Kapitel 9

Am Goldenen Pass


Fürst Noïrun ließ den Tross auf der Hochebene an der Straße anhalten, die direkt in die Berge hineinführte, auf einen Pass zu, der durch einen schmalen Einschnitt in den sonst dicht zusammengedrängten Felsen führte. Auf der anderen Seite lag Valia, eine fremde Welt für die Bewohner von Inniu.

Der Morgen war gerade erst angebrochen, es herrschte eine trübe, müde Stimmung. Nicht einmal eine Krähe regte sich. Gerade erst wich der Frost, und alles troff vor Nässe.

»Fûr Garí«, sagte der Fürst und wies auf das karge, schroffe Gebirge vor sich. »Der kalte Stein, unüberwindlich und abweisend. Nichts wächst hier mehr, wie eine Mauer umgibt er das liebliche Tal, dem ihr nun Lebewohl sagen müsst. Auf der anderen Seite wird manches so sein, wie ihr es kennt, aber nichts mehr vertraut. Ein großes Land erwartet euch, mit vielen Wesen bevölkert, voller Wege und großer Städte, Gefahren und Schrecken. Ihr müsst erst lernen, Freund von Feind zu unterscheiden, und selbst dann ist noch nicht sicher, wem von beidem ihr vertrauen könnt. 

Die Straße hier führt über den Galad-Mur, den Goldenen Pass, wie man ihn in Valia nennt. Das heißt so viel wie Pfad der Erleuchtung, denn zu einer bestimmten Stunde bei der Sonnenwende ist der Durchgang hell und strahlend erleuchtet, in goldenes Licht getaucht. Es heißt, Lúvenor habe diesen Pass mit einem Schritt erschaffen, als er in der Frühzeit der Welt meditierend dahinwandelte, und sein Licht wurde in diesem zauberischen Moment gebannt. Jeder, der seither zu jenem Zeitpunkt den Pass durchschreitet, sei auf dem Weg zur Erleuchtung, sagt man.«

Noïrun drehte sich im Sattel um. »Wie auch immer, wir haben weder Sonnenwende noch die richtige Zeit. Ihr werdet also keine Erleuchtung erfahren, wenn ihr weiter Richtung Osten geht, sondern eine neue Welt betreten, die euch beeindrucken mag. Und gewiss werdet ihr auch nicht würdevoll dahinschreiten, sondern Blasen an Händen und Füßen haben. Ihr werdet durchfroren und mit viel Glück noch in einem Stück sein, wenn ihr erst oben angekommen seid. Aber die Strapazen werden sich lohnen, ihr werdet es erleben und in diesem Moment alles vergessen, was ihr auf euch genommen habt.«

Verunsichert, fast besorgt blickten die Rekruten auf ihren Herrn. Was mochte er sich nun wieder ausgedacht haben?

Noïrun wies auf den Weg, der eine Weile schnurgerade bergauf führte, und sich dann in Serpentinen zum Pass hinaufwand, in nebliger und frostiger Höhe. »Dies ist der Weg der Pferde, für mich und Olrig, und die Schar. Ihr aber ...« – und jetzt schwenkte sein Arm auf eine kahle, steile Wand links neben dem Weg, Ausläufer eines Berges, der weit über den Pass hinausragte – »... werdet über diese Wand hinaufsteigen, den Gipfel passieren und auf der anderen Seite zum Pass hinuntergehen, und schließlich ins Tal. Dort findet ihr dann ganz leicht zum Lager, es ist nicht zu verfehlen.«

Viele waren blass geworden und betrachteten voller Schrecken den steilen Hang. »Klettern?«, flüsterte der eine oder andere.

»Eine gute Übung für die Fingermuskulatur«, erklang Olrigs grollende Stimme. »Und für Trittsicherheit, Standfestigkeit und gutes Gleichgewicht. Danach werdet ihr wissen, wozu jeder einzelne Muskel eures Körpers nutze ist, eure Sehnen und Bänder, und ihr werdet nicht mehr ziellos herumhampeln, sondern eure Gliedmaßen in Zukunft mit Bedacht einsetzen.«

»Und kommt nicht auf die Idee, eine Abkürzung über den Weg zu nehmen«, fügte der Fürst hinzu. »Die Wand ist eure Aufgabe, den Berg müsst ihr bezwingen, um auf die andere Seite zu gelangen. Unser Pfad ist für euch verschlossen, und wer sich darauf wagen sollte, wird es bitter bereuen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit erwarten wir euch unten im Lager. Mit Feuer, frischem Wildbret, und heißem Honigbier.« Er trieb seinen Hengst an, und Olrig folgte ihm mit der Schar und den Packpferden.

Einhundertfünfzig Rekruten blieben frierend und voller Angst zurück.



Das Felsgestein war schroff und voller Kanten und Vorsprünge, aber es bot trotzdem kaum Möglichkeit, sich festzukrallen und Halt für die Füße zu finden. Zudem war es nass und eiskalt, teilweise froren die Fingerkuppen fest.

Rowarn hatte längst jedes Gefühl in Fingern und Zehen verloren. Auf Bäume klettern, das konnte er, aber mit Steilwänden hatte er nicht die geringste Erfahrung, so wenig wie irgendein anderer der Rekruten. Niemand, der in Inniu lebte, ging jemals freiwillig ins Gebirge, und das war auch kein Wunder. Rowarns Kleidung war durchweicht, er war nass bis auf die Haut und fror bis in die Knochen. Er konnte gar nicht hinsehen, wie andere barfüßig in der Wand hingen, schon halb blaugefroren. 

Weit hinter ihnen, in der Richtung, aus der sie gekommen waren, herrschte fröhliches, helles Frühlingswetter. Doch Fûr Garí war von jedem Licht dieser Welt verlassen, und der Lichte Gott Lúvenor schien seinen Schatten hier zurückgelassen zu haben, als er den Fuß darübersetzte. Kein Wunder, dass dieses Gebirge Kalter Fels hieß! Hier hielt es nicht einmal mehr das genügsamste Getier aus, die einzige Gesellschaft waren die Krähen, die sie spottend umkreisten. Anscheinend warteten sie darauf, dass einer abstürzte, um die leckersten Happen von ihm zu ergattern, wie beispielsweise die Augen und die Zunge.

Langsam, Handbreit um Handbreit, schob Rowarn sich nach oben. Doch je weiter er kam, desto schroffer und abweisender wurde der Berg, dessen lichtgekrönter Gipfel hoch über ihm aufragte.

