Kapitel 47

Der Preis


Rowarn schrie, bis er sich übergeben musste, einen Schwall Wasser und Fisch von sich gab. Keuchend und fluchend robbte er durch den Sand, weg vom Wasser.

»Ich habe mich verloren«, krächzte er. »Arlyn, wieso hast du das zugelassen? Wir sind doch verbunden, hast du gesagt, du bist immer bei mir!« Er zog den Ring von seinem kleinen Finger und schleuderte ihn von sich. Doch schon im selben Moment bereute er es und kroch hinterher, durchwühlte schluchzend und schniefend den Sand, bis er endlich den Ring wiederfand, und steckte ihn mit zitternden Fingern an. »Verzeih mir«, wisperte er. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist ... dich trifft keine Schuld ... es ist noch nicht alles verloren, der Ring ist noch da ...«

Verzweifelt rollte er sich zusammen. Was war nur mit ihm geschehen? Wie hatte er sich derart verlieren können? Er war ins Wasser eingetaucht, und dann ... war alles vergessen. Rowarns Erinnerung war schwach, ihm war immer noch nicht recht bewusst, was im Wasser vor sich gegangen war. Hatte er sich wie ein Fisch verhalten? Waren da noch andere gewesen?

Kopfschüttelnd setzte er sich auf, tastete seinen nackten Körper ab und betrachtete seine Arme. Keine Spur der Häute mehr, die Kiemen waren zurückgebildet, und seinen Verstand hatte er auch wieder.

Der schlimmste Alptraum seines Lebens. Und er musste dem Riesenfisch auch noch dankbar sein, denn wenn er nicht an Land gespült worden wäre, hätte er nie mehr zu sich gefunden. Und Arlyn ... er spürte sie nicht mehr. Das vertraute Band zwischen ihnen, das ihn die ganze Zeit begleitet hatte, war zerrissen. Er hatte es selbst zerstört. Es war unverzeihlich, dass er das zugelassen hatte.

Und dafür also habe ich auf die anderen gehört. Nie wieder werde ich etwas einfach geschehen lassen, dachte er in wütender Verzweiflung. Und wenn dort unten ein Splitter ist, dann soll er dort bleiben, und Femris kann ihn sich selber holen. Ich tauche nie wieder in dieses furchtbare Wasser, das mich vergiftet hat.

Eine Weile blieb er noch sitzen, bis seine Haut und die Haare getrocknet waren. Die Luft war sehr trocken und auf seltsame Weise unangenehm warm, doch immerhin war eine leichte Brise zu spüren, ein Hauch von Leben. Als er sich wieder ein wenig besser fühlte, stand Rowarn auf und sah sich um.

Die Sonne stand tief zur Linken im Westen, und vor ihm breitete sich ein Land aus, das er nicht kannte. Wie es aussah, hatte er den See durchquert, er hatte also doch ein Ende.

Der düstere Himmel hing hier so tief herab, dass Rowarn meinte, ihn berühren zu können, wenn er nur die Hand ausstreckte. Es sah aus, als würde ein schwarzvioletter Nebel herunterwallen, der jedoch nicht bis zum Boden reichte. Die ferne Sonne strahlte hell, doch ihr Schein hatte nicht genug Kraft, um Schatten zu werfen. Die Berge waren näher gerückt, zum großen Teil waren es Vulkane, von denen einige graue und schwarze Rauchwolken ausstießen, andere bluteten aus dünnen Rissen, aus denen glühende Lava in verzweigten Rinnsalen herabfloss. Die Berghänge waren steil und schroff, keine Pflanze wuchs dort, nicht einmal die hartnäckigste Flechte. Der leicht gewellte Boden war sandig und steinig, Wandermoos kroch über ihn hinweg. Am Himmel kreisten Flughunde auf der Suche nach Wandelkrabblern, die moosähnliche Flechten auf ihren Rückenpanzern besaßen, um die Jäger zu täuschen. Darüber wusste Rowarn Bescheid, weil Graum es ihm einmal erzählt hatte. Und damit wusste der junge Mann auch, wo er sich befand.

An der Grenze zum Dämonenland.



Großartig, dachte Rowarn. Ich betrete das Reich meines Vaters splitterfasernackt und ohne Waffe. Ich glaube, das würde sogar ihn zum Lachen bringen.

Um wie viel einfacher war es da doch im See gewesen, wo er sich nur um sich selbst gekümmert hatte, wo sein Verstand so leer gewesen war, dass er sich um nichts Sorgen zu machen brauchte. Keine Erinnerungen, kein Kummer. Keine Unsicherheit oder Zweifel.

Und natürlich auch keine Liebe, keine schönen Erlebnisse, keine Freunde und Familie. Aber davon hätte er genauso wenig gewusst wie von allem anderen und es daher nicht vermisst.

Oder doch? Vielleicht, eines Tages? Immerhin, so erinnerte sich Rowarn nach und nach, hatte man ihm einen Namen gegeben und ihn freundlich aufgenommen. War da nicht ein Mädchen gewesen? Ob es nun wohl seinen Tod betrauerte? Aber er konnte keine Nachricht schicken. Sie würde nie erfahren, was geschehen war. Er konnte sich nicht einmal bedanken.

Rowarn seufzte, dann ging er los.



Irgendwann hatte er die Grenze überschritten. Das Land veränderte sich dadurch nicht; es gab keine sichtbaren Hinweise, dass er sich nun im Reich der Dämonen befand. Das war auch nicht notwendig, denn wer hierherkam, wusste, wo er hinwollte. Zufällig verirrte sich niemand in dieses wenig gastfreundliche Land. Wenn er nun umkehrte und den Weg in Richtung Südosten einschlüge, käme Rowarn nach Warinland. Direkt nach Süden hinunter führte ein unmittelbarer Weg in Menschenlande.

Nur von dem See hatte Pyrfinn nichts erzählt, und auch Graum nie. Vielleicht, weil er Wasser so hasste.

»Dann ist mein Weg klar«, murmelte Rowarn und seufzte noch einmal, vermutlich nicht zum letzten Mal an diesem Ort. »Ich weiß, wo ich jetzt hingehen muss. O Freude.«

Er hielt auf die Vulkanberge zu und dachte so wenig wie möglich an seine nackten Fußsohlen. Der Boden wurde zusehends wärmer, das Gestein rauer und kantiger, und er musste aufpassen, wo er hintrat. Immer wieder lauerten Risse, die heiße Dampfwolken ausstießen, und Aschewolken trieben vereinzelt über die Bergflanken herab. Manche sanken zu tief und hatten nicht mehr die Kraft, auf dem Wind zu reiten. Die Asche bedeckte das Gestein, die mageren, vertrockneten Büsche und den Boden mit einer grauen Schicht.

Und dann kamen sie. Von überall her, aus dem dampfenden Nebel, von einem Hügel herab, aus Spalten hervor. Nicht einer sah aus wie der andere. Manche von ihnen waren nicht größer als eine Hauskatze, andere hätten selbst Fashirh überragt. Sie hatten Hörner, Panzer, Fell und Schuppen, Zackenkämme, Dornen und Stacheln, Krallen und Zähne. Sie gingen gekrümmt oder aufrecht, waren muskulös oder zierlich, es gab sogar Fettleibige. Sie hatten eine unterschiedliche Anzahl an Augen, Nasen und Gliedmaßen, die Münder saßen nicht immer da, wo man es erwarten würde, und die Ohren zeigten die verschiedensten Formen. Die meisten schienen die Trockenheit und Nähe der Vulkane zu lieben, aber es gab auch welche, deren Haut feucht war und die eine Tangbehaarung hatten; sie wurden von Helfern begleitet, die sie ständig mit Wasser benetzten. Andere stießen einen eisigen Atem aus und verströmten klirrende Kälte, sie waren umgeben von Gleichartigen, die sich gegenseitig Kühlung zufächelten.

