einen Vorsprung, denn im Wald kamen die anderen auch nicht schneller voran. »Wartet einen Moment, ich bereite Euch ein Lager ...«

»Nicht nötig, Junge, Umhang und Rüstung sind mir Unterlage genug.« Immerhin schaffte er es diesmal noch, aus eigener Kraft abzusteigen, doch dann hielt er sich schwankend am Sattelknauf fest.

»Lasst mich Euch wenigstens helfen«, sagte Rowarn. Er sprang aus dem Sattel und führte Angmor zu einem dicken Stamm, half ihm, sich dort niederzulassen. »Ich werde etwas zu essen machen und ...«

»Ich brauche nichts«, lehnte der Visionenritter ab. »Sorge für dich, Rowarn. Alles, was ich benötige, ist Ruhe.« Er lehnte sich an den Stamm und legte die Hände an den Helm, stöhnte leise.

»Nehmt ihn ab«, forderte Rowarn ihn auf. »Ich kann es ertragen. Und ich werde schweigen.«

Angmor antwortete nicht mehr, er hatte bereits das Bewusstsein verloren.

Rowarn hob eine Grube in der Mitte des Platzes aus, sammelte Holz und trockene Zweige. Als das Feuer brannte, setzte er Wasser in dem Kessel auf, dann zerrte er mühsam Tamrons Bahre neben das Feuer. Der Lichtschein reichte kaum über den Rand der Grube, und es würde auch nur wenig Wärme spenden, deshalb deckte Rowarn den Unsterblichen gut zu. Anschließend sattelte er die Pferde ab. Sogar Aschteufel ließ ihn diesmal an sich heran. 

Zum ersten Mal war der junge Ritter dem aschgrauen Hengst ganz nahe und wagte es, ihn zu berühren. Sein glänzendes Fell war glatt, aber erstaunlich hart, und gewaltige Muskeln spannten sich darunter. 

Rowarn band die Pferde in ausreichendem Abstand in der Nähe des Baches an, und sie wälzten sich alle drei wohlig schnaufend, schüttelten sich und fingen dann an, den Bodenbewuchs abzurupfen. Rowarn verließ das Lager und machte sich auf die Suche nach Beeren, Nüssen und Früchten. Er wurde in der näheren Umgebung schnell fündig, sammelte auch Pilze, Kräuter und Wurzelgemüse. Der Wald bot alles, was er brauchte, und sein Magen knurrte in Vorfreude immer lauter. Ihm war schon schwindlig und leicht übel vor Hunger, doch er riss sich zusammen. Er würde nicht einmal die Früchte roh verzehren, weil er nicht wusste, ob sie so bekömmlich waren. Bald kochten Wurzeln, Pilze und Kräuter im Topf; die Früchte waren geschält und lagen in Blätter eingewickelt am Rand der Glut. Lediglich die Beeren schlang Rowarn schon gierig hinein, aber das verschlimmerte den Hunger nur noch mehr.

Bei Einbruch der Dunkelheit schlich Graum heran und legte Rowarn ein frisch geschlagenes Kitz vor die Füße. Der junge Mann war völlig überrascht. »Das wird heute ein Festmahl ...«, wisperte er froh und streichelte den Luchs zwischen den Ohren. »Einen treueren Freund als dich kann es kaum geben ...« Dann schaute er schuldbewusst zu Windstürmer, der seine Worte zum Glück nicht gehört hatte. »Na ja, zwei oder drei ...«, fügte er hinzu. Graum schnurrte, und es klang fast wie ein Lachen.

Rowarn zog den Balg ab, nahm das Kitz aus, schnitt das Fleisch klein und warf es in den Topf. Graum nahm die Innereien an, als er sie ihm anbot, und streckte sich dann neben seinem Herrn aus. Angmor schien tief zu schlafen, sein Atem ging ruhig und gleichmäßig.

Das Essen klärte Rowarns Sinne wieder. Er zwang sich, langsam und bewusst zu kauen, und seufzte erleichtert. Das Leben um ihn wurde allmählich ruhiger. Die Insekten waren mit den letzten Sonnenstrahlen verschwunden, und die Vögel suchten ihre Schlafplätze auf. Die ersten Nachtjäger huschten auf lautlosen Flügeln, Rowarn sah sie wie Schattenrisse zwischen den Bäumen schweben. Noch einmal kam Unruhe auf, als Baumfledermäuse schwatzend und lärmend erwachten, sich in dunklen Wolken sammelten und dann in den Tiefen des Waldes verschwanden. Ab und zu raschelte es im Gebüsch, hie und da war leises Knistern und Knuspern zu vernehmen, doch es waren nur zarte begleitende Geräusche zur Nachtruhe. Im Gegensatz zu Wäldern, die dicht bei Siedlungen lagen und bejagt wurden, waren die meisten Tiere hier tagaktiv, weil sie sich sicher fühlen konnten.

Es wurde sehr dunkel und windstill. Die dichten Nadeln der hoch über Rowarn aufragenden Bäume ließen kein Sternenlicht und keine Brise durch. Aus dem Boden kroch kühle Feuchtigkeit, die ihn näher ans Feuer rücken ließ, und er wickelte sich in die verbliebene Decke. Sein Magen war satt und zufrieden, aber in seinem Geist herrschte Tumult. Zu oft hatte Rowarn während der letzten Mondwechsel die Dunkelheit erlebt, und sie ängstigte ihn. 

Noch immer waren sie nicht weit genug von Sternfall entfernt, um sicher zu sein. Heriodon war ein Gegner, der nicht zu unterschätzen war. Er würde sicher alles daransetzen, seine wichtigsten Gefangenen wiederzubekommen. Tamron und Angmor aber waren keine Hilfe mehr, und Rowarn war nicht sicher, ob er in der Lage war, sie zu verteidigen. Gewiss, Graum und Aschteufel waren gefährlich, aber letztendlich waren auch ihnen Grenzen gesetzt.

Alles schlief. Von den Pferden kam kein Mucks mehr, Graum lag eng an seinen Herrn gedrückt, und Tamron regte sich ohnehin nicht. Es lag an Rowarn, Wache zu halten, und er sollte es besser die ganze Nacht tun. Schlafen konnte er morgen im Sattel. Und dann in Farnheim, falls sie jemals dort ankamen.

Keine Nachtruhe, ermahnte sich der junge Ritter. Du weißt, was in solcher Dunkelheit passiert. Sie findet dich.



Rowarn fuhr hoch – und sank sofort wieder zurück, als sich rasselnd die Ketten um ihn zogen. Entsetzt lag er für einen Moment still in der Dunkelheit. Dünne Drähte bohrten sich in seinen nackten Rücken. »Was ist geschehen?«, flüsterte er.

»Kannst du dir das nicht denken?«

Rowarns Herzschlag setzte für einen Augenblick aus. Er kannte diese Stimme. Rau und kalt. Grau, wie alles an diesem Mann. »Nein ...«

Ein kurzes, heiseres Lachen. Dann öffnete sich ein Schacht, ein Loch in der Mauer, und bleiches Licht fiel in einem schmalen Strahl herein. Rowarn lag in einem völlig kahlen Raum, umgeben von feuchtkalten Felsmauern. Er war nackt mit gespreizten Gliedern auf eine Art Drahtgeflecht gefesselt worden, so fest, dass er sich nicht bewegen konnte. Nicht weit entfernt saß Heriodon auf einem Stuhl. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, als Rowarn ihn voller Entsetzen anstarrte.

»Hast du ernsthaft geglaubt, du könntest mir entkommen?«, fragte der Graue. »Das wird dir nie gelingen. Du gehörst mir, Rowarn. Und wenn Femris dich eines Tages nicht mehr braucht, ganz und gar.«

»Aber wie habt Ihr mich gefangen?«, stieß Rowarn hervor. »Ich kann mich an nichts erinnern ...«

»Ich sagte dir, dass ich dich über das Gift der Chalumi jederzeit aufspüren kann. Und es gibt Mittel, die Vergessen schenken.«

»Wo bin ich hier? Und wo sind ...«

»Dies ist mein eigenes kleines Reich, Rowarn, und du bist ganz allein bei mir. Nur besonders Auserwählte erhalten die Ehre, hierherzukommen, und dazu gehörst auch du.« Heriodon stand auf, trat an die Liege und strich mit dem Fingerrücken über Rowarns Wange. »Schon seit sehr langer Zeit hatte ich keinen Schüler mehr wie dich«, sagte er sanft. »Du bist außergewöhnlich.«

»Ich bin nicht Euer Schüler!« Rowarn zerrte an den Ketten. »Was habt Ihr mit mir vor?« Seine Brust bewegte sich in heftigen Atemstößen auf und ab.

Heriodon strich darüber und führte die Finger an seine Lippen. »Angstschweiß«, wisperte er. Genießerisch leckte seine Zunge über die Fingerkuppe. »Süß und rein.«

Rowarn fühlte Ekel in sich aufsteigen. Gedemütigt und hilflos wurde ihm bewusst, dass keine Hilfe zu erwarten war. Für einen kurzen Moment wollte er darum betteln, ihm nichts anzutun. Einen Handel anbieten. Doch er wusste, Heriodon legte es genau darauf an, deswegen zögerte er den Moment der Folter hinaus. Es war vielmehr bereits ein Teil davon. Er wollte Rowarn zuerst halb verrückt vor Angst machen, bevor der Schmerz begann. Umso intensiver würde die Pein dann sein.

Das ist nur dein Körper, hatte Angmor gesagt. Solange du nicht zulässt, dass er deine Seele berührt, kann dir nichts geschehen. Das geht alles vorüber.

Rowarn wünschte sich, er könnte daran glauben. Aber dem war nicht so. Denn er war Heriodon endgültig ausgeliefert, Tag und Nacht, Stunde um Stunde. Es gab keine Möglichkeit mehr, sich abzulenken, sich zurückzuziehen. Der Graue hatte ihn völlig in seiner Gewalt, und er konnte mit ihm machen, was er nur wollte. Und das war vermutlich eine Menge. Natürlich würde Rowarn überleben, schließlich sollte er ... genau. Das war es! Der einzige Rettungsanker, der ihm blieb.

