Kapitel 54

Der Kranich


Rowarn taumelte und fing sich nur mit knapper Not auf, als er sich abrupt und ohne Übergang in Dubhan wiederfand. Für einen kurzen Moment verschwammen noch einmal die Grenzen, doch er hatte die Sphären endgültig verlassen und war wieder zurück auf der Welt. Die Magie im Turm war erloschen.

Es konnten höchstens ein paar Herzschläge verstrichen sein, seit der Bann aufgehoben war, denn Angmor und Arlyn lagen zwar noch reglos auf dem Boden, aber Graum bewegte sich gerade erst vom Portal auf den Thron zu. Vor dessen Stufen entdeckte Rowarn erstaunt den zusammengesunkenen Körper von Femris.

Der Schattenluchs näherte sich dem Mann vorsichtig und witterte, dann blickte er zu Rowarn und schüttelte den Kopf.

Rowarn kniete hastig bei Arlyn nieder und stieß erleichtert den angehaltenen Atem aus, als er sah, dass sie lebte. Sanft brachte er sie zu sich. »Es ist vorbei«, flüsterte er.

Arlyns Lider flatterten, dann fand sie die Kraft, sie aufzuschlagen. Ihre goldfarbenen Pupillen waren geweitet, von einem schmalen schwarzblauen Ring umgeben. »Ich habe es gesehen«, wisperte sie. »Bis zu dem Augenblick, als du entrückt wurdest. Ich wusste nicht, ob du zurückkehren würdest ...«

»Es stand mir frei, zu wählen.« Zärtlich legte er die Hand an ihre Wange. »Doch wohin soll ich gehen, wenn du nicht dort bist? Was sollte ich ohne euch alle machen? Nur um Wunder zu sehen soll ich einsam sein?«

»Es wäre sicher einfacher ...«

»Ach was, einfacher«, brummte er. »Wer will das schon.« Er merkte plötzlich, dass ihn etwas unter der Rüstung drückte, tastete danach und zog verdutzt ein Medaillon hervor. Es war das Tabernakel, auf die Größe eines Schmuckstücks geschrumpft. Die drei Ringe waren harmonisch miteinander verbunden, in der Mitte befand sich ein kleines Loch, das Waldsee symbolisierte, wie Rowarn erkannte. Er konnte ein leichtes Pulsieren fühlen, und er hatte sofort den Siebenstern vor Augen. »Ich glaube, das ist für dich«, sagte er und drückte es in Arlyns Hände. Bekräftigend nickte er. »Ja. Du bist die Heilerin. Bewahre es.«

Arlyn starrte auf das mit Symbolen verzierte Tabernakel, dann löste sie einen schmalen Lederriemen aus einem Beutel, fädelte ihn durch das Loch in der Mitte und hängte es sich um den Hals. Kurz schloss sie die Augen. »Ja, ich kann es fühlen ...«, wisperte sie. 

»Du bist verletzt«, sagte er und erbleichte, als er plötzlich unter einer dunklen Haarsträhne Blut hervorsickern sah.

Sie tastete sich überrascht den Kopf ab. »Mir geht es gut«, erwiderte sie. »Sieh besser nach deinem Vater.«

Angmor lag immer noch da, wo er zusammengebrochen war. Graum hatte seine Dämonengestalt angenommen und kniete bei ihm, seine langen Pinselohren bewegten sich unruhig. Vorsichtig richtete er den Oberkörper des Visionenritters auf.

Rowarn zögerte, von plötzlicher Furcht ergriffen, sich seinem Vater zu nähern.

»Er lebt! Er kommt zu sich«, rief Graum in diesem Augenblick. »Herr, ist alles in Ordnung? Kannst du mich hören?«

Angmor setzte sich auf, ächzte und griff sich an den Kopf. »Jetzt nicht mehr, weil ich von deinem Gebrüll direkt in mein Ohr taub geworden bin.«

Erleichtert kam Rowarn näher. Dann aber stockte er erschrocken, als sein Vater ihn ansah.