Wie es aussah, erhielten die Dämonen nicht oft Besuch von nackten Fremden; Rowarn kam es so vor, als würde sich die gesamte Bevölkerung hier versammeln, um ihn kritisch zu beäugen, vielleicht sogar zu bestaunen, wer so tollkühn sein mochte, sich hierher zu wagen.

Er blieb stehen, und sie umringten ihn. Zuvorderst die Kleinsten, dann die Größeren. Einige schienen unsicher und scheu, stets auf dem Sprung zur Flucht, andere konnten ihre Aggression kaum im Zaum halten.

Eine Weile maßen sie sich schweigend. Zwei kleine Dämonen, die Rowarn gerade bis ans Knie reichten, rückten ganz nah an ihn heran. Der eine betatschte sein Bein, der andere schnüffelte mit ausgefahrener, feuchter Rüsselnase an seiner Hand.

»Was will er?«, quiekte der erste.

»Wo will er hin?«, krächzte der andere.

Zwei weitere Dämonen, die Rowarn um Haupteslänge überragten, kamen nun näher, griffen in seine Haare, wollten seine Zähne sehen, und sie bellten sich abwechselnd ihre Meinung zu, woraufhin die anderen jeweils Antwort gaben. Das Geschrei schallte bis zu den Vulkanhängen hinauf und löste eine zitternde Gerölllawine aus.

»Er riecht nach Güte!«

»Tötet ihn gnadenlos!«

»Er stinkt nach Mitgefühl!«

»Weidet es ihm aus!«

»Klar und rein ist seine Seele!«

»Verschlingt sie!«

So ging es eine ganze Weile, und Rowarn fühlte sich immer unwohler in seiner Haut, denn er merkte, dass sie es durchaus ernst meinten. Sie fingen an, laut darüber nachzudenken, auf welche Weise sie ihn am besten zu Tode bringen konnten und was sie anschließend mit Fleisch, Innereien und Knochen zu tun gedachten.

Doch plötzlich kreischte der eine der kleinen Dämonen auf, und der andere fuhr gleichzeitig seinen Nasenrüssel ein und sprang zurück.

»Was ist das? Was ist das?«, quietschte der erste.

»Lebensessenz ist es, die ich rieche!«, schnatterte der andere. Beide verschwanden augenblicklich, tauchten zwischen den vielen Dämonenbeinen hindurch und waren fort.

Einer der Großen wich verunsichert zurück. »Wie kann das sein? Seht doch, ein Fisch ist er, seine Haut!«

»Aber seine Augen! Seht seine Augen! Nur einmal gibt es solche Augen!«

Rowarn, der schon mehrmals versucht hatte, etwas zu sagen, schaffte es endlich, sich Gehör zu verschaffen. »Nachtfeuer ist mein Vater!«, schrie er. »Ihr seid ihm zur Gefolgschaft verpflichtet! Ihr dürft mich nicht anrühren!«

Nun wichen alle zurück und rissen die glühenden Augen auf.

»Das ist nicht wahr«, flüsterte einer, der wie eine Kreuzung aus Pferd und Salamander aussah. »Nachtfeuer hat keine Kinder. Er hat keine Dämonin je erhört!«

»Meine Mutter ist Ylwa, Königin von Ardig Hall, Letzte der Nauraka, die das Meer verließen, und Hüterin des Tabernakels!«, keuchte Rowarn. »Rührt mich an, und Lúvenors Fluch wird euch treffen!«

Sie zögerten nun deutlich. Die eintretende Stille war fast noch schmerzhafter als das markerschütternde Geschrei zuvor. 

»Ein Bastard«, wisperte es dann aufgeregt um ihn. »Wie ist das möglich?« Und: »Es muss wahr sein. Nur der große Nachtfeuer vermag dies.«

Da kam Bewegung in die Reihen, jemand drängelte sich rücksichtslos durch, und Rowarns Herz rutschte ihm in den Magen, als ein schwarzer Dämon mit gewaltigen Stierhörnern, doppelt so groß wie er, auf ihn zutrat – Tracharh der Taur, Fashirhs Bruder. Sein langer Schwanz peitschte die Luft. »Was willst du?«, fauchte er.

Rowarn hatte geglaubt, dass Tracharh ihm auf der Stelle den Kopf abbeißen würde, die Größe seines Mauls hätte dazu gereicht, aber die Angst vor Nachtfeuers Rache hielt ihn wohl zurück.

»Von euch will ich nichts«, antwortete Rowarn. »Ich muss zu den Frauen. Den mit den Flügeln.«

Die anderen wichen zischend noch weiter zurück. 

»Ein Verrückter!«

»Ein Wahnsinniger!«

»Niemand darf das Frauenreich betreten!«

»Kein Mann darf seinen Fuß dorthin setzen!«

»Erst recht kein Halbblütiger!«

»Sie werden ihn bestrafen.«

»Grausamer als wir.«

»Er wird Jahrhunderte leiden ...«

Tracharh musterte Rowarn aus eiskalten Augen. »Sie werden über dich richten. Besser für uns. Geh unbehelligt, Saat von Nachtfeuer. Für uns bist du tabu.« 

Er konnte also gefahrlos reisen – allerdings auch keine Hilfe erwarten, sollte er sie benötigen. Für die Dämonen existierte er damit nicht mehr.

So schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden die Dämonen wieder. Rowarn war allein. Weil er sich nicht anders zu helfen wusste, ging er weiter auf die Berge zu, auch wenn er es vor Hitze wahrscheinlich bald nicht mehr aushalten konnte.

Er verlangsamte nicht, als Tracharh plötzlich wieder erschien. 

»Weißt du denn, wie du zu den Frauen gelangst?«

»Nein«, antwortete Rowarn. »Sind alle Dämonen so seltsam?«

Der Taur lachte tief. »Das sind die Niedersten, wertloses Kroppzeug. Sie dürfen nicht im Staat leben, sondern nur hier draußen in der Randzone. Was du hier siehst, ist lediglich das ungastliche Außengebiet, das wahre Dämonenreich sieht ganz anders aus. Dort haben wir eine große Stadt mit prächtigen Bauten aus glattem Stein, es herrscht Ordnung und eine strenge Hierarchie. Es ist ganz ähnlich wie auf Xhy, meiner Heimat. Du würdest Jahrhunderte brauchen, um unsere Lebensweise und Gesetze zu verstehen.«

»Und warum bist du hier draußen?«

»Ich war sehr überrascht, als ich deinen mageren und noch dazu nackten Körper herannahen sah. Und dann begriff ich.«

Rowarn nickte. »Wann wirst du es Femris sagen?«

»Sobald du mit dem Splitter das Dämonenland verlassen hast, natürlich«, antwortete Tracharh. »Ich verrate mein Volk nicht. Diese Treue steht über der zur Finsternis.«

»Aber mich verrätst du schon?«

»Du magst Nachtfeuers Essenz in dir tragen, doch das macht dich noch lange nicht zu einem von uns. Außerdem bist du genauso irregeleitet wie dein Vater und hast dich der falschen Seite zugewandt. Ich diene Femris und dem einzig wahren Reich des Gleichgewichts.«