»Ihr könnt das nicht tun, denn Femris will mich lebend und bei Verstand, sonst bin ich nutzlos«, sagte er so gelassen wie möglich. Er versuchte, sich selbstbewusst zu geben, die Angst zu verdrängen.

Heriodon lächelte wieder. »Beides wird er bekommen, mein Schüler. Schließlich sollst du lernen, nicht zerstört werden. Ohne ein paar Verluste wird es natürlich nicht gehen, aber du brauchst dir keine Gedanken zu machen, du wirst auf nichts Lebensnotwendiges verzichten müssen. Deine Wunden werden selbstverständlich gut verheilt sein, wenn ich dich Femris abliefere. Vielleicht kannst du sogar noch laufen. Das hängt ganz davon ab, wie gelehrig zu bist.« Ein grausames Glitzern übertünchte die Kälte in seinen Augen. »Mit der ersten Lektion werde ich gleich beginnen. Das ist mein gutes Recht, nachdem du mich derart hintergangen hast – und meine geliebten Chalumi getötet. Darüber bin ich sehr erzürnt, und ich muss dich bestrafen. Du musst lernen, mir zu gehorchen.«

Rowarn versuchte, sich zu entspannen. An wunderbare Dinge zu denken. Sich aus diesem dunklen Kerker zu schleichen. Er musste nur seinen Körper dem Peiniger überlassen; sein Geist, seine Seele aber waren frei.

Nein, flüsterte Heriodon in seine Gedanken. Du bist nicht frei. Nackt und bloß liegst du in Ketten vor mir, Leib und Seele, und bist mein.

Dann berührte er Rowarn knapp unterhalb des Herzens und drückte leicht zu.

Zuerst war es nur ein Ziehen, wie Rowarn es bereits kannte und als Vorspiel fürchtete. Dann griffen eiskalte Finger in ihn hinein, schlossen sich um sein Herz und pressten es zusammen. Rowarn spürte, wie sein Herzschlag stockte, wie der Lebensmuskel sich krampfartig zusammenzog. Er bekam keine Luft mehr, sein Blutfluss hielt an. Alles in ihm erstarrte, während das Herz zuckte und kämpfte, um zu überleben. Alles schien aus ihm herauszufließen, er entleerte sich, sein Körper erstarrte im Krampf. 

Kurz bevor Rowarn starb, ließ Heriodon von ihm ab. Mit derselben Gründlichkeit, mit der er seine Folter anwendete, kümmerte er sich nun um Rowarns Wiederherstellung, wusch ihn, massierte die Muskeln, ohne jedoch die Fesseln zu lockern.

»Gut«, flüsterte er.

Und so setzte es sich fort. Abwechselnd setzte Heriodon die Finger ein, um Rowarns Nervenstränge zum Toben zu bringen, bis er nur noch ein wimmerndes, zuckendes und zitterndes Bündel war. Dann griff der Graue zum Messer, zu verschiedenen Formen, feinen Stilettos wie groben Klingen. Er versprach Rowarn, sein Gesicht zu verschönern, und um ihm zu zeigen, wie kunstfertig er im Schnitzhandwerk am lebenden Objekt war, begann er mit den Fingern des jungen Mannes. Er riss nacheinander alle Nägel aus und überlegte dabei laut, wozu fünf Zehen an jedem Fuß wohl gebraucht wurden.

Rowarn hatte geglaubt, nach dem ersten Nagel könne es nicht mehr schlimmer werden, er würde sich daran gewöhnen. Aber dem war nicht so. Er brüllte, bis er heiser war, und konnte dennoch nicht aufhören zu schreien. Vor lauter Blut konnte er kaum mehr etwas erkennen, nur Heriodons wildes, grausames Lächeln schwebte wie ein Lichtstrahl über allem.

Manchmal gab er Rowarn etwas zu trinken, das wie flüssiges, glühendes  Metall seine Kehle hinunterrann. Als sich dadurch ein Zahn entzündete und die Wange fiebrig anschwoll, packte der Foltermeister den Zahn mit Daumen und Zeigefinger und riss ihn aus. Triumphierend hielt er ihn hoch, während Rowarn Blut spuckte. »Nicht abgebrochen, was sagst du nun?« Dann trat ein neues Glitzern in seine Augen. »Wie sich der Schmerz wohl anfühlt, wenn der Zahn splittert und ich den Rest herausschneiden muss?« Rowarn wusste die Antwort bald darauf, doch er konnte sie nicht aussprechen.

Einmal, als Rowarn ganz sicher war, nun jeden Schmerz der Welt zu kennen, öffnete Heriodon seine Bauchdecke um eine Fingerlänge, zog ein bisschen und zeigte dem Gefolterten ein Stück seiner Eingeweide, erklärte ihm ausführlich, was gerade darin vor sich ging. Das Blut fing er in einer Schale auf und versprach sich davon ein vollmundiges Mahl. 

Jetzt ist es endlich soweit, dachte Rowarn in diesem Moment, ich darf sterben. Doch Heriodon ließ nicht zu, dass sich das Bewusstsein des jungen Mannes davonschlich. Mit derselben Sachkundigkeit, mit der er seinen Körper zerstückelte, hielt der Graue sein Opfer am Leben und heilte es, vernähte die Wunden, verabreichte Salben und Kräuter. Während Rowarn im Genesungsschmerz vor sich hindämmerte, kümmerte der Graue sich geradezu zärtlich um ihn. Bevor er mit dem Schneiden im Gesicht begann, presste er seine Hand plötzlich an Rowarns Genitalien und liebkoste sie mit schmerzhaftem Druck. »Falls du Sorge hast, dass du diese Lustspender verlierst«, wisperte er an Rowarns Ohr, »das werde ich natürlich niemals tun, denn allzu köstliche Genüsse harren deiner noch, mein liebreizender Schüler ...«



Rowarn verlor jegliches Zeitgefühl. Er wusste nicht, seit wann er gefangen war, wie lange er schon durch das Scíanshàn der Schmerzen ging. Es gab nur noch Bewusstlosigkeit oder Pein, nichts sonst dazwischen. Die Angst beherrschte ihn ununterbrochen, sie verließ ihn nicht einmal für einen Atemzug. 

Hoffnung gab es keine. Von außen drangen keine Geräusche herein, nicht das geringste Anzeichen, dass sich außer ihm und Heriodon hier noch anderes Leben aufhielt. Nicht in der Nähe dieser Kammer, jedenfalls. Es gab nur ihn und seinen Peiniger.

Aber so tief unten der junge Ritter sich auch wähnte, das Ende des Abgrunds war lange nicht erreicht. Es führte immer noch eine weitere Stufe hinab, in immer größere Schrecken.

Denn Heriodon war gar nicht allein. Er hatte eine Verbündete: In einer Ecke kauerte die Eliaha und wartete, mit schwarz gebleckten Zähnen und rasselnd keuchendem Atem. Als Rowarn sie bemerkte, gab er sich auf. 

Nun wusste er mit untrüglicher Sicherheit, dass er niemals entkommen konnte. So weit er inzwischen auch gereist war, sie spürte ihn immer auf. Rückte unaufhaltsam näher. Und wartete auf ihre Stunde. Die bald kommen würde.

Es war besser, nicht mehr dagegen anzukämpfen, sich nicht mehr zu wehren. Damit verlängerte er nur das Leid, aus dem es kein Entrinnen gab. Egal, was Heriodon nun anstellen mochte, es sollte das letzte Mal sein. Diesmal würde er entkommen, und zwar für immer.

Wimmernd lag er da, fühlte schon wieder den Schmerz nahen, der wie so oft ganz sanft begann, nicht mehr als ein sachtes Rütteln. »Weg!«, stieß er krächzend hervor. »Bitte, es soll aufhören ...«

»Rowarn«, erklang eine ferne Stimme, die tief in ihm nachhallte. Das Rütteln wurde stärker. »Rowarn

Es hörte einfach nicht auf. Rowarn fing an zu schreien.



... und schrie noch, als das Licht eines Sonnenstrahls in seine Augen stach. Über seinem Gesicht schwebte ein Helm mit gewaltigen gebogenen Widderhörnern. Rowarn hörte erst auf zu schreien, als der Visionenritter ihm eine kräftige Ohrfeige gab. Sein Kopf ruckte zur Seite, und die feine Haut auf Rowarns Oberlippe platzte auf. Warmes, bittersüßes Blut rann in seinen Mund.

»Nein ...«, winselte er.

»Junge, so komm doch endlich zu dir!« Angmors tiefe Stimme klang besorgt. Behutsam wischte er das Blut von Rowarns Lippe, dann packte er seine Schultern und schüttelte ihn leicht. »Das ist nicht wirklich, verstehst du? Du bist nicht dort. Er hat dich nicht in seiner Gewalt. Du bist im Wald, bei mir, und frei. Er ist weit fort und kann dir nichts tun. Erst recht nicht, solange ich bei dir bin.«

Rowarn blickte ihn durch den Schleier seiner Tränen an. Zaghaft wagte er zu begreifen. »Das hier ... ist wirklich? Kein Traum?«

Der Visionenritter nickte. Er setzte den jungen Ritter auf, lehnte ihn an sich und rieb mit schnellen, fließenden Bewegungen seine Hände, dann seine Brust. »Dein Herz hat schon fast aufgehört zu schlagen. Du musst jetzt wach bleiben, Rowarn, sonst wirst du sterben. Noch einmal kann ich dich nicht zurückholen. Darum musst du jetzt fest daran glauben, dass dies hier die Wirklichkeit ist und alles andere nur in deinem Kopf passierte. In einem Alptraum, der dir nichts mehr antun kann.«

Rowarn spürte, wie die Wärme in seine Glieder zurückkehrte. Vertrauensvoll blieb er an Angmor gelehnt, der fortfuhr, seinen Blutstrom in Schwung zu kriegen. Die mächtige Aura umhüllte ihn mit tröstlichem Schutz. »Aber ich habe ihn doch gehört ... gesehen ...« Es schüttelte ihn. »Und der Schmerz war so echt, all das Blut und ... und ...«

»Du hast zugelassen, dass er Macht über dich bekam«, brummte der Visionenritter. »Er hat dich dadurch aufgespürt und deine Ängste geschürt. Der Schmerz, den er dir zugefügt hat, war nur Einbildung.«

»Aber ich habe noch nie so Schreckliches ...«

»Rowarn, er hat dir zweimal echten Schmerz zugefügt, und die Erinnerung daran hat deine Angst vervielfacht und die Einbildung zur Wirklichkeit werden lassen. Heriodon hat dir aber nur gezeigt, was er mit dir machen kann, und du hast es geglaubt. Ich habe dich doch gewarnt, Junge, dass du das nicht zulassen darfst!«

Das war Rowarn kein Trost. Konnte er jetzt nie mehr schlafen? War es nicht genug, dass die Eliaha ihn verfolgte; nun auch Heriodon? »Wie ... lange?«

»Kurz nach Mitternacht fing es an«, berichtete Angmor. »Ich habe bis jetzt gebraucht, um dich zu Bewusstsein zu bringen. Kannst du allein sitzen?«

»Glaub schon.«

Der Visionenritter stand auf, wickelte seinen Umhang um den zitternden Rowarn und brachte dann das Feuer wieder in Gang. »Ein stärkender Tee, und wir können weiter. Wir haben noch einen Kranken, falls du dich erinnerst.« Er deutete auf die Bahre mit Tamron.