»Nie wieder Sonne«, murmelte jemand unter ihm. »Für immer und ewig in tropfender Fäulnis, Schwamm und Flechte, und die Bäume voll Schimmel.«

Jelim kam in Rowarns Nähe. Er sah sich um, ob jemand zuhörte, aber sie waren alle viel zu sehr mit sich beschäftigt. Von unten mussten sie wie eine Horde Käfer aussehen, die sich unbeholfen über ein Hindernis stemmten, das ihre Kräfte überstieg.

»Wundert mich, dass du dabei bist«, presste er zwischen den Zähnen hervor.

»Ist 'ne gute Übung«, gab sie gut gelaunt zurück. »Außerdem habe ich den seltsamen Ehrgeiz entwickelt, euch alle heil rüberzubringen.«

»Oder eine Wette abgeschlossen«, mutmaßte Rowarn.

»Oder eine Wette abgeschlossen«, gestand sie grinsend ein. »Ich will was wiederhaben von dem Sold, den ich wegen dir verloren habe.«

»Hat tatsächlich einer gewonnen?«, fragte er erstaunt.

Sie nickte. »Olrig.«

Rowarn stockte. Dann brach er in schallendes, fast hysterisches Gelächter aus. »Wie könnt ihr so blöd sein, gegen ihn anzutreten?«

»Aber das war doch schon die zweite Wette«, erwiderte Jelim. »Die erste haben wir alle verloren, und wir mussten in einen Topf einzahlen, der für solche Fälle eingerichtet wurde. Ist inzwischen schon hübsch voll. Bei der zweiten Wette ging es darum, dass der Fürst dich entlässt.«

»Da wart ihr nahe dran«, murmelte Rowarn unglücklich.

»Ich weiß.« Jelim hangelte nach einem Vorsprung und hing für einen Moment frei in der Luft, bevor sie sich weiterschwang. Sie beherrschte das Klettern meisterhaft. »Olrig hatte mitbekommen, das Noïrun es tun wollte, und die Wette ausgerufen. Er hat darauf gesetzt, dass der Fürst dir irgendwann später noch mal eine Chance geben wird, und damit war er näher dran als wir anderen.«

Er hatte es also tatsächlich vorgehabt. Für einen Augenblick war Rowarn nicht wegen der Strapaze nach Weinen zumute. »Fürst Noïrun ... hat mich aber doch gar nicht entlassen«, stieß er hervor.

»Ja. Erstaunlich. Er hat noch nie so abrupt eine Entscheidung umgestoßen, und nicht mal Olrig weiß, was ihn dazu bewogen hat.« Jelim war inzwischen fast außer Reichweite einer normalen Unterhaltung und kletterte munter weiter.

Rowarn folgte ihr, und die so lange eingesperrten Tränen rannen ihm jetzt heiß die Wangen hinab. Das machte nichts. Es hatte ohnehin zu regnen angefangen.



Einige führten Seile mit, und so hatten auch die Schwächeren Aussicht, den Gipfel zu erreichen, wenn sie aus Angst oder Schwäche nicht mehr weiterkonnten. Die Rekruten hatten sich in Gruppen aufgeteilt, wobei die Stärksten vorausgingen, um den Weg zu erproben und dann Anweisungen für die Nachfolgenden zu geben und sie mit Seilen zu sichern. Jelim war gleichzeitig überall und achtete darauf, dass keiner einen Fehler machte. Inzwischen hatte auch der Letzte mitbekommen, dass sie in Wirklichkeit zur Schar gehörte, und in diesem Moment waren alle mehr als dankbar dafür, denn sie verströmte Ruhe und Sicherheit. Sie wusste genau, was zu tun war, und zeigte, dass der Berg kein unüberwindbares Hindernis darstellte.

Sie brauchten vier Stunden für die erste Wand, doch das war auch der schlimmste Teil gewesen, wie sich herausstellte. Als Nächstes mussten sie über Geröllhalden, und dann an Lawinenhängen entlang, und zuletzt über eine Ziegenstrecke, was bedeutete, sie mussten nach oben von Felsen zu Felsen springen.

Auch hier gab es nicht die geringste Spur von Leben. Alles war grau und verlassen, nicht einmal Flechten klammerten sich an irgendein Gestein. Die Luft wurde merklich dünner und noch eisiger, und Jelim mahnte, alle zehn Schritte eine Pause einzulegen und ruhig durchzuatmen.

Doch dann waren sie oben, und plötzlich war die Grenze zwischen Dunkelheit und Licht überschritten. Sie fanden in den Tag zurück, genau in die späte Mittagssonne hinein, die ihre durchfrorenen Körper rasch erwärmte und die Kleidung zum Dampfen brachte, obwohl die Füße in ewigem Schnee und Eis standen.

Jubelnd standen sie oben, in mehreren Reihen, dicht gedrängt auf dem schmalen Grat, umarmten sich und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern.

»Fennóngar«, sagte Jelim zu Rowarn. Sie war kurzatmig wie alle, aber stolz. »Der König des Fûr Garí, der höchste Gipfel von allen, in Valia weithin sichtbar an klaren Tagen. Hier oben sind wir den Göttern ganz nah.«

Andächtig und ehrfürchtig sahen sie sich um, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatten. 

Jelim hatte recht, einen erhabeneren Anblick hatte Rowarn nie gesehen. Schwarzblau wölbte sich der Himmel über ihnen, die Sonne schien zum Greifen nah. Nicht weit dahinter lag das Träumende Universum, ein Reich der Wunder mit vielen Welten, und fast im Zentrum, ein fernes glitzerndes Band, die Sternensee, das größte aller Reiche, an der Grenze zu Regenbogen und Finsternis gelegen. Von dort stammten die unsterblichen Sternenkinder, von deren Geschichten Rowarn als Kind nie genug bekommen und von denen er immer geträumt hatte, als er nachts den Sternenhimmel betrachtete.

»Alles andere verblasst ...«, flüsterte er, und ihm war, als streifte ihn der Atem eines Gottes, als ein sanfter, trockenkalter Wind aufkam.