»So weit, so gut«, sagte Rowarn. »Aber du kannst mich nicht gleich an Femris ausliefern, da immer noch Splitter fehlen, wenn ich diesen hier habe.«

»Natürlich liefere ich dich nicht aus«, erwiderte Tracharh. »Damit würde ich gegen den Befehl meines Herrschers verstoßen. Aber Femris wird erfahren, dass du mindestens einen Splitter in Händen hältst. Alles Weitere ist dann seine Sache.«

»Immer vorausgesetzt natürlich, dass ich den Splitter von der Hüterin erhalte.«

»Das ist auch ein Grund, weswegen Femris vorher nichts erfährt – du kannst es nämlich gar nicht überleben. Die Frauen dulden keinen Mann in ihrem Reich, und deine Bitte werden sie niemals erhören.«

»Worüber unterhalten wir uns dann hier eigentlich?«

»Ich habe dich gefragt, ob du weißt, wo die Frauen leben.«

»Ich habe mit Nein geantwortet.«

»Genau.«

Ehe Rowarn protestieren oder ausweichen konnte, packte Tracharh ihn plötzlich und warf ihn sich über die Schulter, wobei er Rowarn unsanft ein paar Haare ausriss. Dann fiel er in schnellen Trab, seine mächtigen Beine brachten ihn in weiten Sätzen voran. »Du kannst das Reich der Frauen nicht finden, wenn ich dir nicht helfe«, verkündete der Schwarze Dämon. »Und da mir daran gelegen ist, dass du dein Ziel erreichst, werde ich dich so nah wie möglich dorthin bringen.«

»Du wirst Femris damit keinen Gefallen tun, Tracharh«, sagte Rowarn ächzend. Diese Position war äußerst demütigend. Aber andererseits sparte er eine Menge Zeit und Kräfte, und es sah ihn ja niemand.

»Warten wir es ab«, meinte der Taur. »Wenn du stirbst, ist ihm auch gedient.«



Der Taur lief bis zur Abenddämmerung. Dann hielt er in einer von Bergen umgebenen Schlucht an. Das Gestein war löchrig und rissig. In der Nähe kochte ein Vulkan, in seinem Inneren rumorte und polterte es. Ab und zu stieß er Rauch aus, begleitet von Lavabrocken. Als ob er Leibesbeschwerden hätte.

Tracharh setzte Rowarn ab. »Du kannst das Frauenreich nur über einen geheimen Pfad erreichen«, erklärte er. »Dazu musst du durch das Schattenlabyrinth gehen.«

»Aber wo ...«

»Finde es heraus. Es befindet sich genau hier an diesem Ort.«

Rowarn sah nur ebenen, staubigen Boden, keine Spur von einem Labyrinth. »Muss ich durch die Berge ...?«

»Kein Weg führt hindurch, außer du bist feuerfest wie ich.« Tracharh bleckte grinsend die Reißzähne. »Nein, das Schattenlabyrinth ist hier in dieser Schlucht. Und mehr werde ich dir dazu nicht sagen.« Er wandte sich zum Gehen. Nach wenigen Schritten drehte er sich noch einmal um. »Eines noch. Alle, die keine Dämonen sind, alle Sterblichen, selbst wenn sie den Alten entstammen, können das Frauenreich nicht betreten und lebend wieder verlassen, selbst wenn es ihnen gestattet wäre. Ihre Lebenszeit vergeht dort rasend schnell.«

»Gibt ... es irgendetwas, das für mich spricht?«, rief Rowarn.

»Nichts«, antwortete der Schwarze Dämon, und sein Lachen brach sich vielfach an den Felsen. »Du hast nicht die geringsten Aussichten auf Erfolg, Halbblut, und das gefällt mir daran am besten. Nachtfeuer kann mich nicht mal dafür strafen, denn es gibt nur diesen Weg für dich. Erkenne, wie falsch der Pfad ist, den du eingeschlagen hast. Unendliches Leid liegt vor dir, und wofür das alles? Für einen Irrglauben.« Dann war er fort.



Rowarn stand unschlüssig da; inzwischen war es Nacht geworden, und er konnte nichts mehr unternehmen. Der Himmel war finster, abgesehen von gelegentlich herabwallendem Nebel, der jedoch kein Licht brachte. Lediglich das rötliche Glühen des nahen Vulkans vertrieb die Schwärze soweit, dass Rowarn die Hand vor Augen sehen konnte – aber mehr auch nicht.

Er wagte es nicht, sich von der Stelle zu rühren. Jeden Moment war er darauf gefasst, von irgendeinem Untier der Nacht angefallen zu werden, aber nichts rührte sich. Die Randzone war verlassen und still, die hier lebenden Dämonen wagten sich tatsächlich nicht mehr an ihn heran.

Wie sollte er hier ein Schattenlabyrinth finden? Und was sollte das überhaupt sein?

Rowarn stand da, grübelte und schaute sich um. Versuchte, mit den Augen die Finsternis zu durchdringen und zu begreifen, was dieser geheime Pfad bedeutete, wie dieses Rätsel zu lösen war. Sein Vater hätte es bestimmt gewusst, immerhin war er ein Herrscher, und er stammte von Xhy, der Hauptwelt der Dämonen. Wenn, dann musste er wissen, wie man die Frauen erreichte.

Andererseits hatte Fashirh vor vielen Monden einmal erzählt, dass die Frauen ihr Reich verließen, wenn sie sich mit Männern treffen wollten. Also gab es möglicherweise nicht einmal für Herrscher eine Ausnahme für eine Begegnung im Reich der Dämonenfrauen. Dass die Geschlechter so absolut getrennt voneinander lebten, war für Rowarn nur schwer vorstellbar.

Seine Aussichten waren offenbar mehr als schlecht. War bereits das Dämonenland tabu für Nicht-Dämonen, so war das Frauenreich tabu für alle männlichen Wesen und tödlich für alle Sterblichen ohne Lebensessenz. Sollte Rowarn sich wirklich darauf einlassen? Wenn die Dämonenfrauen einen Splitter hüteten, war dieser wohl der bestgeschützte von allen. Gegen ihre Macht wäre selbst Femris nicht gefeit. 

Aber wenn es wirklich unmöglich war, dann würde das Tabernakel niemals zusammengesetzt werden. Und daran konnte doch selbst den rätselhaften Dämoninnen nicht gelegen sein.

Immer wieder kam Rowarn an diesem Punkt seiner Überlegungen heraus: Wenn er den Pfad nicht weiterging, bedeutete es das Ende. Einerseits würde Femris weiterhin versteinert liegen und Valia von ihm verschont bleiben. Andererseits aber konnte Rowarn nicht darauf hoffen, dass ihm jemand die Verantwortung abnehmen würde. Jetzt war die Zeit zu handeln.

Rowarn drehte den kleinen Ring am Finger. Wenn er nur irgendetwas spüren könnte! Vorher war der Ring immer ein wenig warm gewesen, und er hatte Trost empfunden, wenn er ihn berührt hatte. Doch seitdem er sich im See verloren hatte, war das Band zerrissen.

Nun gab es nur noch ihn. Hier im Dämonenland konnte ihn nicht einmal Femris erreichen. Sogar seine Kleidung, seine Waffen hatte er abgelegt, nackt wie am Tag seiner Geburt musste Rowarn sich seiner bisher größten Herausforderung stellen.

Musste er etwa noch den Ring ablegen? War er das letzte Hindernis?

Nein, dachte Rowarn. Niemals. Mein Bund mit Arlyn ist heilig, ich verrate ihn nicht. Ich kann ihn nicht mehr lösen, auch wenn ich sie nicht mehr spüren kann. Doch sie ist immer noch meine Königin und Gemahlin. Das werde ich bewahren und niemals aufgeben.