»Es tut mir leid«, murmelte Rowarn beschämt. Vorsichtig stand er auf, ein wenig wacklig, aber es wurde rasch besser. Er taumelte zu dem Tümpel, kniete dort nieder und betrachtete sein unversehrtes Spiegelbild, dann tauchte er den Kopf ins kühle, fließende Wasser. Er hatte das Gefühl, als würde der Bach die Dunkelheit in ihm mitnehmen. Zumindest für kurze Zeit. »Wir sind keine besonders schlagkräftige Truppe, nicht wahr?«, sagte er, als er zurück zum Feuer kam und sich wärmte. Immer wieder lauschte er nach innen, ob nicht doch ein Schmerz dort lauerte, aber es war vorbei. Wirklich vorbei. »Tamron bleibt bewusstlos, Euch plagen Anfälle von Blindheit, und ich bin in meiner Angst gefangen wie ein Kaninchen in seinem Bau, wenn alle Ausgänge durch einen Erdrutsch verschüttet wurden.« Dankbar fühlte er die Sonne auf dem Gesicht. Die kitzelnden Strahlen vertrieben auch noch den letzten Schrecken des Alptraums.

»Gut erkannt«, bemerkte Angmor. Er reichte Rowarn einen dampfenden Becher. »Ich werde weiterhin versuchen, uns zu schützen, aber das wird meine Kräfte umso schneller versiegen lassen und die Anfälle verstärken. Es ist nicht mehr weit, aber ich muss mich auf dich verlassen können. Wirst du das schaffen?«

Rowarn nickte. »Ja, Herr. Ich werde lernen, meine Angst zu beherrschen. Heriodon wird mich nicht mehr erreichen können.«

»Glaub endlich an dich, Junge. Du bist mutig und stark, und ... gut. In dir ist nichts Schlechtes. Wie könnte es auch.«

»Ihr meint, mit meiner dämonischen Hälfte?«

»Ich meine, mit deiner naurakischen Hälfte. Warum lässt du es zu, dass sie zurückgedrängt wird und schwächer ist? Umgekehrt sollte es sein! Die Dämonen in dir schaffst du dir ganz allein, Rowarn. Und damit verleugnest du alles, was du vorher gewesen bist: Ein intelligenter junger Mann mit Herzenswärme, der von den Velerii aufgezogen wurde. Warum sehen wohl die anderen das Gute in dir?«

»Seht Ihr das auch?«, flüsterte Rowarn. »Ihr seid der Einzige, der alles über mich weiß. Seid ehrlich zu mir.«

Angmor hielt für einen Moment inne und richtete die Augenschlitze auf ihn. »Ich habe dir alles gesagt.« Streng fügte er hinzu: »Zweifle nicht daran!«

Graum schlich auf Samtpfoten herbei und drückte sich schnurrend an Rowarn.

»Außerdem wärst du längst tot, wenn ich der Überzeugung wäre, dass du der Finsternis verfällst«, fügte Angmor nach einer Weile gelassen hinzu. »Bestrafe dich also nicht für etwas, das du nicht getan hast und nie tun wirst.«

»Ja, Herr«, sagte Rowarn; eingeschüchtert, verwirrt und seltsam froh.



Zum Frühstück gab es die Reste vom Vortag. Rowarn bot dem Visionenritter nichts an, weil er schon wusste, dass der ablehnen würde. Vermutlich war Angmor vor Mitternacht zu sich gekommen und hatte sich irgendwie versorgt. Wer wusste schon, was er benötigte? Zumindest war seine Sehfähigkeit zurückgekehrt, und er wirkte stark und energiegeladen.

Und ... er war für Rowarn da gewesen und hatte ihn aus Heriodons Klauen befreit. Ich bin nicht allein, dachte der junge Ritter. Niemals. Ich hätte mich nicht aufzugeben brauchen, denn es gibt immer Rettung.

Beinahe wäre er gestorben, und das nur an einem Alptraum. Das hatte Heriodon sicher nicht beabsichtigt, und letztendlich wäre Rowarn ihm auf diese Weise entkommen. Doch so war es sehr viel besser ausgegangen, denn er wollte leben, er durfte sich nie wieder aufgeben. Angmors Ratschläge sollten ihm helfen, den Schmerz als willkommene Lehre anzuerkennen und die nächste Stufe zu beschreiten. Raus aus dieser Dunkelheit, zurück ins Licht. 

Dazu brauchte es nur ein wenig Mut.

Niemand darf mehr über mich bestimmen. Von jetzt an will ich frei sein. Ich werde es nie mehr zulassen, dass jemand in dieser oder irgendeiner anderen Weise von meinem Geist Besitz ergreift!



Windstürmer sah fröhlich und erholt aus, und auch Aschteufel war wieder ganz der Alte. Er versuchte Angmor zu beißen, als der ihm den Sattel auflegen wollte, woraufhin sein Herr ihn eine Weile im Kreis trieb und rückwärtsgehen ließ, bis er sich zornig schnaubend unterwarf.

Rowarn konnte sich nicht zurückhalten, er musste einfach lachen, sich seiner Anspannung Luft machen, sie hinauspusten und forttreiben, genau wie den Alptraum. Wenn solche Begebenheiten möglich waren, dann durfte er auch zuversichtlich sein, dass sie tatsächlich entkommen konnten. Er baute das Lager ab, während Angmor die Trage wieder an dem braven Pferd befestigte, das den Visionenritter freundlich beschnoberte. Graum, der vor einiger Zeit verschwunden war, kehrte wieder zurück, setzte sich an den Rand und sah aufmerksam zu. Dann putzte er sich in aller Seelenruhe, bis auch Windstürmer gesattelt war und die Ausrüstung verstaut.

»Wenn wir in Farnheim sind ...«, fing Rowarn an, doch Angmor hob die Hand.

»Noch sind wir nicht mal dort. Dann erst werden wir nach verschollenen Freunden suchen und Pläne schmieden.«

»Besteht weiterhin Gefahr, dass wir im Wald aufgespürt werden?«

»Bald nicht mehr. Selbst wenn sie unsere Spuren finden, wird es ihnen nichts mehr nützen. Schon in wenigen Stunden erreichen wir ein Herrschaftsgebiet, das nicht jeder durchqueren darf.« Angmor saß auf. »Du wirst es sehen.«

Rowarn trieb Windstürmer an. »Herr Angmor, eines müsst Ihr mir aber verraten: Als wir gestern hierher kamen, wart Ihr blind. Wie könnt Ihr Euch zurechtfinden?«

»Ich bin nicht zum ersten Mal hier«, antwortete der Visionenritter.

»Na ja ...«

»Willst du reiten oder reden?«

Rowarn machte den Mund wieder zu. Das Geheimnis großer Helden war, dass sie sich möglichst geheimnisvoll gaben. Also schön. Er würde wieder einmal keine Antwort erhalten. Wenn er eines seit dem Aufbruch von Inniu gelernt hatte, so war es dies: Selten gab es eine direkte Antwort auf eine normale Frage.

Er folgte Angmor auf einem schmalen Pfad, sah nicht mehr links oder rechts, sondern ließ Windstürmer einfach gehen. Es war besser, der Musik der gefiederten Sänger und der Grillen zu lauschen, sich am Duft des alten Waldes zu erfreuen und an den schönen Baumriesen, deren knorrige Rindenstränge wie zu Mustern geknüpft schienen, von denen keine zwei gleich waren. Der Tag war sonnig und angenehm warm, für Wegzehrung war unterwegs ausreichend gesorgt. Rowarn erholte sich langsam wieder und erfreute sich zaghaft an Leben und Freiheit.

Gegen Nachmittag erreichten sie ein neues Gebiet. Die Bäume besaßen nun schlanke, hohe Stämme mit glatter, goldbrauner Rinde und fein gefiederten Blättern. Es gab nur wenig Buschwerk, stattdessen einen ausgedehnten Grasteppich, von farbenfrohen Blumen durchwoben. Die Luft war anders, irgendwie schärfer, kühler, und der Gesang verstummte.

»Du musst nun sehr vorsichtig sein«, warnte Angmor. »Berühre keinen Baum, reiß kein Blatt mutwillig ab oder mach sonst irgendeine Dummheit. Wir sind hier nur Gäste und auf der Durchreise. Halte also auch nicht an, und wenn dich irgendein Bedürfnis überkommt, halte dich zurück und schiebe es auf, bis wir hindurch sind.«

Rowarn nickte und reihte sich hinter ihm ein. Als sie die ersten Baumgruppen passierten, glaubte er hinter sich ein Knirschen und Knacken zu hören, wagte es aber nicht, sich umzudrehen.