Nein, nicht ansah. Angmor richtete seine Augen auf ihn, doch sie waren erloschen. Erschüttert sah Rowarn, dass das einst eisglühende Blau von einem milchigen, trüben Schleier bedeckt wurde. Diese Augen konnten nichts mehr sehen, nicht einmal einen Wechsel von Licht und Dunkelheit. Nie wieder.

»Vater ...«, flüsterte er.

»Komm zu mir, Rowarn.« Angmor hob den Arm und winkte ihn zu sich.

Rowarn kniete sich auf die andere Seite und legte eine Hand auf den Arm seines Vaters.

Angmor entblößte seine mächtigen Reißzähne in einem seltsam befreiten Lächeln, trotz seines schmerzverzerrten Gesichtes. »Es ist beendet«, sagte er. »Nun bin ich vollends blind.«

»Aber warum?«, stieß Rowarn verzweifelt hervor.

»Die Gabe war nur geliehen«, antwortete sein Vater. »Als ich die Weihe zum Visionenritter erhielt, wurde mein Schicksal wie das der anderen Ordensmitglieder an das Tabernakel gebunden. Ich war der Einzige, der bis zum Ende ging. Nach mir wird es keinen Visionenritter mehr geben, der Orden ist erloschen.«

»Du meinst, als ... die Bestimmung des Tabernakels erfüllt war, wurde dir die Gabe wieder genommen?«

»So ist es.«

»Was für eine grausame Strafe ...«

»Nein, Rowarn. Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich die Weihe annahm. Meine einzige Angst war, dass mich meine Kräfte vorzeitig verlassen würden. Ich fühlte immer mehr mein Alter, und ich befürchtete schon fast, es wäre zu spät.«

»Du hattest Momente der Schwäche, Vater, aber du bist trotzdem das mächtigste Wesen, das diese Welt je sah. Ich habe es selbst erlebt.«

»Ja, ich war einst sehr mächtig«, sagte Angmor. »Und ... tödlich. Ich tat grausame Dinge im Namen der Finsternis. Bevor wir nach Waldsee kamen, leistete ich meinen Beitrag im Ewigen Krieg, und du wirst einige dort draußen finden, die meinen Namen nur deshalb kennen und ihn aussprechen können, weil sie nie meinen Weg kreuzten, sondern lediglich von mir hörten.«

»Es stimmt, was er sagt«, warf der Schattenluchs ein. »Nachtfeuer lebte schon lange vor mir, selbst für Dämonen sehr lange, obwohl auch ich von Xhy stamme. Wir kamen nach Waldsee, als in Valia noch niemand vom Tabernakel wusste. Es gab noch nicht mal Menschen in diesem Land.«

»Und wir wissen alle, dass du damals auf dem Titanenfeld gekämpft hast«, sagte Rowarn leise. 

Graum wandte den Kopf ab. Angmor schloss die blinden Augen. »Ja«, sagte er schließlich. »Und vielleicht habe ich ...«

»... haben wir ...«, berichtigte Graum.

»... haben wir damals das erste Mal gezweifelt, obwohl es kein Kampf zwischen Regenbogen und Finsternis war. Oder vielleicht gerade deswegen. Wir alle, und das betrifft die Götter genauso wie uns oder die Alten, haben gleichermaßen Schuld an dem, was geschah, keiner von uns war besser als der andere. Und ich war vielleicht noch schlimmer als manch anderer. Ja, gewiss war ich schrecklicher. Es ist unverzeihlich, doch nicht zu ändern.« Er öffnete die Augen wieder und richtete sie fast genau auf Rowarn. »Verstehe mich nicht falsch, diese Schlacht war eine einmalige Sache. Ich war stets überzeugt von allem, was ich tat, denn dafür gab es immer einen Grund, und ich will mich weder rechtfertigen, noch werde ich etwas bereuen. 