Endlich erschien ein matter rötlicher Schein am Himmel und kündigte den neuen Tag an. Rowarn hatte schon fast nicht mehr geglaubt, dass es jemals wieder hell werden könnte. Die ganze Nacht über hatte er reglos dagestanden, verloren in der Schwärze, doch diesmal hatte er sich nicht aufgelöst. Er hatte nichts vergessen, auch wenn die Furcht oft so übermächtig gewesen war, dass er sich beinahe gewünscht hätte, es wäre so.

Aber nun schöpfte er zaghaft Hoffnung, vielleicht am Tag das Schattenlabyrinth zu entdecken. Allerdings hatte er keine Vorstellung, wie, denn die Schlucht lag unverändert vor ihm: flach und staubig, umgeben von massiven Berghängen, die vermutlich nicht bezwungen werden konnten.

Genau hier, hatte Tracharh gesagt.

Aber hatte der Dämon auch bedacht, dass Rowarn nicht über magische Kräfte verfügte? Oder nahm er an, dass er selbst mit seiner verwässerten Lebensessenz den geheimen Pfad spüren oder sogar sehen konnte?

Vielleicht wollte der Dämon sich auch nur lustig über ihn machen und abwarten, wie lange Rowarn hier dumm herumstehen würde, bevor er die Geduld verlor.

Er versuchte alles. Nach innen zu blicken, den unablässig herabdräuenden Nebel zu durchschauen ... Rowarn versenkte sich in die Tiefe Ruhe, versuchte auf Strömungen zu lauschen, alles, was ihm nur einfiel.

Und es tat sich nichts. So still, ob nun in der Innen- oder Außenwelt, hatte er es noch nirgends erlebt. Dieses Land war völlig verlassen.

Und da, gerade als Rowarn völlig verzagen wollte, ging plötzlich die Sonne auf. Genau genommen stieg sie hinter einem der porösen Berge über den Horizont, und dann ... brach das Licht mitten hindurch.

Rowarn sank vor Staunen langsam der Unterkiefer herunter, als sich auf dem Boden ein Muster aus Licht und Schatten abzuzeichnen begann. Wie mit einem großen Pinsel gemalt, bildeten sich Linien, die sich bogen und krümmten. Die parallel zueinander liefen und sich immer weiter über den Boden fortsetzten. Ein kreisförmiges Muster, das von außen nach innen lief.

Das Schattenlabyrinth.

Rowarn unterdrückte einen Aufschrei. Mit flinkem Blick überschaute er das Muster – es war ein unverzweigtes Labyrinth, das nur einen Weg hatte, mit dem Ziel in der Mitte. Alle parallelen Linien liefen ohne Verbindung ins Leere und bildeten lediglich das Muster nach, um es zu vergrößern, zu ergänzen, das Auge des Betrachters zu erfreuen und zugleich zu verwirren. Trotzdem konnte man sich nicht darin verirren.

Aber man konnte vielleicht den Weg verlieren, wenn man nicht schnell genug reagierte, wenn die Sonne zu hoch stieg und das Schattenlabyrinth wieder dahinschwand. Er hatte nur noch wenige Augenblicke Zeit.

Rowarn rannte los, auf der leuchtenden Startlinie entlang, dann folgte er den Bögen und Windungen, achtete darauf, dass er nicht versehentlich auf eine parallel verlaufende Linie wechselte. Er konnte den Weg nicht abkürzen, das war die Bedingung eines unverzweigten Labyrinths: Der Weg musste vollständig zurückgelegt werden, nur so konnte man ans Ziel gelangen.

Die Sonne stieg und stieg, die ersten Linien hinter ihm erloschen bereits. Das Licht fraß die Schatten weg und löste die leuchtenden Linien auf.

Rowarn keuchte und schwitzte und rannte. So viele Windungen, hätte es nicht einfacher gehen können? Wie sollte er rechtzeitig das Ziel erreichen? War er etwa Pyrfinn der Läufer?

Der Boden unter seinen Fußsohlen zischte leise, und die Sonne brannte auf seinem Rücken. Schon gut ein Drittel des Labyrinths war erloschen, und Rowarn hoffte, dass er zu keiner Linie zurückmusste, die schon fort war. Hinauf und hinunter, links herum, rechts herum. Und wieder zurück, enge Kurve, neue Gerade nach oben. Wie weit war es noch bis zum Ziel? Das Licht kroch immer näher und zerstörte das kostbare Muster.

»Bitte«, flüsterte Rowarn. »Bitte, bitte.«

Immer enger und kürzer schraubten sich die Kurven, endlich kam er dem Zentrum näher. Jetzt nur nicht stolpern, taumeln, fallen! Die Linie war schmal, und so viele lagen daneben. Ein Fehltritt, und alles war verloren.

Und da, endlich, sah er das Ende des Pfades, ein leuchtendes Zentrum, wie eine Blume aus Licht und Schatten.

Rowarn gab noch einmal alles. Die Zielgerade war erreicht, er beschleunigte, stürmte auf das Zentrum zu. Er setzte den Fuß genau in dem Moment auf den umrahmten Punkt in der Mitte, als auch das Licht angekommen war und das Tal in ein blendendes Gleißen hüllte.

Und alles um Rowarn herum verschwand.



Staunend sah Rowarn sich um. Die Sonne war fort, doch es war nicht dunkel. Er stand mitten im samtschwarzen Nichts, umgeben von Myriaden funkelnder und glitzernder Sterne, manche schienen nah, andere unendlich fern. Er sah Symbole, Muster und Bilder. Alles war ihm vertraut, obwohl er einen solchen Himmel noch nie gesehen hatte, erst recht nicht aus dieser Perspektive.

Unter sich erblickte er die fernen Gipfel der Vulkanberge mit ihren glühenden Schlunden und die schneebedeckten Gipfel des Nordgebirges. Ganz in der Ferne lag der Leuchtendste und Schönste, der sie alle überragte, Fennóngar, der Leuchtturm. Selbst von hier war sein Strahlen noch sichtbar. Dahinter lag Inniu, das traute sanfte Land des Westens.

Die Luft war kalt und dünn, und als Rowarn sich fragte, welche Kraft ihn hier oben hielt, durchfuhr ihn ein heftiger Ruck, wie bei einem Aufprall, und er stolperte zwei Schritte vorwärts.

Auf einmal umgab ihn eine sandige Ebene, mitten in diesem Himmel, und er erblickte nicht weit entfernt, zu seiner Linken, einen regenbogenfarbenen, wallenden Nebelschleier, der sich quer durch die Ebene zog.

Rowarn begriff, dass dies die Grenze war. Wenn er sie überschritt, befand er sich im Reich der Dämonenfrauen. Dies hier war die Pforte, doch ohne Türklopfer und Schloss. Da es keinen Weg zurück gab, kam nur eine Richtung in Frage.

Entschlossen ging Rowarn auf die Grenze zu.

Plötzlich prallte etwas gegen ihn und schleuderte ihn mit solcher Wucht zurück, dass er auf dem Rücken im Staub landete. Er ächzte, rappelte sich hoch und blinzelte verwirrt.