»Hier oben werden die alltäglichen Probleme winzig klein«, stimmte Jelim zu. »Das ist der höchste Ort, den kurzlebige Sterbliche wie wir erreichen können, um eine Ahnung von der Macht zu erhalten, die uns umgibt. Selbst Mächtige der Finsternis wie Femris, unser Feind, auf den wir uns ganz und gar konzentrieren werden, wenn wir wieder unten sind, kann nicht an dem rütteln, was wir hier oben sehen – die Wahrheit.«

»Ja«, flüsterte Rowarn abwesend. »Meine Muhmen erzählten mir hiervon. Wenn wir ganz genau hinhören, können wir sogar der Weltenmelodie lauschen, oder zumindest einigen Klängen davon. Denn dieses Universum wurde mit Klang geschaffen, und der erste Ton schuf das erste Licht und die erste Welt. All dies wurde geformt von Ishtrus Erstem Gedanken Erenatar, als er zu singen begann, als die Melodie aus ihm strömte und alles erfüllte. Dies ist es, was Ishtru der Träumer ist, sein Ur-Sein, sodass wir alle ein Teil von ihm sind, und von seinem Traum. Einst schwangen wir alle in derselben Harmonie, doch das änderte sich, als aus der EINHEIT das GETEILTE wurde, und die Melodie hat nun Dissonanzen. Aber jede Welt hat ihren eigenen Klang, und der von Waldsee, so sagen meine Muhmen, sei besonders rein.«

Die anderen, einschließlich Jelim, starrten ihn sprachlos an, ein wenig ungläubig, jedoch auch bewundernd.

Atemlose Stille trat ein, und alle lauschten mit geschlossenen Augen.

Rowarn entspannte sich, wie er es gelernt hatte. Und dann ... hörte er es tatsächlich. Zarte, süße Klänge, die er nicht beschreiben, geschweige denn nachsingen könnte, doch sie waren unbeschreiblich schön und erfüllten ihn mit tiefer Liebe. Vor seinem inneren Auge formte sich schließlich ein Bild, ein leuchtender Schemen, umgeben von weißen Schleiern. Die anmutige, ätherische Gestalt einer Frau in langen Gewändern, deren helle Haare sie wie ein Umhang umgaben, mit einer perlmuttschimmernden Haut und Augen, tiefer als ein See, blauer als der Himmel. Sie lächelte.

Mutter ...

Rowarn, mein Sohn.

Doch abrupt änderte sich das Bild und wurde dunkel. Rote Schleier verhüllten die Gestalt der Frau, und die Klänge, die sie umgaben, wurden dissonant und schrill. Rowarn sah einen riesigen Schatten, der sich über sie beugte, und sie fiel, und er sah Blut, überall Blut, und dann verspürte er einen entsetzlichen Schmerz ...

Rowarn stieß einen Schrei aus und brach in die Knie. Wimmernd beugte er sich vornüber, krallte die Finger in den Schnee, versank fast mit dem Gesicht darin. »Nein ... nein ...« Seine Tränen schmolzen winzige Löcher in den Schnee, und er stieß einen weiteren Klagelaut aus und schlug sich an den Kopf, krallte die Finger in seine Haare und riss daran. »Nehmt es von mir! Ich will diese Bilder nicht sehen!« Er würgte, aber sein leerer Magen gab nichts mehr her.

Erst als Jelim ihn heftig schüttelte und Rayem ihm einen Schneeball an den Kopf warf, beruhigte Rowarn sich etwas. Er verharrte leise schluchzend, gekrümmt im Schnee.

»Was hat er denn?«, fragte Jelim besorgt.

»Er ist manchmal ein bisschen komisch«, antwortete Rayem.

»Das ist noch milde ausgedrückt«, bemerkte Lohir Sommersprosse. »Wir erleben den großartigsten und erhabensten Moment unseres Daseins, sind fast so weit, Zwiesprache mit den Göttern zu halten, und er dreht durch.«

Rowarn fühlte kräftige Hände zu beiden Seiten, die ihn mit einem Ruck hochzogen. »Kommt, bringen wir ihn runter, bevor er noch abstürzt«, sagte Rayem.

»Es wird ohnehin Zeit«, stimmte Jelim zu. »Wenn wir es bis zur Dämmerung schaffen wollen, müssen wir ordentlich an Geschwindigkeit zulegen.«

»Kein Problem«, grinste Kalem Schwarzzahn neben ihr. »Abwärts geht's! Und ich habe auch schon einen hervorragenden Weg entdeckt.«

Mit vereinten Kräften schafften sie den willenlosen Rowarn auf der anderen Seite hinunter. Der Weg war hier tatsächlich um einiges leichter, bis sie zu einem Hang kamen.

»Wir sollten den Weg dort hinten nehmen«, schlug Jelim vor.

Kalem schüttelte den Kopf. »Das hier ist ein Gletscher, und nicht mal besonders steil. Wir können ganz einfach hinuntergleiten.«

»Du bist verrückt!«, stieß Jelim hervor. »Wir könnten eine Lawine lostreten und uns sämtliche Knochen brechen!«

Lohir stellte sich an Kalems Seite. »Trittfestigkeit und Gleichgewichtssinn, das hat Olrig doch gesagt, oder? Also ist es ein Teil unserer Ausbildung. Wir schaffen das schon. Und ich glaube nicht, dass es eine Lawine gibt. Hier oben gibt es kaum Schmelze, und noch nicht zu dieser Jahreszeit.«

»Dein Weg ist zwar sicherer, aber der kostet uns mindestens drei Stunden!« Kalem deutete hinüber zum Pass, der schon fast greifbar nahe schien. »Wenn wir hier runtergehen, sind wir in einer halben Stunde dort, und der Rest ist dann ein Spaziergang.«

Rayem packte Rowarns Schultern und schüttelte ihn. »Hast du irgendwas von dem mitbekommen, was wir gerade gesagt haben?«

Rowarn blinzelte und kam langsam wieder zu sich. Er prüfte die Lage, starrte zuerst Jelim, dann Kalem an. »Soll ich das etwa entscheiden?«, rief er. »Zuerst erklärt ihr mich für verrückt, und dann wollt ihr mir die Verantwortung aufdrücken?«

»Ich habe eine Wette zu gewinnen«, sagte Jelim. »Und du bist Noïruns Knappe.«

»Na und?« Rowarn seufzte. »Also gut.« Er trat auf den Hang zu, suchte nach geeigneten Möglichkeiten und begann den Abstieg. Überrascht stellte er fest, dass es besser ging als geglaubt. Es war nicht zu steil, und die Eisschicht nicht zu dick und fein verkrustet. Die Schneeschichten darunter wirkten fest miteinander verbacken und trittsicher. Manchmal wurde es zu einer Rutschpartie mit wedelnden Armen oder sogar auf dem Hintern, doch es war machbar. Rowarn kam gut voran. 