Angmor lenkte Aschteufel im gleichmäßigen Tempo auf einem Tierpfad. Aus dem Knacken wurde ringsum ein Ächzen und Stöhnen, Raunen und Knurren. Windstürmer spitzte die Ohren und wurde nervös. Auch Rowarn fühlte sich nicht mehr wohl. Beruhigend tätschelte er den Hals des kleinen Falben. »Brav sein, mein Kleiner. Du hast in Schlachten keine Angst gehabt, jetzt schaffst du auch das.«

Wenn Gefahr drohen würde, hätte Angmor das bestimmt gesagt. Oder? Wer konnte sich bei diesem Mann schon sicher sein! Angmor mochte vieles nicht mal als Bedrohung ansehen, was Rowarn vielleicht schon umbrachte.

»Aufmerksam jetzt«, erklang Angmors Stimme in seine Gedanken, und er schrak zusammen. Also doch!

Rowarn blickte sich um. Die Bäume sahen schön aus. Manche waren kerzengerade gewachsen, andere wiesen Formen und Rundungen auf, als wären sie aus Wesen entstanden. Obwohl kein Wind wehte, wiegten sie sich sanft hin und her, neigten sich mit sacht rauschenden Wipfeln zueinander, als tuschelten sie miteinander. Die Äste mit den fein gefiederten Blättern bewegten sich wie vielzählige Arme.

»Nach links ausweichen«, kam ein schnelles Kommando.

Rowarn presste ohne zögern den rechten Unterschenkel an Windstürmer, der sofort reagierte und zur linken Seite wich, gerade so weit, dass sie den Pfad nicht verließen. Ein Ast zischte an der Stelle vorbei, wo die beiden ursprünglich entlanggekommen wären. Dem jungen Ritter schlug das Herz bis zum Hals.

Ab jetzt kamen die Befehle kurz und abgehackt und in schneller Geschwindigkeit.

»Rechts.«

Ein trockener alter Ast barst irgendwo oben mit lautem Knall und krachte herunter.

»Halt!«

Eine tückisch verborgene Wurzel schnellte aus dem Moos.

»Weiter, schnell!«

Windstürmer reagierte, bevor Rowarn ihn antreiben musste, und zockelte eilig Aschteufel nach.

Im Zickzack, mit abrupten Halts, Sprüngen und Seitengängen schlängelten sie sich durch den Wald. Das Knacksen, Knarren und Knirschen wurde zu einem zornigen Dröhnen. Als Rowarn sich doch einmal umdrehte, sah er den Pfad nicht mehr, als hätten sich die Bäume verschoben.

»Über den Graben, los!« 

Es war nur ein kleiner Spalt, gerade einen Schritt breit. Rowarn wurde trotzdem himmelangst wegen Tamrons Trage. Der Unsterbliche wurde ordentlich durchgeschüttelt, aber die Verschnürung hielt, und er regte sich nicht.

»Gleich wird es leichter«, erklang Angmors Stimme von vorn. »Das waren die Jungen, sie sind immer zu Streichen aufgelegt.«

»Oh«, machte Rowarn.

Stimmt, nun wurden die Stämme dicker, die Rinde hatte einen edlen, leicht rötlichen Braunton.

Ohne Vorwarnung hielt Angmor an, und Rowarn merkte, wie sein Pulsschlag in die Höhe schnellte. Unwillkürlich glitt seine Hand zum Schwertknauf. Der Visionenritter deutete vor sich. »Nun siehst du sie.«

Vor Rowarns staunenden Augen hob ein Baumriese seine mächtigen Wurzeln, zog sie aus dem Boden, bis sie ihn wie ein feines Netzmuster umgaben. Dann stemmten sich unzählige feine Verästelungen ab – und hoben den Baum an! Wie ein Tausendfüßer wuselten die Wurzelzehen über den Boden, überquerten den Pfad, und strebten auf einen anderen Baum zu, der ebenfalls seine Wurzeln gelöst hatte. Und dann ... trafen sie aufeinander. Ihre Wurzeln berührten sich, schlangen sich ineinander, und auch ihre Wipfel verschmolzen. Das Raunen und Knirschen, das Rowarn als zornig empfunden hatte, bekam nun eine ganz andere Bedeutung.

Und nun, da Pferd und Reiter still verharrten, bemerkte er auch, dass der ganze Wald in ständiger Bewegung war. Nicht nur, dass sich die Bäume hin und her wiegten, sie wanderten auch. Trafen zusammen wie diese beiden vor ihnen oder spazierten nebeneinander.

»Es sind Baumwanderer«, erklärte Angmor. »Dieser Bereich des Waldes ist ihre Heimat. Lúvenors Schöpfungen, mit denen er Ferlungar gründete, wie man sagt.«

»Die Bäume sind so alt?«, staunte Rowarn.

»Nein, sie leben nur etwa einhundert Jahre«, gab der Visionenritter Auskunft. »Aber jeder von ihnen besitzt die Erinnerungen bis zum ersten Baum. Sie sind ein ziemlich lebhaftes, geschwätziges Völkchen. Allerdings wandern sie nicht weit, weil es sehr kräftezehrend ist. Deswegen werden sie auch nicht alt, weil sie irgendwann zu groß und schwer würden, um sich fortzubewegen. Da hin und wieder irgendwelche unverbesserlichen, geldgierigen Abenteurer versuchen, das kostbare Holz zu schlagen, sind sie Eindringlingen gegenüber zunächst nicht sehr aufgeschlossen.«

»Das kann ich verstehen«, meinte Rowarn. 

»Aber wenn man zurückhaltend und höflich ist, so wie wir, gewöhnen sie sich schnell an Durchreisende und schenken ihnen kaum Beachtung.«

»Kann man sich mit ihnen unterhalten?«

»Gewiss, aber ich vermag es nicht.« Angmor schnalzte, und Aschteufel setzte sich wieder in Bewegung. Der Weg war breit genug, und Rowarn kam an seine Seite.

»Sie müssen über ein großes Wissen verfügen, und die Erinnerung an Lúvenor«, murmelte der junge Ritter. Er blickte zu Angmor. »Ist er wirklich fort?«

»Lúvenor? Nein. Das ist nur ein Gerücht, von jenen Göttern ausgestreut, die nach ihm kamen und ihm Waldsee streitig machten. Er ist noch da, Rowarn, und er sieht alles. Und ich glaube, sein Augenmerk ruht jetzt ganz besonders auf dir.«

»O nein, Herr, das ist zu groß für mich.«

Rowarn zuckte zusammen, als ihn plötzlich ein Ast streifte. Angmor hatte ihn nicht gewarnt, und er hatte nicht auf die Umgebung geachtet. Doch es war kein Angriff, sondern eine sanfte Berührung. Vielleicht Neugier? Er wagte es nicht, darauf zu reagieren.

Weiter ging es durch das Reich der Baumwanderer, und die Sonne kroch langsam ihren Rücken hinab. Schräg fielen die rotgoldenen Strahlen wie ein breiter Fächer zwischen den Stämmen hindurch und warfen die Schatten der Reiter an die Rinde, wo sie parallel mit ihnen von Baum zu Baum glitten. Nach einiger Zeit hatte Rowarn das Gefühl, als bewegten die Schatten sich mehr als die Reiter, die sie warfen. Und dann ... veränderten sie sich. Nicht mehr Pferd und Reiter bildeten sie ab, sondern kindlich aussehende Figuren, die von Stamm zu Stamm huschten, voraus und dann sogar zurück. Einige rannten wieselflink und kichernd vorüber, verschwanden im Dunkel und sprangen irgendwo hinter ihnen wieder in die Sonne. Manchmal wirkte es wie ein Wettrennen.

Windstürmer trippelte nervös, blickte sich um und schnaubte misstrauisch. Auch Graums Ohren drehten sich fortwährend, und seine Schnurrhaare zitterten.

»Was ...«, begann Rowarn.

»Baumschatten«, sagte Angmor. »Sie leben mit den Wanderern zusammen. Sie erwachen nur in der Westsonne.«

Rowarn sah plötzlich einen zweiten Schatten hinter seinem auf dem Scherenschnitt von Windstürmer sitzen. Der Schatten schien das Pferd anzutreiben, weil es ihm wohl zu langsam ging, aber das Schattenpferd beschleunigte kein bisschen. Daraufhin sprang er wie ein Zerrbild von Baum zu Baum und schlug neue Kapriolen, bis er sich kichernd über einen Ast davonschwang und mit den Blätterschatten verschmolz. »Sie haben ihren Spaß mit uns«, erkannte Rowarn lächelnd. »Verspielte Geister.«

Angmor nickte. »Der Geist von Ferlungar. Hier gab es noch nie Kampf und Krieg.«

»Dann sind wir jetzt in Sicherheit?«

»O ja.«

Es wird dir gefallen, hatte Angmor gesagt. Rowarn dankte ihm im Stillen. Er badete in den tiefen Strahlen der Sonne und ließ seinen Schatten mit den Geistern spielen.



»Heute werden wir zur Abwechslung in einem weichen Bett schlafen«, verkündete Angmor, als sie das Reich der Baumwanderer verlassen hatten. Er fuhr sich mit der Hand immer wieder über die Gesichtsmaske, und Rowarn vermutete, dass ihm das Augenlicht erneut zu schaffen machte. Die kurze Anstrengung, als der Visionenritter sie durch den Wald der jungen Baumwanderer geführt hatte, reichte aus, um ihn bereits wieder mit den Nachwirkungen kämpfen zu lassen. Ja, es war an der Zeit, zu einem Ort der Ruhe und Erholung zu kommen.

»Erreichen wir Farnheim?«

»Nein, dorthin brauchen wir noch zwei Tage. Wir kommen bald an einen anderen Ort, der uns eine ruhige Nacht bescheren wird.«

Rowarn war neugierig und konnte es kaum mehr erwarten. Kurz darauf mussten sie von den Pferden steigen, denn sie erreichten einen niedrigen Wald. Hier standen die Bäume dicht an dicht, die Wipfel ineinander verschränkt, und die Äste setzten sehr tief an. Trotzdem war es nicht dunkel, als sie eintraten, denn die Stämme waren sehr hell, fast leuchtend. Der Boden war lehmfarben und leicht sandig. Nichts wuchs auf ihm, und die Baumwurzeln waren tief darin vergraben. 