Eine Staubwolke erhob sich vor ihm, die langsam festere Form annahm. Ein Wesen schälte sich heraus, das nur aus Knochen zu bestehen schien. Dornen ragten aus der Wirbelsäule und verliefen in einen langen Peitschenschwanz. Tierhafte Hinterbeine mit langen Sprunggelenken endeten in krallenbewehrten Zehen. Die überlangen Arme konnten zum Laufen eingesetzt werden. Auf einem gebogenen Hals, ähnlich wie bei einem Pferd, saß ein langgezogener, augenloser Schädel, dessen Oberfläche glatt poliert schien. Am Hinterkopf befand sich ein hoch gebogener, in einer Spitze auslaufender Knochenschild. Die gewaltigen Kiefer waren voll schief stehender spitzer Zähne.

»Hier kannst du nicht durch, Jungchen«, zischte das Wesen, und aus seinem Rachen schoss eine lange dünne Zunge hervor. »Ich bin Monuur, der Grenzwächter.«

»Aber ich muss zu den Frauen«, sagte Rowarn. »Ich habe einen wichtigen Auftrag.«

»Niemand betritt das Reich, der männlichen Geschlechts ist.«

»Ich ... ich bin zur Hälfte Dämon ...«

»Umso unverzeihlicher ist deine Dreistigkeit, und dein Frevel schreit nach Bestrafung!«

Rowarn schluckte. Monuur war fast dreimal so groß wie er und bestand aus purer Magie. Trotzdem war er körperlich sehr präsent, sogar sein heißer Atem war zu spüren und wirbelte den Sand auf.

»Es tut mir leid«, sagte Rowarn und straffte seine Haltung. »Ich werde die Grenze überschreiten, und du wirst mich nicht zurückhalten.«

»Ich bin der Grenzwächter. Du kannst nicht an mir vorbei«, zischte Monuur.

Rowarn maß ihn aus verengten Augen. In diesem Moment wagte er noch einmal, darauf zu vertrauen, wozu ihm so viele geraten hatten: Er wurde von den Hütern erwartet und musste die Dinge geschehen lassen. Wenn es hier einen Splitter gab, so konnte Rowarn passieren und er durfte sich nicht einschüchtern lassen. »Ich glaube eher«, sagte er ruhig, »dass du mich gar nicht aufhalten kannst.« Er ging weiter auf die Grenze zu.

Monuur sprang und landete in einer Staubwolke direkt vor ihm, überragte ihn wie ein Berg, ließ sich auf die Vorderarme nieder und näherte den glänzenden Schädel Rowarns Gesicht. Die Zunge bewegte sich dicht vor seinen Augen. Speichel tropfte von ihr. »Keinen Schritt weiter, oder du wirst es bereuen«, fauchte er heiser.

Aber Rowarn ließ sich nicht beeindrucken. Wenn der Grenzwächter ihn töten könnte, hätte er es längst getan, seine Lebensessenz getrunken und sein Fleisch verschlungen. Jemand wie Rowarn musste eine verlockende Beute sein, und wer wusste schon, wann das Wesen zum letzten Mal Nahrung erhalten hatte.

Der junge König drehte sich einfach zur Seite und steuerte von neuem den leuchtenden Wall an.

»Du denkst, ich kann dir nichts mehr nehmen, weil du hier entblößt vor mir stehst?«, schrie Monuur. »Du hast schon alles hinter dir gelassen? Ein schwerer Fehler, eitler Fratz!« Er deutete mit einem Krallenfinger auf Rowarns linke Hand. »Dein Ring, Trotzköpfchen, den du nicht aufgeben wolltest. Gewarnt wurdest du, oh, so oft! Doch du konntest ja nicht hören, wolltest alles besser wissen. Nun büße dafür! Sieh her!«

Unwillkürlich blieb Rowarn stehen, die Stimme des Grenzwächters zwang ihn dazu, und drehte sich zu ihm.

Monuur streckte den linken Arm aus, und zuerst verschwand seine Hand zwischen den Sternen, dann der ganze Unterarm. Kurz darauf zog er ihn mit einem scharfen Ruck zurück – seine Krallen umschlossen Arlyns Arm, und er zerrte sie mit sich in diese Welt.

»Arlyn!«, brach es aus Rowarn hervor, bevor er sich zurückhalten konnte, und er griff nach dem Ring an seinem Finger.

Die Königin trug ein einfaches blaues Gewand und keinerlei Schmuck, die Haare waren offen. Sie schien geschlafen zu haben, denn sie blinzelte verstört, sah sich um und erkannte dann endlich ihren Gemahl. »Rowarn«, sagte sie erstaunt. »Was geht hier ...«

»Schick sie sofort zurück!«, rief Rowarn. »Sie hat damit nichts zu tun!«

»Dein Fehler, Täubchen«, zischte Monuur und kicherte heiser. »Du hast die Tür geöffnet. Ich schicke euch beide zurück oder keinen von euch. Deine Wahl.«

»Keine Wahl«, sagte Arlyn, die die Lage sofort erfasst hatte. »Ich habe ihm den Eid abgenommen. Er muss gehen.«

Monuur riss sie an sich und richtete die rechte Klaue drohend auf ihre Kehle. Die gespreizten Krallenfinger waren ganz nah an ihrer Haut. »Willst du das wirklich, Honigschnäuzchen? Überleg es dir gut. Wenn du gehst, wird sie sterben. Wenn du bleibst, wird sie sterben. Wenn du ihr aber folgst, wird sie leben.«

»Bitte!«, flehte Rowarn. »Lass sie gehen! Sie ist eine Heilerin, sie dient dem Leben und hat mit diesem Kampf nichts zu tun!«

»Zu spät, Zuckerschnütchen, dann hättest du vorher umkehren sollen«, schnurrte Monuur und strich mit einer Kralle an Arlyns Hals entlang.

Rowarn schnürte es die Kehle zu. Sein Inneres war in Aufruhr, und er wusste, bald würden die beiden Essenzen sich vermischen und ihn zwingen, seinen Magen zu entleeren. Er ging einen Schritt auf den Wächter zu. »Also gut«, keuchte er. »Ich werde ...«

»Rowarn!«, rief Arlyn eindringlich. »Du hast einen Eid geschworen, den du niemals brechen darfst! Sonst verlierst du alles!«

»Oho!«, kicherte Monuur. »Was nun, mein Honigkuchen? Brichst du den Schwur, bist du verflucht auf ewig!«

Rowarn zitterte am ganzen Leib. »Arlyn, entbinde mich!«, bettelte er. »Ich kann es nicht, ich sagte es dir ...«

»Niemals«, antwortete sie. In ihren Augen stand nackte Angst, aber ihre Stimme klang entschlossen und fest. »Aus diesem Grund habe ich dir den Schwur abgenommen. Du gehst weiter!«

Ein Schrei drängte aus der Tiefe seiner Seele nach oben, aber Rowarn ließ ihn nicht heraus. Er musste mehrmals heftig schlucken und immer wieder neu ansetzen, bevor er endlich herausbrachte: »Ich zahle jeden Preis, Monuur, wenn du sie verschonst und mich dann meine Aufgabe beenden lässt. Danach gehöre ich dir, für immer. Das bereitet dir sicher viel mehr Vergnügen ...«

»Kein Handel! Du kennst die Bedingung!«, schnarrte Monuur mit gebleckten Zähnen. »Nun entscheide dich, oder ihr seid beide verloren!«

»Rowarn«, wiederholte Arlyn. Nicht mehr als seinen Namen: »Rowarn.« Sie lächelte ihn an, tröstend und seltsam fürsorglich. Sie war nun völlig gefasst. Ihre Miene drückte aus, was sie dachte: Mir kann nichts geschehen. Vertraue.