Als ich in Femris' Dienste trat, glaubte ich immer noch, das Richtige zu tun, auch wenn ich die Schlacht auf dem Titanenfeld nicht vergessen konnte. Doch deine Mutter ... änderte alles. Ich erkannte plötzlich, wie einseitig mein Denken und Handeln gewesen war. Es war, als hätte Erenatar selbst durch sie gesprochen. Vielleicht hat er das auch. Wer weiß schon, was der ERSTE GEDANKE tut? Für ihn gelten die göttlichen Gesetze nicht. Er kann Einfluss nehmen. Vermutlich handelte auch die Annatai Gynvar in seinem Auftrag, als sie den Orden gründete, zum Schutz des Tabernakels. Denn wir Visionenritter, das begreife ich nun endlich, erhielten nicht genug Macht, um Femris überwinden zu können, da er als der Siebte Splitter nicht sterben durfte. Wir sollten ihn jedoch in Schach halten, bis er soweit war, seine Bestimmung zu erfüllen. Deshalb kam auch ich nie an ihn heran, und es endete immer im Patt zwischen uns. Eine sehr bizarre Situation, wenn man es recht bedenkt. Aber außerhalb von Regenbogen und Finsternis betrachtet, durchaus eine Art Gleichgewicht.« 

Angmor lächelte wieder. »Das alles ahnten wir damals natürlich nicht. Doch mit dem, was ich wusste, war mir klar geworden, dass der Ewige Krieg letztendlich alles zerstören würde. Um das zu verhindern, wollte ich fortan meinen Beitrag leisten.«

»Und jetzt bist du ohne Macht ...«, murmelte Rowarn.

Graum lachte, auf seine schaurige katzenhafte Dämonenart. »Unsinn! Ein Dämon wird nie ohne Macht sein. Wir sind die Spätgeborenen, wir entstanden aus reiner Magie. Die Finsternis selbst hat uns gemeinsam mit den Göttern, die auf ihrer Seite waren, erschaffen. Und Nachtfeuer war einer der wahrhaft Großen. Er wird es wieder sein.«

»Aber du brauchst Erholung«, sagte Rowarn hartnäckig. »Ich bringe dich nach Farnheim und ...«

»Nein«, lehnte Angmor sanft, aber bestimmt ab. »Nein, mein Sohn, unser gemeinsamer Weg endet hier. Du kehrst als Friedenskönig nach Ardig Hall zurück, und Arlyn an deiner Seite wird Hüterin des Tabernakels sein. Es ist ein bedeutendes Symbol. Dies ist mein letzter Wunsch an euch, damit mein Kampf und Opfer nicht umsonst waren.«

»Das heißt also Abschied nehmen?« Rowarn schluckte. »Aber was willst du tun?«

»Waldsee ist groß. Es gibt viele Orte, an denen ich noch nicht war. Ich werde die Welt auf eine ganz neue Weise erfahren. Als Nachtfeuer, denn Angmor bin ich nicht mehr.«

»Aschteufel wartet übrigens draußen«, sprach Graum dazwischen.

Rowarn schüttelte den Kopf. »Das treueste und zugleich verrückteste aller Pferde ...«

»Er ist kein Pferd, du unschuldiger Welpe«, unterbrach der Schattenluchs. »Aschteufel entstammt zur einen Hälfte den Flammenmähren der Außenlande und ist zur anderen Hälfte ein Dämonentier. Er gehörte Nachtfeuer schon, als wir hierher kamen. Er war damals nicht viel mehr als ein schlaksiges Füllen, aber schon genauso unausstehlich wie heute.«

Dem jungen König schwindelte es. »Was erfahre ich noch?«

Graum grinste mit spitzen Zähnen. »Ich glaube, das war alles. Wir haben schließlich auch das Ende der Geschichte erreicht.«

»Helft mir auf, ihr beiden«, verlangte Nachtfeuer.

Sie hievten den schweren Körper des Dämons mit vereinten Kräften hoch. Nach einer Weile konnte Nachtfeuer aus eigener Kraft stehen, und er bewegte vorsichtig seine knackenden Gliedmaßen. Lauschend hob er den mächtigen gehörnten Kopf. Sein Gesicht entspannte sich. »Ja, das ist Aschteufel. Ich gebe zu, ich bin erleichtert. Die Aussicht auf Wanderschaft zu Fuß hätte mich nicht gerade erheitert.«

»Was du nicht sagst«, brummte Graum.