Rowarn kam sich vor wie in einem weitläufigen Haus, das lebte und aus vielen Säulen bestand. Hier drin war es sehr still, wie in einem Tempel. Kein Tier regte sich, nichts krabbelte über den Boden. Die tiefgrünen Blätter waren fleischig, die Äste so angeordnet, dass das Dach absolut dicht geschlossen war. Eine riesige, grüne Masse auf mehreren Ebenen. Trotzdem war es nicht beengend oder gar bedrückend. Rowarn fühlte sich auf seltsame Weise willkommen, wohl und sicher. 

Wieder einmal fragte er sich, wie Angmor hier hindurchfand, denn es gab keinen vorgezeichneten Weg, die Abstände zu den Bäumen waren genau gleich. Man konnte sich nicht am Sonnenstand, an Flechten oder Moosen orientieren, an überhaupt nichts. Jeder Baum sah aus wie der andere, selbst die verschlungenen Äste unterschieden sich kaum. Es war sehr beschaulich, das milde Licht der Rinde wirkte beruhigend. Draußen mochte es vielleicht schon dunkel sein, Rowarn hatte kein Zeitgefühl mehr. Aber er fürchtete sich nicht.

Schließlich veränderte sich die Umgebung etwas. Die Bäume wurden dicker und standen weiter auseinander. Das Dach blieb allerdings weiterhin völlig geschlossen, und die Äste wuchsen in so kurzen Abständen aus dem Stamm, dass es Rowarn unmöglich gewesen wäre, in den Wipfel eines Baums zu klettern.

Rowarn blieb abrupt stehen, als plötzlich eine junge Frau vor ihnen stand. Im Arm trug sie einen Korb mit verschiedenen Blättern und Früchten. Sie war klein, dunkelhaarig und musterte sie misstrauisch aus dunklen Augen. Die üppige Figur wurde von einem offenherzig geschnürten Ledermieder und einem kurzen Rock betont. Ihre Beine waren glatt, gerade und fest, die Füße in den Schnürsandalen zierlich.

Rowarn erkannte erstaunt, dass sie ein Mensch war. Alles hätte er hier erwartet, die erstaunlichsten, vielleicht unvorstellbarsten Wesen – aber Menschen gewiss nicht. 

»Was wollt Ihr hier?«, fragte die junge Frau zwar mit misstrauischem Klang in der hellen Stimme, aber trotz der finsteren, kriegerischen Erscheinung des Visionenritters ohne ein Anzeichen von Furcht.

»Ich möchte mit Gríadan sprechen«, antwortete Angmor mit tiefer, ruhiger Stimme. 

»Er hat Euch nicht angekündigt.«

»Melde ihm, der Waldlöwe sei gekommen.«

Staunen trat in die Augen der Dunkelhaarigen. »Ihr seid Angmor?«, fragte sie fast ehrfürchtig, dann glitt ein helles Strahlen über ihr glattes braunhäutiges Gesicht. Sie mochte etwa achtzehn Jahre alt sein. »Ich werde Euch gern anmelden, Herr!«

Mit wiegenden Hüften lief sie voraus und rief: »Papa! Papa! Angmor ist gekommen!«

Sie erreichten eine von Laub überdachte Lichtung, auf der ein großes Haus mit Anbau aus zahllosen kleinen Steinen errichtet war. In einem Vorgarten harkte ein Mann gerade ein Beet. Rowarn bestaunte das Haus, denn die Steine waren bunt und exakt bearbeitet worden, zu einem farbenprächtigen Mosaik, das viele Symbole und legendäre Gestalten zeigte. Einhörner, Drachen, Sternenkinder und viele mehr.

Der Mann legte die Harke ab und richtete sich auf. Er war kaum größer als seine Tochter, aber schwer und muskulös, ein Mann in den besten Jahren. Als er Angmor erblickte, trat Staunen auf sein breites Gesicht, dann eilte er dem Visionenritter entgegen. »Was für eine Ehre und Freude, Hoher Herr!«, rief er. »Gríadan wird außer sich vor Erleichterung sein. Er war sehr besorgt um Euch in letzter Zeit, und es schien, als könne er Euch nicht mehr sehen.«

»Weil ich nicht mehr sehen konnte«, sagte Angmor. »Ist es wohl möglich, eure Gastfreundschaft für eine Nacht in Anspruch zu nehmen?«

»Bleibt, solange Ihr wollt«, strahlte der Mann, drehte sich zum Haus und rief: »Tomi? Tomi! Wo steckt der Bengel nur wieder!« Er wandte sich an seine Tochter: »Mimi, geh Tomi suchen, dann bringt ihr die Pferde in den Stall und versorgt sie.«

»Wir haben auch einen Kranken«, warf Angmor ein und deutete nach hinten.

»Ah, der Mann auf der Bahre! Also, Mimi, dann such auch noch Kemi, und ihr bringt den edlen Herrn sofort auf ein Zimmer. Benötigt er eine Heilbehandlung?«

»Nein, er braucht nur Ruhe. Bettet ihn gut, das reicht schon.«

»Alles wird geschehen, Hoher Herr.« Der Mann klatschte in die Hände. »Spute dich, Mimi! Ich führe die Herren zu Gríadan.« Das Mädchen lief zum Haus. Der Mann verbeugte sich vor Angmor, dann vor Rowarn. »Verzeiht, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Remei, der Hüter von Grinvald. Was immer Ihr wünscht, sagt es mir, und ich werde mich bemühen, alles zu erfüllen.«

Aus dem Haus rannten ein etwa zehnjähriger Junge und ein junger Mann in Rowarns Alter herbei, gefolgt von der hübschen Mimi. Sie verbeugten sich artig und baten um die Zügel der Pferde. Rowarn staunte nicht wenig, als Angmor ausgerechnet dem Kleinen Aschteufels Zügel überreichte. Und er war völlig verdattert, als der riesige Schwarzgraue, unter dessen Bauch der Zehnjährige aufrecht hätte hindurchgehen können, Tomi fast freundlich anprustete und sich brav wie ein Lämmchen führen ließ.

Rowarn war überaus erstaunt, dass Remei und seine Kinder Menschen waren. An so einem Ort, als Hüter, hätte er das am wenigsten erwartet. Irgendwelche besonderen Kräfte mussten demnach in ihnen ruhen, das konnte er an der Ausstrahlung dieses Ortes spüren.

Remei führte sie ins Haus. Rowarn sah sich bewundernd um, denn alles war Mosaik – Boden, Decke und Wände, zu einem einzigen großen Gemälde zusammengefügt. Als lebe man Tür an Tür mit Fabelwesen und Angehörigen der Alten Völker. Ihre Augen schienen auf Rowarn zu ruhen und folgten jeder seiner Bewegungen.

Die räumliche Aufteilung war großzügig und freundlich. Eine große steinerne Treppe führte nach oben, über die Remei sie nun geleitete und an eine der Türen klopfte.

Von innen erklang eine helle Stimme: »Herein.«

»Geht nur hinein, ich lasse derweil eure Zimmer richten, und dann werdet ihr ein gutes Mahl in unserer Küche unten einnehmen«, sagte Remei und verschwand flugs.

Rowarn war nun sehr gespannt, als sie das großzügige Gemach betraten. Es war Arbeitszimmer und Schlafraum zugleich, voller Teppiche, bunter Vorhänge an den Fenstern und Strohblumen in Vasen verteilt auf Kommoden und kleinen Tischchen.

Hinter dem Arbeitstisch saß ein völlig haarloses, schneeweißes Wesen mit rötlichen Augen und einem kindhaft kleinen, lippenlosen Mund, der sich zu einem freundlichen Lächeln nach oben bog. Das Geschöpf schien halb menschenartig, halb Gestein zu sein, denn überall aus seinem Körper, auch am Kopf, traten weißlichgraue, bizarre Felskanten und Spitzen hervor. Als es den Arm zur Begrüßung hob, gab es ein Geräusch, als würde Sand zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben.

»Gríadan«, sagte Angmor – voller Freude, wie Rowarn verwundert zur Kenntnis nahm –, und er nahm den zierlichen Arm des kleinen Wesens behutsam zwischen seine großen schweren Hände. »Was für eine Freude, dich wohlauf zu sehen.«

»Die Freude«, sagte Gríadan mit hoher, fast kindlicher Stimme, »ist ganz auf meiner Seite, Freund Angmor. Remei hat dir sicher berichtet, in welcher Sorge ich war.«

»Ja, doch sie war unbegründet, wie immer.« Angmor wies auf seinen Begleiter. »Das ist Rowarn von Weideling, Ritter von Ardig Hall. Rowarn, das ist Gríadan, ein alter Freund des Ordens. Er besitzt die Gabe der Hellsicht und war der Vermittler der weit verstreut reisenden Brüder.«

»Außer in diesen Tagen, da alles dunkel geworden ist«, schränkte Gríadan ein.

Rowarn verbeugte sich. »Es ist mir eine Ehre, edler Herr.«

»Sei willkommen in Grinvald, junger Rowarn von Weideling, und bitte keine Förmlichkeiten. Ich bin nur Gríadan.« Der Schneeweiße winkte leicht mit knirschenden Gelenken und bat Angmor: »Wir sollten uns ein wenig unterhalten, bevor ich euch Remeis Fürsorge überlasse. Waldlöwe, bring mich in meinen bequemen Sessel dort drüben, und lass uns ein Glas Honigtau miteinander genießen. Berichtet mir von eurer Reise.«

»Gern.« Angmor ging um den Tisch und hob Gríadan auf. Der Schneeweiße verschwand geradezu in den mächtigen Armen. Rowarn sah, dass die Beine des kleinen Wesens fast vollständig versteinert waren, deshalb konnte es nicht mehr gehen. Behutsam setzte der Visionenritter den Schneeweißen in seinem bequem gepolsterten Sessel ab, dann holten er und Rowarn sich jeder einen Stuhl und setzten sich zu ihm.

Gríadan goss eine goldfarbene, dicke Flüssigkeit in drei kleine Gläser auf dem Tischchen neben dem Sessel und reichte ihnen je eines. »Auf den Frieden«, sagte er, und sie tranken.