Er konnte kaum mehr an sich halten. »Ich muss meiner Königin gehorchen«, sagte er tonlos. »Genau darauf hat sie mich vorbereiten wollen. Genau davor hat sie mich bewahren wollen. Ich darf nicht gezwungen sein, zu wählen. Ich darf weder mein Herz noch mein Gewissen befragen. Ich muss meine Aufgabe erfüllen, koste es, was es wolle.«

»Dann zahle den Preis!«, kreischte Monuur und schlug die Krallen in Arlyns Hals.



»Neeiin!«, schrie Rowarn ein zweites Mal seit Beginn der Reise gellend auf, und für einen Augenblick war er sicher, dass er träumte, dass dies alles nicht wirklich geschah, sondern nur in seiner Einbildung existierte, eine weitere Prüfung auf seinem Weg, der er sich stellen musste.

Doch dann sprudelte Blut aus Arlyns zerfetzter Kehle hervor, der Blick ihrer Augen brach und wurde starr, und ihr Körper erschlaffte. Monuur schleuderte sie beiseite wie einen schmutzigen Lappen.

Rowarn begriff, dass alles wahrhaftig geschah, weil Arlyn zuvor von dem Eid gesprochen hatte, der nur ihnen beiden bekannt war, und es war ihm, als hätte der Grenzwächter in seinen Leib gegriffen und ihm das Herz aus dem Brustkorb gerissen. Der Schmerz überwältigte ihn, raubte ihm alle Kräfte, und er stürzte schreiend und heulend zu Boden, schlug um sich, brüllte und flehte.

»Nun geh heim und sterbe an gebrochenem Herzen, mehr bleibt dir nicht mehr!«, höhnte Monuur und weidete sich an Rowarns Leid.

Die kratzende Stimme drang nur von Ferne an seine Ohren. Rowarn kauerte wimmernd auf allen vieren. Speichel rann aus seinem Mund, Rotz aus seiner Nase, wässriges Blut aus den Augen. 

Eine Heimat gab es nicht, und erst recht kein Zuhause. Nichts gab es mehr, nur die Sterne um ihn. Arlyn war fort. Er hatte alles verloren, genau wie Femris es prophezeit hatte. Und nicht nur der Unsterbliche. Selbst Tracharh hatte es vorausgesagt.

Er hielt inne. Doch, etwas gab es immer noch, am Ende aller Dinge. Den Eid. Er war nach wie vor an den Ring gebunden, an sein Gelübde.

»Nein«, flüsterte Rowarn kraftlos.

Monuur legte den Kopf leicht schief, als lauschte er unausgesprochenen Worten. »Aber nichts hat mehr einen Sinn. Du hast verloren, wofür du gekämpft hast.«

»Nein«, wiederholte Rowarn und richtete sich ein Stück auf.

»Sieh sie dir an!«, kreischte der Grenzwächter. »Sie ist tot!« Er hob Arlyns Leichnam an und zeigte ihm ihre gebrochenen, starren Augen. »Sie starb durch deine Schuld!«

»Nein«, sagte Rowarn zum dritten Mal und stemmte sich auf ein Knie.

»Ich kann sie dir wiedergeben«, schwenkte Monuur plötzlich auf Versuchung um. »Lebendig, warm und atmend. Sie kann wieder deine Königin sein, wie du es dir wünschst. Sie wird die Leere in deinem Inneren ausfüllen. Kehr um, und ich gebe sie dir zurück. Noch ist Zeit, noch ist ihr Körper warm, noch hat ihre Seele ihn nicht verlassen. Das ist mein letztes Angebot.«

»Nein«, erwiderte Rowarn und stand endgültig auf.

Der Grenzwächter schwankte für einen Moment. Er ließ Arlyns sterbliche Überreste ein weiteres Mal fallen. »Selbst wenn du diesen Kampf gewinnst, ist dein Inneres kalt und tot. Du kannst kein Friedenskönig mehr sein, bist nicht mehr fähig und würdig dazu! Ardig Hall ist für immer gefallen. Es gibt nichts mehr für dich, wenn alles vorüber ist! Also nimm Vernunft an!«

»Nein«, lehnte Rowarn nochmals ab und ging vorwärts, umklammerte mit der Rechten fest den Ring an seinem linken kleinen Finger.

»Du gehst in den sicheren Tod, Narr!«, rief Monuur. »Gibt es denn nichts, was dich aufhalten kann?«

»Nein«, antwortete Rowarn zum sechsten Mal und überschritt die Grenze.



Er war kalt und tot und leer, als er durch den wallenden Nebel schritt, und er ließ keinen einzigen Gedanken zu. Dieser Lebensabschnitt, kaum begonnen, war beendet. Es gab nur noch die Aufgabe.

Dennoch wurde er noch einmal aufgerüttelt, als er das Reich betrat. Mitten im Sternenzelt sah Rowarn prächtige Schlösser in allen Farben strahlen, unwirklich wie Nebel auf vereinzelten Schleierinseln dahintreibend. Auf vielen weiteren Inseln gab es verträumte Flussauen und sich auf- und abwiegende zartblaue Grasmeere mit langen Halmen, Gebirge aus klarem Glas oder funkelndem Kristall und tiefe Gruben und Schächte mit eigenartigen Blumen, die wie Augen aussahen. Von einer Felskante strömte ein breiter, mächtiger Wasserfall herab, und Tümmler sprangen aus violetten Fluten über eine Regenbogenbrücke.

Rowarns Ankunft blieb nicht lange unbemerkt. Er sah winzige schwirrende Wesen auf sich zukommen, auf Abstand gefolgt von größeren, und erkannte, dass es die Kinder der Dämonen waren. Ihre Körperchen waren glatt und rundlich, die Ansätze ihres späteren Aussehens noch kaum zu erkennen. In diesem Alter sahen Jungen und Mädchen völlig gleich aus. Erst später, wenn die Geschlechtsreife einsetzte, verloren die männlichen Kinder die Flügel und wurden zu ihren Vätern geschickt; das wusste Rowarn von Graum.

Die Schar umkreiste ihn; die Kinder waren sehr neugierig, aber so richtig nah trauten sie sich nicht heran. Mit großen Augen betrachteten sie den Fremdling und trillerten und zwitscherten in unverständlichen Lauten. Entzückende Wesen. Dass aus ihnen eines Tages so schaurige Geschöpfe wie Tracharh werden konnten, war schwer vorstellbar. 

Ob sein Vater auch einst so gewesen war? Ein absurder Gedanke. Völlig ausgeschlossen. Angmor war sicherlich als Erwachsener auf die Welt gekommen, genauso finster, schrecklich und eiskalt wie er heute war.

Die Kinder flatterten schnatternd davon, als die Frauen kamen, und Rowarn wurde schlagartig von Furcht ergriffen. Was würde nun geschehen? Blieb ihm wenigstens noch die Zeit, sich zu erklären?

Doch dann vergaß er seine Angst so schnell, wie sie gekommen war, als ihm einfiel, dass er ja nichts mehr zu verlieren hatte und im Gegenteil sogar Arlyn an den Silbernen Gestaden wiederfände, wenn er jetzt stürbe.

Aber da war noch der Splitter. Wenn ich sterbe, ist das Land, vielleicht sogar die Welt verloren. Habe ich doch noch etwas zu verlieren? Oder ist es nur die Welt, die mich verliert?

Rowarn hielt sich aufrecht. Er war versucht, sein Hiersein zu rechtfertigen, doch dann schwieg er besser. Die Haltung der Frauen war nicht aggressiv, und sie trugen auch keine Waffen. Vielleicht wollten sie ihn doch anhören. Die Höflichkeit gebot es, geduldig abzuwarten, bis er zum Reden aufgefordert wurde.