Kalem und Lohir stießen einen begeisterten Jubelschrei aus und waren schon unterwegs. Nun war die Meute nicht mehr aufzuhalten, und bald darauf rutschten und schlitterten sie johlend und kreischend den Hang hinunter.



Zwei Stunden vor der Dämmerung passierten sie den Galad-Mur, doch sie hielten sich nicht lange damit auf, die erste Aussicht auf das Land Valia zu genießen. Im Tal unter dem Pass stand bereits das Lager mit dem kleinen weißen Zelt des Fürsten, und wie versprochen brannte ein Feuer als Signal bis hierher.

Von neuer Kraft und Zuversicht erfüllt, rannten sie die Passstraße nach unten. Das war tatsächlich nur noch ein gemütlicher Spaziergang nach all den Strapazen, auch wenn es ordentlich auf die Knie und die Oberschenkelmuskeln drückte.

Etwa eine Stunde später sprangen sie von den letzten Felsen auf weichen Grasboden herab, kehrten in das helle, warme Frühlingsreich zurück, und liefen lachend und winkend auf das Lager zu, wo sie mit lauten Rufen und wild wedelnden Armen erwartet wurden. Selbst die stolzen Ritter begrüßten die Ankommenden überschwänglich, klopften ihnen auf die Schultern und ließen sie hochleben.

Jelim kam an Rowarns Seite und packte ihn am Arm. »Wir beide gehen als erstes Bericht erstatten«, sagte sie. Eilig klopfte sie Rowarns immer noch feuchte Kleidung ab und ordnete sie. »Unmöglich siehst du aus, so kann man doch nicht vor den Fürsten treten«, murmelte sie.

»Na, und du etwa?«, spottete er und half ihr dann gutmütig dabei, sich selbst wenigstens einigermaßen in Ordnung zu bringen.

Noïrun und Olrig erwarteten sie bereits vor dem Zelt, während die anderen wie eine Horde Wilder im Lager einfielen, sich um das Feuer drängten und um Bier bettelten.

»Wie viele?«, fragte der Fürst knapp.

Jelim strahlte und hielt Olrig die Hand mit nach oben gerichteter Fläche hin. »Etwa zweihundert Verletzungen, Hautabschürfungen, Schnittwunden und dringend behandlungsbedürftige Füße, mehrere leichte Knochenbrüche, hauptsächlich Finger, und ein oder zwei Gehirnerschütterungen«, antwortete sie lässig. »Aber keine Verluste.« Sie grinste den Kriegskönig an. »Einhundertfünfzig.«

Olrig brummte und zog einen kleinen Beutel Münzen hervor, den er in ihre Hand legte. Seine Augen allerdings funkelten ebenfalls vor Freude. Diese Wette verlor er offensichtlich gern.

Und Rowarn sah Noïrun zum ersten Mal seit dem Aufbruch lächeln, glücklich und erleichtert. »Gut«, sagte er, und das war vermutlich das größte Lob, das man von ihm erwarten konnte.

»Und ich bin aufgeflogen«, gestand Jelim freimütig und machte ein verdutztes Gesicht, als nun Noïrun Olrig die Hand hinhielt, der sich knurrend von einem zweiten Beutel verabschiedete. »Ihr – Ihr wettet auch?«, stammelte sie verwirrt.

»Glaubst du, ihr habt allein das Recht dazu?« Die Augen des Fürsten blitzten wie Smaragde, und seine Augenfältchen hatten sich vertieft. »Gut gemacht.« Er wandte sich ab und winkte Rowarn. »Komm, Junge.«

Rowarn folgte ihm ins Zelt. »Was soll ich tun, Herr?«, fragte er. Im Augenblick fühlte er sich, als könnte er Bäume ausreißen. Die schreckliche Vision auf dem Berggipfel war verblasst, verdrängt, vergessen angesichts des Hochgefühls, Valia auf diesem harten Weg erreicht zu haben; nun war bestimmt auch alles andere zu schaffen.

»Nichts.« Noïrun lehnte sich an den Tisch und musterte ihn prüfend.

Rowarn erschrak zutiefst. »Oh ...«, machte er verstört.

Aber der Fürst winkte ab. »Du hast heute frei, Rowarn. Nimm dir Zeit und schlaf dich vor allem endlich einmal aus. Keine Übungen heute mit Jelim.«

»Ich ...« Rowarn wurde knallrot. »Ihr habt es gewusst?«

»Ich weiß alles, was vor sich geht«, versetzte Noïrun ruhig. »Ich wäre ein schlechter Anführer, wenn mir das entgangen wäre. Sie hat es mir übrigens nicht gesagt, falls du sie verdächtigen solltest.« Er lächelte. »Soldaten können sich noch so spinnefeind sein, gegen ihren Befehlshaber halten sie alle zusammen. Sie würde dich nie verraten, so wie du sie nicht verraten hast.« Er legte den Kopf schräg. »Läuft da etwas zwischen euch?«

Darauf konnte Rowarn antworten, ohne zu erröten. »Nein, Herr, nicht das Geringste.«

»Dann also Rayem«, brummte Noïrun und nickte für sich. »Dachte ich es mir doch.«

»Ihr wisst seinen Namen?«, stieß Rowarn entgeistert hervor. Und dass ausgerechnet Jelim und Rayem ... das war ihm völlig entgangen!

»Natürlich. So schnell werde ich unser Abenteuer in Madin nicht vergessen. Etwas derb, aber ein guter Junge. Wird ein gestandener Soldat.« Noïrun goss eine goldfarbene Flüssigkeit aus einem Krug in zwei Becher und reichte Rowarn einen. »Du wirst anständig essen und darauf achten, dass du alles drinbehältst«, fuhr er fort. »Ich meine es ernst. Morgen brechen wir zum Hauptlager auf.«

Rowarn, der vorsichtig an dem Getränk genippt hatte und sich dann zurückhalten musste, um nicht vor Begeisterung den ganzen Becher auf einmal hinunterzukippen, sah verwundert auf.