Nachtfeuer hielt Rowarns Schulter fest. »Erlaube mir dies, Sohn«, sagte er. »Da ich dich nicht mehr sehen kann, will ich wenigstens noch das eine als Erinnerung mitnehmen.« 

Bevor Rowarn reagieren konnte, hatte sein Vater ihn in die Arme geschlossen und drückte ihn fest an seine gewaltige Brust. Rowarn spürte das kraftvolle Pulsieren von Nachtfeuers Lebensessenz und fühlte sich plötzlich getröstet, denn er wusste, dass der Dämon bald wieder zu seiner gewohnten Stärke finden würde und sicher auch einen Weg, das verlorene Augenlicht zu ersetzen. Er erwiderte die Umarmung und übertrug seine Liebe auf seinen Vater. »Ich hoffe, dies ist kein Abschied für immer«, flüsterte er.

»Da kannst du zuversichtlich sein«, bemerkte Graum. »Es wird sicher eine Weile dauern, aber früher oder später zieht es ihn ja doch wieder nach Ardig Hall, da kann man gar nichts machen.«

Nachtfeuer löste sich von Rowarn, berührte ein letztes Mal sein Gesicht. »Du wirst deinen Weg gehen, mein Sohn«, sagte er sanft. »Und mit Arlyn an deiner Seite hast du die beste Zukunft von allen vor dir. Nutze dies gut und weise.« 

Auf Graum gestützt, verließ der große alte Dämon die Halle. 

Durch den Spalt des Portals wieherte Aschteufel, und Rowarn glaubte etwas wie »Na endlich!« zu verstehen.

»Lebe wohl und in Frieden, Vater«, flüsterte er mit Tränen in den Augen.



Sie waren allein. Rowarn blinzelte und wandte sich Arlyn zu, die die ganze Zeit still im Hintergrund gewartet hatte. »Gehst du mit mir nach Hause?«, fragte er und hielt ihr seine Hand hin.

Sie nickte und kam näher. Legte ihre Hand in seine. Eine Weile schauten sie sich still in die Augen.

Sie drehten sich um, als sie Hufgeklapper hörten, und Schattenläufer und Schneemond erschienen im Portal. Rowarn stieß einen freudigen Schrei aus und lief zu ihnen. Sie sahen weitgehend unversehrt aus, abgesehen von ein paar kleinen Wunden. Auch die Velerii waren erleichtert, Rowarn und Arlyn lebend vorzufinden; sie hatten, so berichteten sie, Nachtfeuers Worten keinen rechten Glauben schenken wollen, nach allem, was geschehen war.

Rowarn fand, der Augenblick sei gekommen, sein Schwert noch einmal zu ziehen. Mit einer Verbeugung hielt er es Schneemond hin. »Es gehört dir, ehrenwerte Mutter«, sagte er. »Luvian, das Schwert von Sonne und Mond, das dein Vater Lichtsänger einst trug. Es hat den Weg vom Titanenfeld zurück gefunden und alle Geister hinter sich gelassen. Ich bitte dich, nimm es als Erbstück, aber auch als Dank an. Es soll den Beginn des Friedens mit ins ferne Inniu tragen, als Symbol soll es in Weideling bewahrt werden.«

Schneemond war einen langen Augenblick sprachlos, dann nahm sie das Schwert gerührt an und dankte dem König.

»Wenn ihr einverstanden seid, werden wir euch ein Stück weit nach Ardig Hall begleiten«, sagte Schattenläufer. »Bis dorthin müssen wir ja ohnehin in dieselbe Richtung.«

»Nichts lieber als das«, strahlte Rowarn, und Arlyn stimmte zu.

»Aber zuvor solltest du dich allen zeigen«, sagte Schneemond lächelnd. »Sie stehen draußen voll banger Erwartung, ob sie wahrhaftig einen Friedenskönig haben. Und«, sie blickte zu Arlyn, »eine Königin.«

»Muss das sein?«, murmelte Rowarn.