Tief atmete er ein, als die Ausstrahlung der Frauen wie eine Flutwelle über ihn hinwegspülte und er die vermutlich geheimnisvollsten und abgeschiedensten Wesen Waldsees endlich von Nahem sah.

Genau wie die Dämonenmänner sah nicht eine Frau aus wie die andere. Manche besaßen Tierbeine, Fell oder Schuppen, vor allem die Schwänze waren oft von ausgefallener Form. Und ... die Flügel. Riesige Hautschwingen, lange Schwungfedern oder auch hauchfeine Gespinste aus Eisblumen oder Spinnennetzen. Ihre Gesichter waren fremdartig und doch menschenähnlich, und … voller Anmut. Allen gemeinsam war jedoch der perfekte weibliche Leib, von solch lasziver Schönheit und erotischer Ausstrahlung, dass Rowarn überwältigt war. Die Auren der Frauen leuchteten fast so hell wie die Sterne.

»Ich wusste nicht«, flüsterte Rowarn, »dass die Finsternis so strahlend sein kann ...«

Dies ist nicht die Finsternis, mein Schöner. Dies ist das Reich der Frauen, die Dämonen sind. Geboren aus der Magie der Finsternis, doch wir leben außerhalb davon. Wir sind, die wir sind. Wir leben in der Schöpfung.

Es war eine Stimme, die nicht mit den Ohren zu hören war, sondern seinen Kopf erfüllte wie ein Hymnus. Und es war eine Sprache, die er noch nie gehört hatte, obwohl er sie verstand.

Und dann kam sie.

Sie hatte vier Arme, und ihr bodenlanges Haar floss wie bergauf strömendes Wasser, flutete und wogte. Ein mit roter Haut bespannter Strahlenkranz wuchs aus ihrem Haupt wie eine Krone. Ihre Flügel, so groß und weit, dass Rowarn sie mit den Augen kaum erfassen konnte, schimmerten in den Farben des dunklen Regenbogens, durchsetzt von Sternen. Sie war der Inbegriff der Weiblichkeit, und sie füllte den gesamten Ort aus, war der Puls und Herzschlag des Reiches der Dämonenfrauen.

Rowarn konnte sich nicht mehr bewegen, er war vollständig von dieser Macht umgeben und eingehüllt, löste sich völlig darin auf. Er spürte, wie er eine Erektion bekam, und konnte nichts dagegen tun. Kein Mann hätte hier noch seine Fassung wahren können, und auch Rowarn hatte keinerlei Gewalt mehr über seinen Körper.

Die Dämonenkönigin landete vor Rowarn, sie überragte ihn um Haupteslänge, und ihre schillernden Augen blickten bis in die Tiefen seiner Seele.

Willkommen, Rowarn Perlmond, du strahlendes Leuchtfeuer der Dunkelheit.

Er war für einen Moment erschrocken, dann erleichtert und zuletzt wieder verunsichert. »Ich dachte, das Reich wäre tabu für Männer ...«

Das ist es auch, Winterbeere. Doch wir entscheiden, was mit denjenigen geschieht, die das Tabu brechen, und ebenso über die Ausnahmen, wie du eine bist, du entzückendes Halbwesen. Wir wussten natürlich, dass du kommst, wir haben deine Ankunft beobachtet, voller Spannung und Erwartung.

Rowarn schluckte und erbebte innerlich. Ihre Stimme regte seine Geschmacksknospen an, als würde er gezuckerte Trauben kosten. »Was ist das für eine Sprache?«

Dies ist die Geistersprache, ganz nahe am Ursprung, dem tain verwandt, aus ihm entstanden und jung, deshalb rein. Die Sprache der Frauen, kleiner Warmblüter. Die Sprache der Magie in ihrer reinsten Form, wie wir es sind, die Töchter der Finsternis.

Die Dämonenkönigin trat hinter ihn, und Rowarn wagte nicht einmal, mit einem Muskel zu zucken. Er hielt den Atem an. Dann spürte er ihre Arme um sich, die ihn vierfach von hinten umschlangen. Ihre lange, schmale Zunge umschmeichelte seine Ohren. Und ihre vollen Lippen glitten zärtlich an seinem Hals entlang.

Sag mir, was du fühlst.

»Begehren«, flüsterte er ängstlich, und sein Puls pochte so laut, dass er kaum seine eigene Stimme hören konnte. »So stark wie nie ...«

Ahnst du, was ich dir schenken kann? Welche Wonnen, welche Glückseligkeit, welche pure Lust?

»Ja ... doch ich will es nicht ...«

Schlangengleiche, krallenbewehrte Finger liebkosten ihn, glitten zu seinen Lenden hinab, und er stöhnte auf. Kraftlos sank er zurück in die Arme der Königin, unfähig, sich gegen ihre Berührung zu wehren.

Dies ist Wollust, wie sie geboren wurde.

»Hört auf«, seufzte er. »Ich bitte Euch, edle Herrin ...«

Weshalb willst du es nicht? Es ist eine große Ehre, von einer Dämonin geliebt zu werden ... und ein unvergleichliches Erlebnis, das dir mehr Erfüllung schenken wird als alles, was du dir jemals vorstellen kannst. Ich kann dir geben, was ein Mann niemals offen wagen würde, zu fordern. Ich kenne dein tiefstes Begehren ...

»Ich weiß«, flüsterte er erschauernd, während er der Woge der Erfüllung entgegentaumelte. Er zuckte und zitterte, noch nie hatte ihn eine Frau so berührt. Er keuchte, Schweiß bedeckte seinen Leib. Sein Körper wollte ihm nicht mehr gehorchen.

Jedoch ... sein Herz. 

»Aber ... ich liebe ...«

Sie hielt inne. Bist du deswegen hier? Aus Liebe?

»Nein. Aus Pflicht ...«

Öffne dich mir, Mann. Dann werde ich entscheiden ...

»Ich ...«

Halte nichts zurück! Gib dich mir hin, zeige mir alles, sonst wirst du es bereuen.

»Ich kann das nicht ...«

O doch, du kannst. Du wirst. Du musst nur blind vertrauen. Wage es, wenn du Mut hast. Wenn du mutlos bist, ist dein Schicksal besiegelt.

Er spürte, dass er nicht mehr lange widerstehen konnte. Seine Hoden waren so angeschwollen, dass sich die Haut schmerzhaft spannte, sein Glied pulsierte heiß wie im Fieber, und er stand kurz vor dem Erguss. Nur mit äußerster Kraft konnte er sich noch zurückhalten. 

»Nein ...«, stieß er flehend hervor. »Bitte ...« Er bekam kaum mehr Luft, weil seine Kiemen sich am Hals weit geöffnet hatten und flatterten. Er wand sich hilflos.

Die du zu lieben glaubst, ist tot! Welchen Sinn hat es, einer Toten die Treue zu halten?

»Sie ist ... meine Königin«, wisperte er. »Ob lebend oder tot, es gibt nur sie ...«

Du bist so jung! Dein Leben währt noch tausende von Jahren, doch schon jetzt willst du diesen Eid leisten? Bedenke wohl, was du tust!

Er zuckte unkontrolliert, sein Körper verlangte verzweifelt nach Erlösung. Der Punkt der Lust war nunmehr überschritten und in unerträglichen Schmerz umgeschlagen. Er musste nachgeben ...