»Wir werden bereits erwartet«, erklärte Noïrun. »Aus dem ganzen Westen sind neue Rekruten eingetroffen. Wir werden dort etwa zwölf Tage bleiben, um euch auszubilden, wobei neben der Grundausbildung auch die Spezialausbildungen beginnen. Dann teilen wir uns auf und reiten getrennt nach Ardig Hall. Doch dazu später. Für dich ist erst einmal von Bedeutung, dass du mit der Schwertausbildung weitermachst. Gleichzeitig sollst du das Kämpfen zu Pferde lernen, mit Lanze und Speer. Dein kleiner Wallach wird das entsprechende Rüstzeug erhalten und mit dir zusammen lernen. Ein sehr gutes Pferd, übrigens, aber das ist auch kaum verwunderlich. Es werden lange Tage werden, denn wir haben bedauerlich wenig Zeit, aber ich kann es nicht ändern. Wir müssen die Übungen eben auf dem Weg nach Ardig Hall fortsetzen.«

»Und meine Aufgaben als Knappe?«, fragte Rowarn.

»Sprich dich mit deinen Lehrmeistern ab, damit du deine Pflichten nicht vernachlässigst. Du kennst inzwischen meinen Rhythmus und weißt, was ich verlange.« Der Fürst hob den Becher, und Rowarn tat es ihm hastig gleich. »Beweise mir, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«

Rowarn schlug die Augen nieder. Der Wein schwappte auffordernd in seinem Gefäß und spiegelte das flackernde Licht der Fackeln. Draußen wurde es allmählich dunkel. Er trank den Becker leer.

»Es ist Rache, nicht wahr?«, sagte der Fürst leise. »Nur Rache kann ein so starker Antrieb sein.«

»Nicht auch Gier?«, murmelte Rowarn ablenkend. »Femris gibt niemals auf.«

»Wer weiß? Niemand von uns kennt ihn. Er tritt nur selten in Erscheinung. Er scheint nur einen einzigen Gedanken zu haben, der in ihm brennt wie ein unauslöschliches Feuer. Doch vielleicht ist es die Finsternis, die ihn dazu treibt, die ihn in ihren Klauen hält als Werkzeug.« Noïrun näherte sich seinem Knappen. »Die Finsternis ist immer nahe, Rowarn«, flüsterte er. »Und in dir ist große Dunkelheit.«

Rowarn wich seinem Blick aus. »Die Finsternis ist mein Feind«, wisperte er.

Noïrun nahm ihm den leeren Becher ab und kehrte zu seinem Tisch zurück. »Genieß den Abend, das ist ein Befehl«, sagte er und machte eine Geste, die Rowarn anzeigte, dass er sich entfernen sollte.



Draußen schnappte Rowarn nach Luft. Sein Hochgefühl war fort, ausgelöscht; eine schwarze Klaue hatte nach seinem Herzen gegriffen und es zusammengedrückt. Der Fürst blickte immer auf den Grund seiner Seele. Alles in ihm drängte danach, sich Noïrun zu offenbaren, ihm die Zusammenhänge zu erklären, um ihm deutlich zu machen, warum er ihn immer wieder enttäuschte. Vielleicht wäre es wirklich das Beste, aus seinen Diensten entlassen zu werden. Aber es gab kein Zurück mehr, für beide, und das wussten sie. Rowarn hätte es niemals übers Herz gebracht, den Fürsten zu verlassen, und diesem schien es nicht anders zu gehen. Ein festes Band bestand zwischen ihnen, das nicht so einfach zerstört werden konnte.

Rowarn schüttelte sich und drängte auch diese Gedanken beiseite. Er hatte den Befehl erhalten, den Abend zu genießen und sich gründlich auszuschlafen, und das würde er auch tun! Immerhin hatte er eine große Aufgabe bewältigt, er hatte mehr ausgehalten, als er je für möglich gehalten hätte, und dabei eine Menge gelernt. Er war seinem Ziel ein ganzes Stück nähergerückt. Und an dem hielt er fest, mehr denn je seit der Vision auf dem Gipfel.

Er ging zu den anderen ans Feuer, bekam einen vollbeladenen Teller und einen hölzernen Humpen in die Hand gedrückt, und dann stießen sie mit ihm an, saßen zusammen und lachten, aßen und tranken.

Irgendwann gesellte sich Olrig zu ihnen und gab mit erstaunlich guter, tragender Stimme ein Lied zum Besten.


»Einstmals ging ich den Weg entlang, den Weg nach Ardig Hall

Da sah eine Maid ich, süß und rein, und sie sang mit weitem Schall,

Heller als die Vögel, und drei Blumen hielt sie in der Hand,

Hielt sie mir entgegen, sprach so: ›Dies ist mein Pfand‹,

›Nimm es an, willst jemals du mich wiedersehen ...‹

Sprach ich: ›Der Krieg ist da, so muss ich denn gehen‹,

›Doch nehm ich dein Pfand, will es tragen bei mir immerdar‹,

›Und wenn ich dann lieg auf dem Feld, so weiß ich, es ist wahr:‹

›Solang die Blumen blühn, solang ihr Duft ist rein‹,

›Bist treu du mir, und ewig treu will ich dir sein.‹

Sprach sie: ›Mein tapfrer Kämpfer du, sei unbesorgt, wirst leben‹,

›Wirst heimkehren, solang die Blumen blühn‹

›Und dann, wenn die Feuer auf dem Schlachtfeld verglühn‹,

›Will ich dich lieben, auf ewig dein, und mich dir ganz geben‹.

Dies sprach sie zu mir auf dem Weg nach Ardig Hall

Und so ging ich weiter, und wusste, nun hab ich die Wahl,

Zu kämpfen und zu leben, für meinen Schatz in Ardig Hall.«


Beifall und lobende Pfiffe folgten dem Vortrag, das Bier kreiste. Jemand zog eine Tonflöte hervor, ein anderer eine Laute, und bald wusste jeder ein Lied, bei dem alle mitsingen konnten.

Olrig zwinkerte Rowarn zu und machte sich auf den Weg zum Zelt des Fürsten. Rowarn wiederum merkte, wie ihm der Kopf rasch schwer wurde. Er war satt und zufrieden, und da er sich endlich einmal entspannte, machte sich mit aller Macht die Überanstrengung der letzten Tage bemerkbar. Er verließ die fröhliche Runde, und da ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, fiel es niemandem auf.