»Ich fürchte, ja. Und ich fürchte auch, du wirst schneller Gefallen daran finden, als es mir lieb ist.«

In diesem Moment erklang ein Ächzen vom Thron her, und alle fuhren herum.

Femris richtete sich auf!



Schattenläufer zog sein Schwert und wollte sich auf den Feind stürzen, aber Rowarn fiel ihm in den Arm. »Nein!«, rief er. »Es ist vorbei. Er ist keine Gefahr mehr, glaube mir!«

Schneemond blickte zu Arlyn.

»Es ist wahr«, sagte die Königin und hob das Medaillon an ihrem Hals hoch. »Er hat seine Bestimmung erfüllt. Seine Macht ist ebenso dahin wie seine Unsterblichkeit. Es ist ein Wunder, dass er lebt. Andererseits ... ist Erenatar jedes Leben heilig.«

Femris/Tamron stand auf und stolperte mit verstörtem Gesichtsausdruck näher. Jetzt sahen alle, dass er die Gesichtszüge beider Männer in sich vereinte, seine Augen waren grünblau, sein Haar von glänzendem Grau. Er war kein Zwiegespaltener mehr, seine beiden Seelen waren zu einer geworden. Und die Aura der Unsterblichkeit war tatsächlich erloschen. Er war nun ein Mensch von vielleicht Anfang Dreißig. »Was ist passiert?«, murmelte er und sah Rowarn und die anderen mit aufgerissenen, ängstlichen Augen an. »Wo bin ich?« Hilflosigkeit trat in seinen Blick. Verzagt flüsterte er: »Wer bin ich?«

Die Velerii starrten ihn verdutzt an. Rowarn empfand plötzlich Mitleid. Dieser Mann war nicht mehr sein Feind. Er war niemandes Feind mehr, nur noch ein Schatten, der verwischte Abdruck zweier Unsterblicher, ein Hauch von Leben, ohne Erinnerung.

Arlyn trat auf ihn zu und ergriff seine Hand. »Du bist Féaron«, sagte sie sanft. »Ein böser Alptraum hat dich sehr lange in seinen Klauen gehabt, aber nun bist du frei und kannst neu beginnen.«

Für einen Moment genoss der Mann still die Berührung ihrer heilkräftigen Hände und strahlte sie an. »Und ... und werde ich mich je erinnern? An das, was vorher war?«, stammelte der Sterbliche namens Féaron.

Arlyn schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist eine Gnade, dass du lebst. Denk nicht darüber nach und stell niemals Fragen, dann wirst du in Frieden leben können.«

Rowarn hörte, dass sich weitere Schritte näherten und wandte leicht den Kopf. Olrig und Noïrun. Rowarns Herz schlug ihm bis zum Hals vor Glück, auch sie lebend wiederzusehen. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, hatten sie mitbekommen, was hier gerade geschehen war. 

Der Fürst ging zu dem verstörten Mann und legte eine Hand auf dessen Schulter. »Du kannst mit mir kommen, Féaron«, sagte er. »Ich bin wie du ein Getriebener, der Fürst Ohneland, aber ich werde dies ändern. Ich könnte einen Freund brauchen, der mir hilft, mein Reich zurückzugewinnen.«

Eingeschüchtert starrte ihn sein ehemaliger Feind an; er wusste nicht so recht, was er tun, wie er sich verhalten sollte. »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte Féaron zögernd. »Ich fühle mich, als sei ich gerade erst auf die Welt gekommen.«

»Das ist die beste Voraussetzung«, meinte der Fürst lächelnd.