Rowarn hätte in dem Honigtau am liebsten gebadet. Er glaubte, noch nie etwas so Wunderbares gekostet zu haben, das zugleich wärmte, erfrischte und belebte. Sämtliche Erschöpfung war wie weggeblasen, und eine stille Heiterkeit breitete sich in ihm aus.

Die rötlichen Augen richteten sich auf ihn. »Gut?«

»Herrlich«, entfuhr es ihm selig.

Dann erst fiel ihm auf, dass Angmor das Glas tatsächlich an die Mundöffnung seines Helms gehalten und getrunken hatte. Sein Glas war leer, und nirgends ein verschütteter Tropfen. Wie hatte er das gemacht? Das nächste Mal musste Rowarn besser darauf achten.

»Rowarn, erzähle Gríadan deine Geschichte«, forderte Angmor ihn auf, »bis zu diesem Moment, als wir hier eingetroffen sind.«

Rowarn war überrascht, fügte sich aber. Die Geschichte seiner Herkunft verschwieg er allerdings. Wenn Gríadan durch seine Gabe der Hellsicht dieses Wissen nicht längst erlangt hatte, brauchte er es nicht zu erfahren. Angmor respektierte das, denn er unterbrach Rowarn kein einziges Mal und ergänzte auch nichts.

»Eine interessante Geschichte und ein aufregendes Abenteuer«, bemerkte der Schneeweiße am Ende. »Ich würde dies gern durch Neuigkeiten vergelten, aber wie gesagt sind derzeit die hellen Wege verdunkelt. Ich kann nicht sagen, woran es liegt.«

»Dann kannst du mir nichts über meinen Fürsten berichten?«, fragte Rowarn enttäuscht.

»Noch nicht, junger Rowarn. Aber ich erwarte demnächst die Ankunft von Pyrfinn dem Läufer ...«

»Pyrfinn!«, unterbrach Rowarn erfreut. »Ich kenne ihn aus Ennishgar. Wenn einer meinen Fürsten finden kann, dann er!«

»Dann richte Pyrfinn aus, Gríadan, dass wir in Farnheim sind, und er soll dorthin kommen, mit allen Verbündeten, die wir noch haben«, sprach Angmor.

»Das werde ich gern tun. Ich freue mich, wenn ich euch wieder zu Diensten sein kann.«

»Mehr denn je«, brummte Angmor.

Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis Remei höflich anklopfte und mitteilte, dass das Essen vorbereitet sei und er sich nun um Gríadan kümmern müsse. Rowarn war schon aufgefallen, dass der Schneeweiße müde wirkte, und sie verabschiedeten sich.

»Er ist sehr krank, nicht wahr?«, sagte er zu Angmor auf dem Weg nach unten.

»Nein, er ist durchaus gesund. Es ist nur die Art seines Volkes, zu versteinern«, erwiderte Angmor. »Tief im Süden gibt es eine Ebene, wo seine Artgenossen zu Tausenden herumstehen und das Lied des Windes verkünden. An stürmischen Tagen kannst du ihren Gesang zwei Tagesreisen weit hören. Manche halten ihn für Prophezeiungen, doch sind die Worte selten verständlich. Man nennt das Land die Steinerne Harfe. Gríadan verweigert sich dem Übergang seit etwa tausend Jahren. Hier in Grinvald hat er ein Mittel gefunden, den Versteinerungsprozess zu verlangsamen. Aber zwischendurch hat er sehr schmerzhafte Schübe, und in einem davon scheint er sich gerade zu befinden. Eines Tages wird er es nicht mehr aufhalten können.«



Angmor trennte sich von Rowarn, als sie unten angekommen waren. Wie üblich würde er an der Mahlzeit nicht teilnehmen und wollte noch ein wenig nach draußen.

»Wo ist eigentlich Graum?« Rowarn fiel jetzt erst auf, dass der Schattenluchs nicht mit nach Grinvald gekommen war.

»Wir treffen ihn morgen auf der anderen Seite. Ich wünsche dir eine gute Nacht und Erholung, Rowarn. Wir sehen uns morgen früh wieder.«

»Ja, Herr. Wenn Ihr etwas braucht, gebt mir Bescheid.«

»Geh essen, Junge, dein Bauch ist ganz eingefallen. Und dann erwarte ich von dir, dass du gut schläfst. Ich habe keine Lust, noch eine Bahre mit unnützem Ballast mitzuschleppen.«

Rowarn grinste fröhlich und ging dann in die Küche. Der Holztisch war mit allerlei Köstlichkeiten beladen, mit geräuchertem Schinken, Grillfleisch, gebratenem Fisch und dazu zart gegartem Gemüse und eingelegten Früchten. Ohne weitere Umschweife stürzte sich Rowarn darauf, Höflichkeiten hin oder her, er hatte zu lange gedarbt. 

Remeis Kinder beobachteten den hungrigen Ritter mit einer Mischung aus Faszination und Belustigung.

»Wo habt ihr dasch allesch her?«, nuschelte Rowarn zwischen zwei Bissen und spülte mit einem kräftigen Schluck verdünntem Most nach.

»Zum Teil bauen wir es an, und dann jagen und sammeln wir, und manchmal kommen auch Händler«, klärte Kemi, der Älteste, ihn auf.

»Hierher?«

Tomi prustete. »Nee, draußen. Wir gehen raus. Auf der Ostseite führt eine alte Handelsstraße durch Ferlungar.«

Damit gab sich Rowarn zufrieden und aß begeistert weiter. Was für ein Genuss nach der langen Entbehrung! Angmor wusste gar nicht, was er sich entgehen ließ. Aber Olrig würde es nachempfinden können, wenn er ihm alles berichtete. 

Die beiden Jungen stellten ihm abwechselnd neugierige Fragen und erzählten auch ein wenig über sich. Mimi kauerte die ganze Zeit mit angezogenen Knien in einer Ecke und beobachtete Rowarn ausdauernd aus großen, dunklen Augen. Sie gab keinen Ton von sich, nur ab und zu kreuzten sich ihre Blicke.

Schließlich war Rowarn satt und todmüde. Die Aussicht, in einem Bett schlafen zu dürfen, kam ihm wie ein Wunder vor, das nicht länger aufgeschoben werden sollte. Gerade als er aufstehen wollte, kehrte Remei zurück und ließ ihn wissen, dass ein Bad gerichtet sei. Er führte den jungen Ritter nach oben zu seinem Zimmer, und durch eine Verbindungstür gelangte er in eine winzige Kammer mit einem Holzzuber, in dem duftendes Wasser dampfte.

Rowarn riss sich umgehend die schmutzigen Kleider vom Leib und tauchte glücklich unter. Morgen musste er zwar die zerschlissenen Sachen wieder anziehen, aber vielleicht gab es in Farnheim Ersatz. Wenigstens kam er dort nicht ganz so heruntergekommen und stinkend wie ein seit Jahren umherziehender Bettler an.

Anschließend kroch er unter die weißen Laken und streckte sich wohlig aus, mit sich und der Welt im Reinen. Er hatte den Kopf noch gar nicht richtig aufs Kissen gebettet, als er schon schlief.



In der Dunkelheit erwachte Rowarn. Die Kerze auf dem Nachttisch war heruntergebrannt, und vor dem Fenster draußen gab es keinen Lichtstrahl. Rowarn gähnte und reckte die Glieder, er hatte tief und ruhig geschlafen, mit einem Gefühl der Geborgenheit wie schon lange nicht mehr.

Da merkte er, wie die Tür sich leise öffnete. Das Geräusch des heruntergedrückten Griffes hatte ihn wohl geweckt. Vom Flur fiel ein dünner Lichtstrahl herein, und er erkannte undeutlich ... den Körper einer Frau.

»Mimi?«

»Psst«, zischte sie und schloss die Tür. Er hörte an ihrem Atem, wie sie näher kam. Dann lüpfte sie seine Decke, und gleich darauf fühlte er ihre nackte warme Haut an seiner. Erschrocken hielt er sich für einen Moment ganz still.

»Was hast du vor?«, wisperte er zaghaft.

Sie lachte leise. »Dich wärmen, was sonst?«

»Aber ... aber dein Vater ...«

»Muss er das wissen?«

Er spürte ihre vollen, schweren Brüste, als sie sich an ihn drückte, und seine Kehle wurde auf einmal eng und erschwerte das Atmen. Seit langer Zeit war ihm keine Frau mehr so nahe gewesen, und sein Körper reagierte nach ein paar Stunden erholsamem Schlaf augenblicklich.

Sie knabberte an seinem Ohr, ihre Hand strich über ihn, tastete seine Muskeln ab, flatterte über seine glatte Haut. »Dieses Schimmern ist unglaublich«, flüsterte sie. »Wie reines Perlmutt. Ein Händler zeigte mir das einst. Es hatte den Wert eines Königreichs. Du bist kein Mensch, nicht wahr?«

»Nein.«

»Sag, bist du ein Krieger?«

»Ja, ich bin Ritter.«

»Dann verstehst du es gewiss, mit dem Schwert gut umzugehen?«

»Äh ...«, war alles, was ihm zu dieser unverhohlenen Anzüglichkeit einfiel, denn gemeinsam nackt im Bett und zu dieser Stunde war die Frage wohl kaum wörtlich gemeint. 

Sie kicherte verhalten. »Im Kampf bist du gewiss nicht so schüchtern. Vielleicht kann ich dich herausfordern?«

Er merkte, wie sie sich aufrichtete und ihr Gesicht näher an das seine schob. Ihr Atem strich über seine Wangenknochen. Rowarn sah zu ihr auf, ihre kleinen Zähne waren ein matter Lichtpunkt in der Dunkelheit. »Großer Geist des Baums, das ist erst recht unvorstellbar«, schnurrte sie träumerisch. »Was für Augen ... Bist du ein Gott?«

»Unsinn ...« Er legte den Arm um sie, zog ihren Kopf zu sich herab und küsste sie.