Und dann dachte Rowarn an Arlyn, an den letzten Blick aus ihren Augen, bevor er brach, und er sah ihren toten Leib, dessen weiche Wärme er nie wieder spüren, dessen schlanke Arme ihn nie wieder umfassen würden. 

Dieser Schmerz war noch stärker als alles andere und half ihm, die Fassung zurückzugewinnen. Seine Kiemen schlossen sich, die Erregung ließ ein wenig nach, und er rang mit pfeifender Kehle nach Atem.

Er widersteht noch immer, wisperte die Dämonenkönigin. 

Rowarns trüber Verstand fragte sich träge, mit wem sie sprach, da sie beide längst allein waren. Die anderen Dämonenfrauen hatten sich zurückgezogen, es gab nur ihn und die Nebelinsel, auf der er stand, und die Arme der Dämonenkönigin um seinen Leib und ihre straffen, vollen Brüste an seinem Rücken ...

Da erklang eine weitere, unsagbar fremde Stimme, wie ein fernes Echo: »Er ist es, der lang Erwartete.« Da öffnete sich plötzlich ein Nebelschleier, und Rowarn sah den leuchtenden Rahmen eines Portals, in dem absolute Finsternis lag. Aber nur kurz, und dann ... erschien ein Licht darin und kam näher. Wurde zu einem wallenden Schleier, verwischt und verschwommen, dessen auseinanderfließende Ränder bereits durch das Portal züngelten.

Als der leuchtende Schleier vollends angekommen war, schloss sich das Portal und verschwand, und im Inneren des wabernden Lichts  bildeten sich die Konturen eines Wesens, das mindestens doppelt so groß sein mochte wie Rowarn. Eine Frau von perfekter Harmonie, völlig menschlich in ihrer Erscheinung, von Kopf bis Fuß umwallt von schillernden Haarschleiern, die ständig ihre Farben wechselten. Fast bis zum Boden reichten auch die gewaltigen, anmutigen Schraubenhörner. Die Augen der Frau waren gänzlich schwarz, und das Abbild tausender Sterne glitzerte darin.

Bald war sie so nah, dass Rowarn die Berührung ihrer flammenzüngelnden Aura spürte. Ihr Körper war nicht gänzlich stofflich, sondern ätherisch wie bei einem Luftgeist. Rowarn hätte niemals geglaubt, dass es noch eine Steigerung von Schönheit geben konnte. Wahrscheinlich war diese Frau der Ursprung des Begriffs, zum Greifen nah und doch unerreichbar wie ein Mond, dessen Licht niemals wärmte.

Das Naurakaerbe in Rowarn wurde starr und kalt, als die riesige Gestalt der Dämonenfrau ganz nahe war. Und er spürte, wie seine Lebenszeit im Eisfeuer ihrer Aura verbrannte.

»Ich sehe Nachtfeuers Essenz in dir«, flüsterte die Mächtige, und ihre Stimme klang wie das Rascheln eines trockenen Blattes. »Er hat etwas Schönes geschaffen, obwohl er das nie wollte ...«

»Er wusste es nicht«, antwortete Rowarn zitternd.

Die Frau lächelte gütig in tödlicher Schönheit. »Du bist einzigartig, Kind, weißt du das?«

»Man sagte es mir bereits ...«

»Das Erbe, das du in dir trägst, ist gewaltig. Älter als der Ewige Krieg. Dass es überhaupt möglich ist ... lässt uns hoffen ...«

Die Dämonenkönigin entließ Rowarn aus ihrer Umarmung, und endlich klang seine Erregung vollends ab. Furchtsam merkte er, wie die Dämonenkönigin vor der Riesin zurückwich und ihr gekröntes Haupt neigte.

Große Mutter, flüsterte sie ehrerbietig.

»Ich grüße dich, geliebte Nachfahrin«, wisperte die Mächtige und strich mit langen, schlanken Fingern zart, nicht viel mehr als ein Windhauch, über den Kopf der Dämonenkönigin.

Und dann streckte sie beide Arme aus und zog Rowarn an sich, doch auf ganz andere Weise als die Königin zuvor. Zärtlich und liebevoll, wie eine Mutter ihr Kleines in den Arm nimmt und wiegt. »Sei willkommen, Kind«, flüsterte sie. »Oh, wie sehr habe ich dies vermisst ...«

Was soll nun mit ihm geschehen?, fragte die Königin.

»Er hat widerstanden«, antwortete die Große Mutter und gab Rowarn frei, nicht ohne ihm noch einmal übers Haar zu streichen. 

Rowarn hätte nicht beschreiben können, wie sie sich anfühlte. Nicht so flüchtig wie ein Windzug, aber auch nicht so fest wie warmes Fleisch. 

Sie fuhr fort: »Gib ihm, wonach er verlangt.«

Das ist mir nicht genug! Das Erbe seines Vaters hat ihn vor dem Versagen bewahrt. Ist er wirklich der Verantwortung würdig und stark genug? Er ist so jung ...

»Meine Lebenszeit verrinnt ...«, klagte Rowarn. Er spürte, dass selbst die Kraft der Langlebigkeit der Nauraka nunmehr versiegte. Wenn er sich hier noch länger aufhielt, konnte er den Splitter gar nicht mehr mit sich nehmen.

»Es tut mir leid, mein kleiner Schatz«, raschelte die Große Mutter. »Überzeuge sie davon, dass du dir das Bruchstück des Tabernakels verdient hast.«

»Das habe ich nicht«, flüsterte Rowarn. »Und ich will es auch nicht für mich. Ich muss es vor dem Zugriff von Femris bewahren, der das Tabernakel zu nutzen verlangt. Ich aber habe kein Interesse daran. Ich will, dass Waldsee wie bisher außerhalb des Ewigen Krieges bleibt. Nichts soll sich verändern, auch Ihr sollt Euer Reich, Eure Sphäre bewahren, Hohe Königin.«

Edle Worte, doch dies ist auch, was geschieht, wenn ich den Splitter behalte.

»Nein, edle Frau, das wird es nicht.« Rowarn blickte die Große Mutter flehend an. »Ist Xhy Eure Welt, göttliche Herrin? Ihr müsst gesehen haben, was dort geschehen ist. Was der Nichtige von den Annatai Eurem Volk antat. Ich glaube, dass Femris einen Weg bereiten will, um ihn hierher zu bringen, um ihm die Macht des Tabernakels zu geben, damit die Finsternis obsiegt.«

Er sank langsam auf die Knie und sah, wie seine Haut trocken und runzlig wurde. Die Lebensenergie rann aus ihm wie aus einem blutenden Baum. Sein Leben würde bald zwischen den Sternen versickern, und nichts mehr würde von ihm bleiben, nur noch Arlyns Ring. »Mein Vater«, fuhr er mit letzter Kraft fort, »hat diesen Weg gewählt, weil er Ähnliches befürchtet.« Mit brechendem Blick schaute er noch einmal zu der Königin hoch. »Dies muss der Grund sein, weswegen Ihr Hüterin geworden seid«, stieß er mit versiegender Kraft hervor. »Ich bin das Bindeglied zwischen Eurer Welt und der ... anderen Seite. Ich will nicht, dass eine Macht gewinnt. Harmonie kann nicht ohne Gleichgewicht bestehen, aber das Gleichgewicht ist kalt und leer ohne Harmonie. Wir müssen beweisen, dass es immer noch die EINHEIT gibt oder zumindest Berührungspunkte. Helft mir! Ich bitte Euch. Und schnell, denn ...« 

Rowarn spürte, wie sein Herz den letzten Schlag tat. »Zu spät«, wisperte er traurig und fiel.