Müde stapfte Rowarn durch die Dunkelheit zu den angebundenen Pferden, bei denen hohe Fackelstäbe steckten und sie in ein schemenhaftes, flackerndes Licht tauchten. Windstürmer wieherte ihm leise entgegen, wie immer, und schmauste verzückt das Stück Brot, das Rowarn mitgebracht hatte. Der kleine Falbe hatte sich ordentlich gemacht, wie sein Herr sogar bei dem schlechten Licht feststellen konnte. Sein Kindergesicht war verschwunden, und er hatte Muskeln bekommen; Rowarn bildete sich ein, er sei sogar ein wenig gewachsen. Die Mähne stand prächtig, und der Hals war fast so kräftig wie der des Kupferhengstes. 

Eine Weile schmusten die beiden miteinander, dann packte Rowarn seine Decken und ging hinaus ins Land. Der Schein des Feuers reichte immer noch für ein tröstliches Licht und warf schmale Lichtstreifen auf das dunkle Gras. Leises Gelächter und der Klang der Musik begleiteten ihn. Die Blumen waren alle geschlossen, doch Rowarns Augen waren weit offen, als er eine Decke ausbreitete, sich darauf räkelte, die zweite Decke über sich zog und die Arme hinter dem Kopf verschränkte. 

Völlig leer an Gedanken blickte er zum Sternenhimmel hoch, sah den Großen Läufer, der fast die Hälfte des Sichtfeldes einnahm, mit der Laterne in der einen und dem Speer in der anderen Hand. Groß leuchtete sein Auge, Ishtrus Träne, das den Himmel beherrschte, solange der Mond nicht aufgegangen war. Ishtrus Träne war der Schutz aller Reisenden zu Lande und zu Wasser, vielleicht selbst in der Luft, denn wer dem Stern folgte, fand immer eine Stadt, einen Brunnen, ein Licht in der Dunkelheit noch im tiefsten Wald.

Rowarn schloss die Augen und schlief ein.



Er erwachte, als ihn jemand am Arm berührte. Rowarn fuhr auf. Der Mond war inzwischen aufgegangen, das Feuer zu einem fernen Flackern herabgesunken, alle Geräusche verstummt, und er starrte in Morwens Gesicht.

»Was tust du hier?«, flüsterte er erschrocken. »Du weißt, dass das streng verboten ist ...« 

»Mach dir keine Gedanken«, wisperte sie. »Mein Vater hat sich heute mehrere Tropfen Ushkany gegönnt und wird längst schnarchen.« Sie wollte ihre Hand unter sein Hemd schieben, aber Rowarn zuckte zurück. Ihm blieb fast das Herz stehen. Entsetzt flüsterte er: »Dein ... dein Vater? Du ... sprichst du etwa v-von – Fürst Noïrun?«

»Klar, von wem denn sonst?«, sagte sie verwundert.

Rowarn war mit einem Satz aus den Decken. »Bist du denn völlig irre?«, keuchte er heiser, die Augen weit aufgerissen. »Du kannst doch nicht einfach zu mir ... mit mir ... und dann auch noch ... als seine Tochter ...«

Morwen hob die ebenmäßig geschwungenen Brauen. »Rowarn, ich bin fünfundzwanzig«, sagte sie geduldig. »Andere haben in meinem Alter schon drei Kinder. Ich entstamme einer flüchtigen Liebschaft, als mein Vater noch sehr jung war und von seinem Vater zur Ausbildung im Kriegshandwerk in die beste Schule Valias geschickt worden war. Meine Mutter hat mir meine Herkunft nie verheimlicht, und als ich alt genug war, bin ich einfach zu ihm gegangen und habe mich um Aufnahme in seine Schar beworben – als Fährtenleserin. Weil mein Talent ihn überzeugte, nahm er mich auf, und er akzeptierte auch, dass ich seine Tochter bin, von der er bis dahin nichts wusste. Das ist alles, mehr gibt es da nicht zwischen uns. Wahrscheinlich bin ich nicht mal sein einziges Kind aus dieser Zeit. Glaub mir, dir bringt er mehr väterliche Gefühle entgegen als mir.«

»Umso schlimmer!«, wimmerte Rowarn in heller Panik. »Er wird mich umbringen! Aufhängen! Strangulieren! Und noch Schrecklicheres ...«

»Solange du dich nicht aufführst wie ein altes Waschweib, dem man die Wäsche gestohlen hat, wird er es nie erfahren.« Morwen packte ihn am Hemd und zog ihn mit erstaunlicher Kraft, die so gar nicht zu ihrer schmalen Erscheinung passte, zu sich und auf die Decke. Sie drückte ihn nieder und beugte sich über ihn. »Die Nacht wird nicht länger, und ich habe schon genug Zeit auf der Suche nach dir vergeudet«, murmelte sie an seinen Lippen. »Also halt endlich den Mund und setze lieber deinen prächtigen männlichen Körper dafür ein, wofür er gedacht ist: ein einsames Mädchen wie mich zu erfreuen.«

Dann küsste sie ihn, und sein Widerstand brach umgehend zusammen. Er legte die Arme um sie und fing an, sie ebenfalls zu küssen. Schnell erinnerte er sich, wie das ging, auch wenn es schon Jahre her zu sein schien, dass er zuletzt geküsst hatte. Seine Lebensgeister, die er nach all den Strapazen für immer verloren geglaubt hatte, erwachten ebenfalls. Morwen kicherte leise, als ihre Hand endlich ungehindert auf Wanderschaft gehen durfte und schließlich innehielt. »Wie erfreulich«, wisperte sie.

Er hielt ihre Hand fest. »Runter mit den Sachen«, versetzte er rau. »Ich will dich sehen, nicht nur fühlen.«

Ihre Augen blitzten im fernen Feuerschein auf. Der Mond umrahmte zart die Umrisse ihres schmalen Gesichtes. Flink öffnete sie ihre Kleidung und streifte sie ab. Rowarn richtete sich auf und zog sein Hemd aus, dann verharrte er und betrachtete Morwens blasse, matt beschienene Haut, über die ihre Haare in dichten Wellen fielen. 

Vorsichtig zeichnete er die Konturen ihrer kleinen, straffen Brüste nach und küsste andächtig ihre aufgerichteten Spitzen, während er seine Hände über Morwens Körper gleiten ließ. »Wie konnte ich dich je für einen Jungen halten«, raunte er staunend, und ein Leuchten trat in seine Augen, dass Morwen erschrocken sagte: »Schließ die Augen! Dieses Leuchtfeuer könnte jeden Moorläufer anlocken, der nicht blind ist ...«

Rowarn lachte leise und ließ sich zurücksinken, die Augen halb geschlossen. 