»Und so hat er ein Auge auf ihn«, raunte Olrig Rowarn zu. »Man weiß ja nie, du verstehst?«

Noïrun wandte sich Rowarn zu. »Es gibt zwei Dinge, die wir beide noch erledigen müssen, bevor jeder von uns eine neue Geschichte beginnen kann«, sagte er. »In Farnheim habe ich meinen Eid dem König von Ardig Hall geleistet, der mich binden wird, solange ich lebe. Das bedeutet, wenn du meine Hilfe brauchst, werde ich für dich da sein. Aber zuvor hast du mir einen Eid geleistet, als mein Ritter, sodass ich gewissermaßen immer noch dein Befehlshaber bin. Gib mir dein Schwert.« 

Rowarn wollte der Aufforderung verdutzt nachkommen, dann fiel ihm ein, dass er Luvian an Schneemond weitergegeben hatte. Er sah sich suchend um und entdeckte auf dem Altar sein erstes Schwert, das Noïrun ihm einst geschenkt und das er in Femris gestoßen hatte, und das nun seit dem Erwachen des Zwiegespaltenen immer noch dort lag. In gespannter Erwartung holte er es und reichte es dem Fürsten.

Noïrun legte das Schwert auf seine Hände, und dann hielt er es Rowarn mit einer Verbeugung hin. »Rowarn von Weideling und Ardig Hall, hiermit entbinde ich dich von deinem Eid als Ritter in meinen Diensten und reiche dir dein Schwert zurück, das du mir einst dargeboten hast. Du bist nun wieder Herr über dich selbst und unterstehst mit deinem Stand als Ritter niemandes Befehl mehr.«

Rowarn nahm sprachlos das Schwert in Empfang. Vielleicht schrieb die Zeremonie eine entsprechende Erwiderung vor, aber ihm fiel nichts ein.

Noïrun richtete sich auf und lächelte. »Und jetzt, wenn du so freundlich wärst, bitte ich dich um meine Entlassung als Heermeister von Ardig Hall, denn in dieser Funktion gibt es für mich nichts mehr zu tun ... für immer, wie ich hoffe.«

»Na-natürlich«, stammelte Rowarn. Er sammelte sich kurz, dann hob er die rechte Hand und sprach: »Als König von Ardig Hall danke ich dir für deine Dienste als Heermeister, Fürst Noïrun von Lingvern. Ruhm und Ehre werden deinen Namen in den Chroniken immer begleiten. Ohne dich wäre der Sieg niemals möglich gewesen, und deshalb sollst du von nun an ein freier Mann sein, entbunden von allen Pflichten und Verantwortungen, und nur noch für und über dich selbst entscheiden. Und du kannst gewiss sein, solltest du je die Hilfe von Ardig Hall benötigen, wird sie dir nicht versagt werden.« Und er verneigte sich tief vor dem Fürsten. 

Und alle übrigen Anwesenden beugten ebenfalls ehrerbietig das Haupt und dankten dem Heermeister von Ardig Hall ein letztes Mal. 

Als Rowarn dann in Noïruns Gesicht blickte, sah er, wie eine schwere Last von dem Mann abgefallen war, seine grünen Augen glühten förmlich vor Erleichterung, und die harten und strengen Linien waren von einem Augenblick zum nächsten aus seinem Antlitz getilgt. Er sah plötzlich viel jünger aus, voll neuer Energie und Lebensfreude, was ihm eine besondere Schönheit verlieh.

Olrig und die Velerii applaudierten. »Damit«, sagte Schattenläufer feierlich, »sind die Tage des Krieges um das Tabernakel endgültig vorüber, und eine lange Friedenszeit wird folgen.«

»Das ist das Stichwort zum Abschiednehmen!«, dröhnte der Zwerg. »So eine traurige und lästige Angelegenheit das auch sein mag, aber wir kommen nicht darum herum! Doch ist es nur ein Abschied auf Zeit, nicht für immer, und Freunde gedenken einander ohnehin stets.«

Noïrun ergriff Rowarns Hand und drückte sie. »Es wird Zeit, dass du dich draußen blicken lässt, sonst werden sie die Burg stürmen«, meinte er. »Ich verabschiede mich gleich hier, wo wir noch etwas Ruhe haben.« Er zögerte kurz, dann umarmte er Rowarn und drückte ihn einen Moment lang innig an sich. »Pass auf dich auf, Sohn«, sagte er leise. Er ließ ihn los und trat zurück. Seine Augen glitzerten feucht.