»Ich habe noch nie einen so wunderschönen Mann wie dich gesehen«, seufzte sie, als er sie wieder zu Atem kommen ließ. »Ist dies nur ein Traum?«

»Nein«, sagte er rau. »Und wenn doch, dann möchte ich nicht erwachen.« Seine rechte Hand liebkoste ihre Brust, spielte mit der bereits aufgerichteten Knospe, die unter seiner Berührung sichtlich erblühte. Er zuckte zusammen, als ihre Hand zu seinen Lenden hinabglitt, sein zuckendes Glied umschloss und streichelte. Hingegeben schloss er die Augen. 

Ihre Lippen saugten sich an seiner haarlosen Brust fest. »Und doch muss Lúvenor dich hierher geschickt haben ...«

»Lúvenor ist weit fort, wie der Sternenhimmel an diesem Ort. Aber wir sind wahr und lebendig, und einander ganz nah.« Die Erregung drohte ihn zu übermannen, und an ihrem beschleunigten Atem erkannte er, dass sie ebenfalls bereit war. Er drehte sich und beugte sich über sie, und sie wand sich leise gurrend, als seine Zunge über ihren Körper glitt, seine Hand zwischen ihre samtigen Schenkel tastete. Ja, er lebte, und keine Dunkelheit würde ihn in dieser Nacht schrecken, keine Alpträume ihn heimsuchen. Er musste den Göttern danken, die ihm dieses Geschenk gemacht hatten, um ihm die Angst zu nehmen. Seine Arme schlangen sich um Mimis weichen, warmen Körper. Sie öffnete sich ihm willig und hob ihr Becken, als er suchend tastete und schließlich in sie hineinfand. Er stöhnte glücklich auf und ließ sich davontreiben.



»Als die erste Sonne aufging

Als der erste Regen fiel

Als der erste Samen spross

Als die erste Blüte wuchs

Sah ich dich.


Als der erste Kranich flog

Als der erste Büffel graste

Als das erste Haus entstand

Als die erste Frau gebar

Liebte ich dich.


Als der erste Baum fiel

Als der erste Mann starb

Als die erste Mauer barst

Als das erste Reich brannte

Verlor ich dich.


Als das Land tot war und still

Als das Gras verdorrte

Als die Götter flohen

Als der letzte Titan ging

Suchte ich dich.


Wenn der letzte Stern erlischt

Wenn es kalt ist und leer

Und Finsternis herrscht

Werden wir uns finden.«


Rowarn lauschte träumend Mimis zartem Gesang, während er ihren Rücken streichelte. Ihr Kopf ruhte an seiner Brust, ihre Hand lag auf seinem Nabel, und er spürte die Kraft, die von ihr auf ihn überging. Er schöpfte gierig aus ihr.

»Glaubst du, dass die Finsternis siegen wird?«, fragte er leise.

»Gríadan sagt, der Traum wird enden«, wisperte sie. »Es gibt nur einen, so viel weiß Gríadan, der dies verhindern könnte. Er ist schon unter uns im Traum, doch trotzdem bietet auch er nicht mehr als eine vage Hoffnung. Niemand kann vorhersagen, was geschehen wird, denn da ist immer noch der Schwarze Herr des Flammenthrons, und er ist unberechenbar. Mehrmals hielt man ihn für tot, doch er kehrte immer wieder zurück.«

»Ich glaube, Femris will ihm den Weg hierher ebnen, damit Waldsee zur Bastion der Finsternis wird«, murmelte Rowarn.

»Das ist gewiss, sagt Gríadan. Sollte es tatsächlich geschehen, wird es den Untergang beschleunigen, befürchtet er, und noch ist der Eine nicht so weit, sich der dann erwachenden Schlafenden Schlange zu stellen. Doch wenn es wirklich endet, werden wir es nicht mehr wissen, weil unsere Lebenszeit längst vergangen ist, und das mag ein Trost sein.« Sie lachte sanft. »Ich brauche nicht ängstlich zu sein, denn ich bin nur ein Mensch, und Gríadan spricht von Jahrtausenden. Jahrtausende immerhin dauert nun auch schon der Krieg um das Tabernakel.«

»Du bist nicht nur ein Mensch«, widersprach er. »Wenn du hier in Grinvald lebst, musst du etwas Besonderes sein, ebenso dein Vater und deine Brüder.«

»Wir sind lediglich Diener.« Sie küsste seine Brust. »Du kannst nicht bleiben, nicht wahr? Nicht einmal ein paar Tage?«

»Nein, Mimi. Ich denke, du weißt, warum.« Er drehte sie auf den Rücken und drängte sich an sie. »Aber diese Nacht bin ich hier«, wisperte er an ihrem Ohr. Sein Hunger, erst einmal erwacht, konnte nicht so schnell gestillt werden. Mimi seufzte hingegeben, als er erneut in ihre Wärme eintauchte.

Kurz vor dem Morgengrauen entschlüpfte sie nach einem letzten Kuss seinen Armen, und Rowarn schlummerte ein, ohne Traum und Angst.



Angmor saß bereits in der Küche, als Rowarn gähnend erschien und einen guten Morgen wünschte. Durch das geöffnete Fenster drang Tomis kindliche Stimme herein; er spielte draußen und sang dabei einen fröhlichen Reim.

»Sind wir allein?«, fragte der junge Ritter, während er Kräutertee eingoss, ein Stück Brot nahm und sich herzhaft aus dem Honigtopf bediente.

»Ja, sie haben alle zu tun. Unter anderem satteln sie unsere Pferde«, antwortete der Visionenritter. »Ich habe mich gestern noch lange mit Gríadan unterhalten, und gemeinsam gelang es uns, einen kleinen Blick in die Zukunft zu werfen. Mit dem Ergebnis, dass Gríadan nun halb versteinert daliegt und ich wieder einmal blind bin. Aber immerhin ohne Schmerzen, das ist schon ein Fortschritt.«

»Das tut mir leid«, sagte Rowarn sorgenvoll. »Ihr müsst Euch mehr schonen, Herr. Es kann nicht mehr lange so weitergehen.«

»Wir sind bald in Farnheim, da habe ich Schonung genug«, versetzte Angmor. »Ich weiß nicht, ob meine Sehkraft heute noch zurückkehrt, aber der Weg ist nun einfach. Mimi hat sich angeboten, uns zur Handelsstraße zu bringen, und dann müssen wir dieser immer nur folgen.«

»Und was habt Ihr und Gríadan gesehen, Herr?«

»Nichts Gutes, leider. Wir haben einen langen, schweren Kampf vor uns, dessen Ausgang ungewiss ist. Alles ist in ständiger Bewegung, die Bilder verschwommen, weil noch einige Entscheidungen fallen müssen, die erst über den Fortgang bestimmen werden. Und es ist ein Verräter unter uns.«

Rowarn horchte auf. »Ja, Gonarg, der sich bei Noïrun als Ragon eingeschlichen hat.«

»Nein, der ist es nicht. Ein anderer.« Angmor machte eine abwägende Geste. »Er wird unter denjenigen sein, die sich in Farnheim zusammenfinden. Es wird schwer sein, ihn zu entlarven. Falls es uns überhaupt rechtzeitig gelingt.«

Der junge Ritter war zutiefst beunruhigt. »Habt Ihr keinen Hinweis bekommen? Etwas, woran man ihn erkennen kann?«

Angmor schüttelte langsam das Haupt. »Nichts. Allein auf den Verräter aufmerksam zu werden, kostete Gríadan und mich schon fast alle Kräfte. Er kann sich entweder selbst hervorragend tarnen, oder er wird von Femris mit ausreichendem Schutz versehen. Wenn wir ihn nicht rechtzeitig finden, wird er großes Unglück über uns bringen.«

Für eine Weile herrschte Schweigen. Dann sagte Angmor eindringlich: »Rowarn, du musst mir hier und jetzt schwören, dass du mit niemandem darüber sprechen wirst, nicht einmal mit Noïrun.«

»Habt Ihr ihn etwa im Verdacht?«, brauste Rowarn auf.

Der Visionenritter hob beschwichtigend die Hand. »Selbstverständlich nicht. Aber du musst die Suche allein mir überlassen. Ich habe es dir nur deshalb gesagt, weil es dich betrifft.«

»Mich?«

»Junge, bist du über Nacht zum Tölpel geworden? Du bist der Erbe von Ardig Hall! Wenn der Verräter das herausfindet, ist dein Leben keinen Fingernagel mehr wert. Deshalb sei ständig auf der Hut, halte Augen und Ohren offen. Doch du musst schweigen, das ist von höchster Wichtigkeit. Also schwöre es mir.«

»Ich ...«

»Schwöre!«, donnerte Angmor, dass es Rowarns Innerstes erschütterte und die Tischplatte zum Vibrieren brachte, und er stotterte erschrocken: »Ich ... ich schwöre, Herr. Ich werde schweigen.«

»Du wirst es bereuen, wenn du diesen Schwur brichst. Also halte dich daran.«

Rowarn straffte sich stolz. »Ich bin Ritter, Herr, und habe Ehre. Wenn ich schwöre, bin ich daran gebunden, bis Ihr mich davon freigebt. Zweifelt nicht daran!«, gab er Angmor seine eigenen Worte empört zurück.

»Nun gut«, brummte Angmor und gab sich damit zufrieden. »Beenden wir das Thema.«

Rowarn war das nur allzu recht. Er wollte jetzt nichts von düsteren Visionen und nebulösen Verrätern wissen, sondern sich noch ein wenig Seelenruhe bewahren. Er goss sich und dem Visionenritter Tee nach. »Ihr habt sicher schon gegessen, hoffentlich auch von diesem köstlichen Honig. Ich dachte bisher immer, der Honig von Weideling wäre der beste, aber dieser hier ...«

»Ich habe Mimi schon darum gebeten, uns ein wenig davon mitzugeben, einschließlich eines Schlauchs Honigtau. Greif zu, Junge, du scheinst es brauchen zu können. Nach all den Torheiten, die du heute bereits von dir gegeben hast, scheint das Blut aus deinen Lenden noch nicht ganz in deinen Verstand zurückgekehrt zu sein.«

Rowarn war verdutzt über diese unverblümte Anspielung, entschloss sich aber, nicht darauf einzugehen. Das ging Angmor schließlich überhaupt nichts an. Und wahrscheinlich hatte er es sowieso ganz anders gemeint. Rowarn konnte sich den Visionenritter beim besten Willen nicht in Verbindung mit körperlichen Genüssen vorstellen. »Ich fühle mich sehr gut, Herr.«

»So? Bist du überhaupt in der Lage, weiterzureiten?«

Rowarn merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. »Selbstverständlich. Warum denn nicht?«, fragte er gereizt.