Morwen kauerte sich über ihn und strich sanft über seine glatte Brust. »Du bist ein Wunder, Rowarn«, wisperte sie, »wie eine Perle in der Dunkelheit. Ich habe noch nie jemanden wie dich gesehen ...«

»Genug der Worte«, unterbrach er und zog sie an sich.



Kurz vor dem Morgengrauen erwachte Rowarn schlagartig. Für einen Moment lag er wie gelähmt in der verblassenden Dunkelheit und wagte nicht zu atmen.

Dann bemerkte er den warmen, weichen Körper, der an ihn geschmiegt war, in seinem Arm ruhte, sich leicht im Ein- und Ausatmen bewegte. Er stieß den angehaltenen Atem aus und lauschte auf seinen rasenden Herzschlag, der noch eine Weile ziellos galoppierte, bevor er endlich langsamer wurde.

Rowarn drehte sich auf die Seite und betrachtete Morwens stilles, entspanntes Gesicht. Das schwache Licht der schläfrigen Sterne genügte seinen nachtsichtigen Augen, um ihre Konturen zu sehen, und die Linie ihres Körpers, der langen Beine unter der Decke zu erraten. Für ihn besaß der matte Schimmer der Haut in der Dunkelheit sogar einen besonderen Reiz, und er bedauerte unwillkürlich die Menschen, die sich durch ihre Nachtblindheit nie auf diese Weise sehen konnten und dadurch sanfte, reine Schönheit verpassten. Zart strich er Morwen mit den Fingerspitzen übers Gesicht und lächelte, als sie übergangslos die Augen aufschlug und ihn durch die Dunkelheit suchte, aber schnell fand. Sie blieb ruhig und entspannt, und dann lächelte sie zurück.

»Du musst gehen«, sagte er leise. »Bald wachen die ersten auf.«

»Erst, wenn du mich noch einmal küsst ...«, wisperte sie.

Er kam der Aufforderung gern nach, legte den Mund auf ihre weichen, nachgiebigen Lippen und zog sie enger in seinen Arm, je intensiver der Kuss wurde. Sie schob ihren Schenkel über seine Hüfte und streichelte seinen Rücken.

Nur mit Mühe konnte er sich von ihr lösen. »Das werde ich jetzt nicht fortsetzen«, murmelte er.

»Bist du sicher?«, gurrte sie. »Ich spüre da aber etwas ganz anderes an mir ...«

»Nein.« Er stemmte sich halb hoch. »Wie geht es jetzt weiter?«

Sie hob die Hand zu seinem Gesicht. »Einfach unglaublich ...«, hauchte sie. »Bleib so, bitte. Von diesem Anblick kann ich nicht genug bekommen ...«

Rowarn ergriff ihre Hand, hielt sie an seine Lippen und küsste die Fingerspitzen. »Ich meine es ernst, Morwen.«

Sie seufzte. »Also gut. Wir machen weiter wie bisher, und wenn mich das Verlangen überwältigt, krieche ich nachts unter deine Decke, und wenn nicht, nicht. Kannst du damit leben?«

Er nickte. »Natürlich, aber ... es darf nicht zu oft geschehen. Du weißt, dass es verboten ist, und nicht ohne Grund.«

»Ich weiß. Aber wir sind nicht die Einzigen; wart ab, wenn wir morgen das Hauptlager erreichen, wo ein paar Tausend junge, kraftstrotzende Männer und Frauen auf einen Haufen gedrängt sind. Jeder weiß, was nachts geschieht, aber offiziell erlaubt darf es natürlich nicht sein, schon gar nicht innerhalb der G… – ach, einfach immer. Aber selbst ein gestrenger Mann wie mein Vater weiß, dass sich so etwas auf Dauer nicht vermeiden lässt, und er kümmert sich nicht darum, solange es heimlich geschieht, die Form gewahrt bleibt und jeder unvermindert korrekt seiner Aufgabe nachkommt.«

»Also etwa so wie sein Verhältnis zu dir.«

Sie lachte leise. »Ja. Er hat es nie offiziell gemacht, obwohl es wahrscheinlich so ziemlich jeder weiß, der sich in seiner Nähe aufhält. Das ist ihm egal, aber er will nicht darüber reden. Das ist so seine Art. Er spricht nie über sich. Ich weiß über ihn nicht mehr als du. Ich glaube, nicht einmal Olrig weiß alles.«

Rowarn zog langsam die Decke nach unten, und die morgendliche Frische ließ Morwens Körper erschauern, die feinen Haare auf ihrer Haut stellten sich auf, und er strich vergnügt darüber. »Dann habe ich wenigstens eine geringe Aussicht, noch ein wenig länger zu leben?« Er neigte den Kopf und küsste ihre Brust, dann ihren Bauch. »Aber nur, wenn du jetzt wirklich gehst ...«

»Nur, wenn du damit aufhörst, du Nimmersatt ...«

Fast war er geneigt, der Unvernunft und seinem wachsenden Verlangen nachzugeben. Doch diesmal war Morwen die Stärkere, vor allem, weil sie fror. Sie schlüpfte hastig in ihre Sachen und war schon unterwegs. Die Stiefel zog sie im Laufen an, und Rowarn musste sich ein Lachen verbeißen bei dem verrenkten Tanz, den sie dabei aufführte. Dann drehte er sich um, wickelte sich fest in die Decke und war kurz darauf wieder eingeschlafen.



»Sieh es dir an«, sagte Olrig am Morgen, als Rowarn völlig verschlafen als einer der Letzten auftauchte; was nicht weiter schlimm war, denn der Fürst und der Kriegskönig krochen auch soeben erst aus dem Zelt.

Und nun standen die beiden nebeneinander im frühen Morgendunst, der in der aufstrebenden Sonne rasch verging, während überall gelbe, rote und violette Teppiche aufblühten. Es war kein Unterschied zu Inniu zu erkennen – auf kurze Entfernung.

»Wie du siehst, befinden wir uns immer noch auf einer Hochebene, nicht im Talgrund«, fuhr der Kriegskönig fort und führte Rowarn zum Rand. »Und nun öffne deinen Blick und sieh dich um.«

Und Rowarn sah weiter als jemals zuvor, über Hügel, Wälder, Auen, ein weit verzweigtes Straßennetz und rauchende Türme und Mauern in weiter Entfernung, und verstreut Höfe, Marktflecken, Felder und Weiden.