»Was wirst du tun, Olrig?«, fragte Rowarn, während er zuerst die Hand des Kriegskönigs schüttelte und ihn dann ebenfalls umarmte. 

»Nachdem der letzte Krieg um das Tabernakel beendet ist, ist auch meine Amtszeit endlich vorüber«, verkündete der Zwerg, und sein Gesicht wirkte auf einmal nicht minder heiter und gelöst wie das des Fürsten. »Ich begleite Noïrun nach Lingvern und helfe ihm, dem Pack dort gehörig einzuheizen. Und wenn das erledigt ist, werden wir einen Besuch in Ardig Hall machen und euer Erstgeborenes im Arm wiegen. Oder sogar schon das Zweite, je nachdem.« Er grinste, als er Arlyn erröten sah.

Rowarn verdrängte hartnäckig den Schmerz der Erkenntnis, dass dies nun wahrhaftig der Abschied und die Trennung von Noïrun war. Und selbst wenn sie sich dereinst wiedersahen, würde es nie mehr so sein wie früher. Sie wären in ein neues Leben eingebunden, alles hätte sich verändert. »Wenn ich euch helfen kann ...«, bot er an, von leiser Hoffnung begleitet, doch der Fürst unterbrach ihn und hob eine Hand.

»Du hast erst mal genug damit zu tun, Ardig Hall wieder aufzubauen. Als Friedenskönig warten bald anstrengende Pflichten auf dich, denn du wirst zu jedem noch so kleinen Streit als Schlichter angerufen werden. Deine Aufgabe wird zudem sein, jeden Außenländer genau zu prüfen, der um Asyl ersucht, und einen Platz für ihn zu finden. Es wird kein leichtes Leben, Rowarn, aber du hast die besten Voraussetzungen dafür. Und, das Wichtigste: Du bist nicht allein.«

Féaron, der etwas dümmlich dabeistand und sich ziemlich verloren vorzukommen schien, fragte: »Und Ihr seid wirklich sicher, dass Ihr mich mitnehmen wollt?«

»Aber ja.« Noïrun lächelte aufmunternd und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. »Ich glaube, dass du einige schlummernde Talente besitzt, die bald erwachen werden.«

Olrig straffte seine Haltung. »Sollen wir vorausgehen? Was für eine Frage. Natürlich sollen wir vorausgehen. Also gut, wir drei zuerst, dann die ehrenwerten Velerii, und dann aber, da gibt es kein Entrinnen mehr, seid ihr beide dran, verstanden? König und Königin von Ardig Hall: Das ist nun eure Pflicht und Bürde, aber auch euer Ruhm, der euch dort draußen zuteil wird. Also los! Hier drin haben wir nichts mehr verloren. Alle Dinge sind erledigt, und die Erinnerungen sollen mit der Burg hier verrotten.«



Rowarn griff in das Wams unter dem Harnisch und zog ein Tuch hervor, in das zusammen mit einer Feder ein kleingefaltetes Pergament eingehüllt war. Vorsichtig öffnete er es und las es leise lächelnd.

»Was steht da?«, fragte Arlyn neugierig, und er reichte ihr das Blatt.


Aber der Kranich fliegt höher.


»Was bedeutet das?«, äußerte sie verdutzt, nachdem sie es zweimal gelesen hatte.

»Es bedeutet«, sagte Rowarn bedächtig, »es bedeutet, dass wir jetzt unsere Flügel zusammenfalten und ein Nest bauen.« Er tastete nach Arlyns Hand, als sie langsam den anderen folgten, und umschloss sie fest. Nur so gelang es ihm, die aufkommende Panik hinter der geziemend ruhigen und gelassenen Miene eines Königs zu verbergen. »Für immer dein, Hüterin des Tabernakels«, flüsterte er mit einem leichten Zittern in der Stimme.

»Für immer dein, König des Friedens«, wisperte sie zurück und drückte zärtlich seine Hand.

Rowarn füllte tief seine Lungen und atmete mit einem kräftigen Stoß aus. »Also gut«, sagte er.

Dann schritten sie durch das Portal.