»Nun, ich hatte nicht den Eindruck, dass du letzte Nacht viel geschlafen hast.«

Also doch. Rowarn wurde knallrot, das konnte er fühlen, und war froh, dass Angmor es nicht sehen konnte. »Woher wisst Ihr ...«, stieß er verlegen hervor.

Der Visionenritter stieß ein Geräusch aus, das Rowarn als Lachen deutete. »Mein Zimmer lag neben deinem. Es war nicht zu überhören, welches Vergnügen du Mimi bereitet hast.«

Rowarn sah sich nach einem Mauseloch um, in dem er verschwinden konnte, doch er fand keines. In den feinen Mosaikmustern gab es keine einzige Lücke, alles war ein einziges harmonisches Bild. Bis auf den Umstand, dass der Visionenritter, sonst so düster und distanziert, sich über ihn amüsierte. Rowarn hätte ihm das nie und nimmer zugetraut. Wahrscheinlich hatte er letzte Nacht dem Honigtau allzu ausgiebig zugesprochen, und das erklärte seine Verfassung heute Morgen – er war verkatert, nicht blind, und wusste nicht recht, was er sagte. »Also, Herr ...«, protestierte Rowarn schockiert und sprang auf. »Ich glaube, ich sollte besser meine Sachen packen.«

»Ja, wir müssen aufbrechen«, stimmte der Visionenritter zu, aber Rowarn glaubte immer noch, ein verstecktes Lachen in seiner Stimme zu hören. »Und verabschiede dich von Gríadan.«

Vielleicht hatte Angmor ihn auch nur von düsteren Gedanken ablenken wollen; wenn es so war, war es ihm jedenfalls ausgezeichnet gelungen. Rowarn ergriff die Flucht.



Gríadan antwortete sofort auf sein zaghaftes Klopfen. Rowarn fand den Schneeweißen aufrecht in seinem Bett sitzen, ein zartes, zerbrechliches Wesen trotz der versteinerten Auswüchse.

»Ich hoffe, du konntest ein wenig Kraft schöpfen«, sprach der Hellsichtige mit einem sanften Lächeln. Seine rötlichen Augen schimmerten freundlich. »Du bist jederzeit willkommen in Grinvald, Rowarn von Weideling.«

»Ich danke dir«, erwiderte dieser scheu und ging vorsichtshalber nicht auf das für ihn inzwischen heikle Thema ein. »Wir haben uns ja kaum gesprochen ... aber sicher kennst du mich durch deine Hellsicht sehr gut ...«

Gríadan lachte leise. »Nun, die letzte Nacht offenbarte einiges an Visionen, auch, was du mir verschwiegen hattest. Aber ich werde dir nichts darüber sagen, um dich nicht zu beeinflussen. Doch der Tag rückt näher, an dem du eine Entscheidung treffen musst, das ist dir sicherlich bewusst?«

»Man muss immer Entscheidungen treffen, Gríadan.« Rowarn setzte sich nach Gríadans Aufforderung an die Bettkante. Das schneeweiße Geschöpf war nur halb so groß wie er, aber es strahlte Würde und Weisheit des Alters aus. »Ich möchte trotzdem eines fragen: Werde ich Nachtfeuer begegnen und meine Rache vollenden können?«

Gríadan musterte ihn abschätzend. »Ist deine Rache nach wie vor das, was dich am meisten beschäftigt?«

»Es geht um mich und meine Mutter, wie kann es unbedeutend sein?«

»Du kannst Nachtfeuer nicht besiegen, Rowarn. Niemandem ist das je gelungen.«

»Es gibt immer ein erstes Mal ...«

»Rowarn.« Gríadans sanfte Kinderstimme drang durch die Mauer in seinem Herzen. »Klammere dich nicht daran. Wenn du dem Hass in dir Freiraum gewährst, wächst die Dunkelheit und schafft die Verbindung zu Heriodon. Noch weiß Femris nichts von dir, und das sollte zumindest eine Weile so bleiben. Rache macht deine Mutter nicht mehr lebendig.«

Hilflos ballte Rowarn die Faust. »Er hat es nicht verdient, ungestraft davonzukommen!«

»Das wird er nicht. Wir alle müssen bezahlen, früher oder später. Ein Dämon ist ein sehr fremdartiges Wesen, Rowarn. Versuche es erst zu verstehen, bevor du es verurteilst.«

»Er hat mich gezeugt«, flüsterte der junge Ritter. »Und dann brachte er meine Mutter um. Wieso sollte er zögern, mir dasselbe anzutun? Da gibt es nichts, was unverständlich ist für mich, und das Nachsicht verdient. Wie kann ich damit leben, dass meine männliche Hälfte seinem abscheulichen Samen entstammt? Wie kann es Hoffnung für mich geben?«

Gríadan schwieg, und Rowarn hatte den Eindruck, dass ihm etwas auf der Seele lastete. »Was weißt du?«

»Du musst gehen, junger Freund«, wich der Hellsichtige aus. »Die Sterne mögen deinen Weg erleuchten.« Plötzlich sah er sehr müde aus, und Rowarn stand auf.

»Verzeih, Gríadan, du hast recht. Ich denke immer nur an mich. Eines Tages mögen wir uns unter besseren Voraussetzungen wiedersehen, und wenn ich dir einen Gefallen erweisen kann, werde ich ihn erfüllen.«

»Alles Gute für dich, Rowarn von Weideling.«



Sie warteten schon alle auf ihn. Tamrons Bahre war angebunden, die Pferde gesattelt, das Gepäck am Sattel. Der Abschied von Remei und den Söhnen fiel herzlich aus, und sie winkten den Reisenden nach, als sie zu Fuß, die Pferde am Zügel, aufbrachen.

Mimi führte sie Richtung Osten. Aschteufel ging hinter ihr, Angmor neben seinem Hengst, die Hand am Sattel. Sein Schritt wirkte kaum unsicher; allmählich schien er sich an die Dunkelheit vor seinen Augen zu gewöhnen. Vielleicht wurde es auch bereits wieder besser – er wirkte keineswegs so erschöpft wie in den letzten Tagen. Hinter dem Schwarzgrauen zockelte Windstürmer, den Zügel am Sattelknauf angebunden, das Lastpferd im Gefolge.

Mimi und Rowarn gingen vorn Hand in Hand, und er lauschte aufmerksam, was sie über Ferlungar zu erzählen wusste. Im Gegenzug hing sie an seinen Lippen, als er an der Reihe war und von Inniu berichtete, und dem weiten Land. Die beiden jungen Leute vergaßen bald den Visionenritter völlig, der schweigend hinter ihnen auf Distanz wanderte. Sie waren versunken in ihrer eigenen Welt der Jugend, als gäbe es keinen Kampf und Krieg, keine Verantwortung und große Pläne. Sie lachten und scherzten und stellten viele Gemeinsamkeiten fest, vor allem bei Erlebnissen, als sie noch Kinder gewesen waren.

Nach etwa zwei kurzweiligen Wegstunden erreichten sie die Handelsstraße. Es war ein breiter, festgestampfter Weg, auf dem gut zwei Pferdekarren nebeneinander Platz hatten, und er wand sich durch offenen, im Wind rauschenden Mischwald. Vogelgesang und lebhafte Geräusche waren wieder da, ebenso die Sonne, und ab und zu ein Stückchen blauer Himmel. Die Luft war mild, der Herbst schien fern. Grinvald lag hinter ihnen, und Rowarn fühlte sich hier fast an den Wald um Weideling erinnert. Kurzzeitig ergriff ihn Heimweh, aber er schob es von sich.

Mimi deutete nach links. »Du folgst dieser Richtung, Rowarn. Ich beschreibe dir den einfachsten und schnellsten Weg: Bis heute Nachmittag erreicht ihr ein Grenzgebiet, da müsst ihr leider den Wald für ein paar Stunden verlassen und befindet euch im kleinen Reich Farinvin. Folge der Handelsstraße weiter, und ihr erreicht wieder den Wald. An der ersten großen Wegkreuzung im Wald jenseits von Farinvin biegst du rechts ab, und dann bleibst du immer auf der Straße, sie führt direkt nach Farnheim. Morgen Abend seid ihr schon dort, wenn ihr unterwegs nicht zu lange rastet.«

»Müssen wir hier auf besondere Gegebenheiten achten?«, fragte Rowarn. »Gefährliche Tiere oder Räuber?«

»Dies ist Ferlungar, Rowarn. Die Luft hier ist immer noch Lúvenors Atem. Auf der Handelsstraße droht euch keinerlei Gefahr, auch in Farinvin nicht, solange ihr die Straße nicht verlasst.« Mimi schmunzelte, als der Schattenluchs leise angeschlichen kam, den Kopf zuerst an Angmor, dann an Rowarn rieb. »Außerdem seid ihr wohl eher eine Gefahr für andere, so wie ich das sehe.«

»Da magst du recht haben.« Rowarn lächelte. »Ich werde dich vermissen.«

»Du hast mich ganz schnell vergessen, sobald du der Lady Arlyn begegnet bist. Aber das macht nichts, dafür werde ich mich umso besser erinnern. Mal sehen, wie wacker sich mein nächster Schwertkämpfer schlägt. Er wird sich anstrengen müssen.« Mimi strahlte zu ihm hoch, und er nahm sie in die Arme und küsste sie zum letzten Mal voller Leidenschaft, in Erinnerung an die vergangene Nacht. Er genoss es, ihren üppigen Körper noch einmal dicht an sich zu spüren.

»Leb wohl, Mimi. Achte gut auf Gríadan und deinen Vater. Und deine Brüder.«

»Keine Sorge.« Sie streichelte seine Wange, dann machte sie sich auf den Rückweg. Kurz bevor sie den Weg verließ, drehte sie sich noch einmal um und hob den Arm. Rowarn winkte zurück, während er aufsaß, dann ritten sie los.