»Wir befinden uns hier im äußersten Westen des Landes Valia«, erklärte Olrig. »In diesem Teil findest du die Zwerge vom Stamm der Ennish, dem größten unseres Volkes, und natürlich Menschen, wie überall. Hauptstadt des ganzen Zwergenvolkes ist Ennishgar, dort Richtung Osten, die vielen Rauchsäulen am Horizont. Wir haben auch einen König, der jedoch nicht in Ennishgar residiert, sondern im Nordwesten.« Er zeigte nach links. »Dort, im zerklüfteten, rauen Gebirgsland, das sich durch den ganzen Norden zieht und viele Namen hat, leben weit verstreut die Gandur, nicht minder rau und zäh wie das Land. Aus diesem Stamm kommt unser gewählter Hochkönig Jokim, ein mächtiger und vermögender Mann dank seiner wunderbaren und allerorts geschätzten Ushkany-Brennerei, die nach ihm benannt ist. So macht man sich unsterblich.« Olrig grinste. Dann fuhr er fort: »In den östlichen Ausläufern des Gebirges gibt es viele verborgene Täler, die von den Dämonen beherrscht werden, wohin weder Mensch noch Zwerg ihren Fuß je setzen.«

»Die Dämonen haben ihr eigenes Reich?«

»Aber ja. Sehr abgeschieden. Gut für uns.« Sein Arm schweifte weiter nach rechts. »Ganz im Westen rollt das Meer gegen feine Strände, bis weit in den Süden hinab, am benachbarten Land Nerovia vorbei bis zur Großen Wüste. Aus der Westsee, so heißt es, kam einst die Sippe der Nauraka, die das Meer verließ und Ardig Hall errichtete, und deren letzte Nachfahrin Königin Ylwa war. 

Nach Süden hinunter finden sich viele menschliche Provinzen, darunter auch das Fürstentum Lingvern, das sich Noïrun törichterweise hat abjagen lassen, nicht weit von der Landesgrenze Valias zu Nerovia entfernt. Dazwischen, überall im Land verteilt, gibt es verwunschene Gegenden, wo sich Angehörige der Alten Völker aufhalten, fabelhafte Wesen und noch andere Geschöpfe, von denen wir nur wenig ahnen.«

»Wo liegt Ardig Hall?«, wollte Rowarn wissen.

Olrig deutete Richtung Osten, ein wenig nach Süden gerichtet. »Ungefähr sechzehn Tage mit einem schnellen Pferd von hier entfernt.«

»Das ist doch nicht das Zentrum von Valia«, meinte Rowarn und spielte damit auf eine Bemerkung Noïruns in Madin an, der genau dies behauptet hatte.

»Räumlich gesehen vielleicht nicht, das stimmt, es liegt eher nahe der westlichen Grenze«, versetzte Olrig. »Aber politisch auf alle Fälle.« 

Er wies weiter Richtung Osten. »Tief im Osten, wo die Schatten länger werden, liegt ein riesiges Gebirge, das über die Grenze zum Land Luvgar in das gewaltige Fyrgar-Gebirge übergeht, mit dem Himmelsreiter als höchstem Berg. Dahinter rollt die Umschließende See donnernd an die Klippen. 

Im Osten von Valia, vor dem Gebirge, gibt es einen See, und darin eine Insel, auf der eine Burg steht – Dubhan, die Lichtlose, wie man sie nennt. Sie soll ein schwarzes Leuchten verströmen, heißt es. Ich weiß es nicht, denn ich war nie dort. Dort jedenfalls lebt Femris und sammelt die Splitter des Tabernakels.«

Rowarn hörte aufmerksam zu und spürte sein Herz schneller klopfen. »Ein großes Land ...«

»O ja. Um Valia von einem Ende zum anderen zu durchqueren, brauchst du viele Mondwechsel mit einem schnellen Pferd. Die Berge nicht eingerechnet.« Olrig faltete die Hände zusammen. »Als Erstes reiten wir jetzt Richtung Ennishgar. Das Hauptlager werden wir noch heute erreichen, es liegt in einem weiten und sehr geschichtsträchtigen Tal. Vor langer Zeit fand dort einmal eine große Schlacht statt, in der Altvorderenzeit, doch die Spuren sieht man noch heute. Viele berühmte Helden verloren damals ihr Leben, und so werden sie heute besungen.«

»Worum ging es?«

»Um die Herrschaft über Waldsee, nicht mehr, nicht weniger. Viele Götter begleiteten damals ihre Völker, darunter auch uns, die Zwerge, und machten den Alten Völkern und den Drachen das Land streitig.« Der Kriegskönig senkte den Kopf. »Es war eine furchtbare Zeit, Rowarn, und keiner von uns kann behaupten, dass dieser Krieg ruhmreich war, auch wenn er heutzutage verklärt wird. Aber ich sage dir, alle Kriege um das Tabernakel zusammengenommen waren nicht so schrecklich wie jene Schlacht damals.«

»Lebt heute noch jemand, der damals dabei war?«

»Da bin ich sicher, denn nicht alle Unsterblichen haben die Lande verlassen. Sicher auch nicht alle von den Alten Völkern. Aber sie sprechen nicht darüber, und das ist besser so. Wir sollten froh sein, dass auf dieses Gemetzel ein langer Frieden folgte. Und wir sollten gut daran tun, ein zweites zu verhindern, indem wir Femris aufhalten und das Tabernakel an seinen ursprünglichen Platz zurückbringen.«

Rowarn blickte Olrig an. »Ihr würdet es nicht zusammensetzen? Benutzen?«

»Benutzen könnte es nur der Zwiegespaltene, wie du weißt, Rowarn. Und: nein, ich würde es nicht zusammensetzen. Ich weiß nicht, was Erenatar damit beabsichtigt hat, aber der Erste Gedanke ist so alt wie das Universum, und deshalb ist dieses Artefakt viel zu groß für uns, selbst wenn wir es im Guten einsetzen könnten. Es übersteigt unsere Kräfte und wird Waldsee zerreißen. Das ist meine Meinung.« Der Kriegskönig wandte sich ab. »Die Noïrun übrigens nicht mit mir teilt; einer der wenigen Punkte, in denen wir uns uneins sind. Wie auch immer: Wir brechen auf. Spute dich, Junge, und hilf deinem Fürsten in den Sattel. Er hat heute Morgen einen etwas schweren Kopf.«

Rowarn atmete unwillkürlich auf, als er das hörte. Wie es aussah, war die heimliche Liebesnacht mit Morwen allen verborgen geblieben, und er brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen.