Kapitel 44

Die Reise beginnt


Noïrun genoss den Ritt, als wäre es sein erster. Der junge Kupferhengst Rundyr lief wie über Wolken und reagierte auf die kleinste Gewichtsverlagerung. Lachend gab der Fürst die Zügel frei und galoppierte über die Hügel, spürte den Wind im Gesicht, atmete tief ein. Er war glücklich, am Leben zu sein. Die vergangenen Jahre der Bitterkeit fielen von ihm ab, endlich war er mit sich im Reinen und bereit zu vergeben. Der Neuanfang stand bevor, und obschon er bis dahin noch ein tiefes Tal durchschreiten musste, obwohl noch ein hoher Blutzoll gefordert würde, er fühlte sich leichter und befreit. Er vertraute darauf, dass sich alles so finden würde, wie es sein musste; viel konnte er nicht mehr tun, als den Boden zu bereiten, alles andere war den Mächten überlassen. Und diese würden nicht versagen, zum ersten Mal seit Ylwas Tod war Noïrun darin sicher und voller Zuversicht. Angmor und Rowarn, und auch Arlyn – ja, die Entscheidung war nahe. Der Fürst würde seinen Beitrag leisten, getreu seines Eides, doch die Last der Verantwortung wog nicht mehr so schwer, und er würde sich nun voll und ganz auf die Schlacht konzentrieren und sein Bestes geben. Er hatte ein zweites Leben geschenkt bekommen, das würde er nicht verschwenden.

Also trieb er umso mehr zur Eile, er konnte es nach dem langen Winter kaum mehr erwarten, endlich wieder aktiv zu werden. Noch vor dem Ende des dritten Tages erreichten sie daher Eisenwacht, und den Aufschrei der Soldaten konnte man vermutlich bis nach Inniu hören. Sie übertrafen sich gegenseitig in ihren Jubelrufen, das ganze Heer schien ihm entgegenzukommen, alle wollten den Heermeister persönlich sehen, ihn berühren, sich versichern, dass er es wirklich war. Zwei Tage lang war das Heerlager im Ausnahmezustand. Alle feierten, jubelten, tanzten und sangen, es war unmöglich, zur Disziplin aufzurufen und an die Arbeit zu gehen. 

Baron Solvan amüsierte sich über Noïruns vergebliche Bemühungen, die Leute zur Ruhe zu bringen. »Gönne es ihnen, alter Freund«, lachte er. »So lange waren alle im Ungewissen, schwankend zwischen Hoffnung und Verzagen. Ich kann es ja selbst kaum glauben! Lass dich feiern, Noïrun, Rückkehrer von den Toten. Nun bist du nicht nur eine Legende, sondern auch unsterblich. Unser Volk wird glauben, dass du niemals sterben kannst, und die anderen sind wahrscheinlich auch nicht weit davon entfernt.«

»Ich selbst bin mir manchmal nicht sicher, was geschehen ist«, versetzte der Fürst und warf einen kurzen Blick zu dem Visionenritter. »Viele Tage hindurch wandelte ich durch ein graues Land, in dem es keine Schatten gab und keine Farben, keine Bäume und Büsche und Wege. Ich suchte nach einem Haus, doch ich fand keines. Aber was mich fand, war ein brüllendes Monster aus Feuer und Stacheln, das mich immer wieder angriff und fraß und dann wieder ausspuckte. Und weiter irrte ich danach durch das graue Land, bis das Untier mich wieder fand.« Sein Blick schweifte in weite Ferne, und er strich sich gedankenvoll über den kurz geschnittenen blonden Vollbart. »Dann kam das Licht in mich, und plötzlich fühlte ich wieder und atmete, und alles war schwer, aber voller Farben und Gerüche. Ich wusste, dass ich wieder ich selbst war. Und doch, manchmal ... habe ich das Gefühl, als würde ich die Dinge anders wahrnehmen.« Noïrun konnte seine Rettung heute noch kaum begreifen. Er erinnerte sich sehr wohl an das Gespräch mit Angmor, weil es in einem seiner seltenen klaren Momente stattgefunden hatte, aber was danach geschehen war, entzog sich seinem bewussten Denken. Zum ersten Mal seit seiner Heilung sprach er darüber, zum ersten Mal konnte er es überhaupt in Worte fassen.

»Eine Todeserfahrung kann nicht spurlos an einem vorübergehen«, sagte Solvan, der keine weitere Erklärung forderte. »Es verändert den Blick auf die Welt, und ich denke, vieles siehst du jetzt sehr viel klarer. Du wirkst jedenfalls sehr lebendig, und stärker denn je. Das wird uns viele weitere Kampfwillige bringen, hunderte, wenn nicht tausende. Sie strömen jetzt schon herbei, und meine Boten sind bereits unterwegs, um die Kunde überall zu verbreiten.« Er lehnte sich zurück und ließ sich Wein nachschenken. »Wann greifst du an?«

Noïrun antwortete: »Wir werden in den nächsten drei Tagen sämtliche Vorbereitungen treffen. Am Morgen des vierten Tages brechen wir auf. Du wirst uns nachschicken, was nach dem Abzug noch eintrifft. Ich lasse dafür Fabor als Befehlshaber hier. Wie viele Soldaten brauchst du, um dein Land zu sichern?«

»Zweitausend genügen«, sagte der Baron. »Die Hälfte habe ich selbst, die andere Hälfte ist von den Kúpir hierher unterwegs, du brauchst also keinen deiner Soldaten zu entbehren. Wir werden auch euren Nachschub sicherstellen, eine entsprechende Postenkette bauen wir gerade auf. Auf eine lange Belagerung solltet ihr euch aber nicht einstellen, es sind fast zwanzigtausend Mann, die du mit dir führst …«

»Es sollte nicht länger als ein halbes Jahr dauern. Wenn wir Dubhan erreicht haben, werden wir in ausreichendem Abstand zur Burg das Lager errichten und einen Wall ziehen, um Sherkuns Ankunft abzuwarten.« Der Fürst hob den Pokal. »Lasst uns ein letztes Mal darauf anstoßen, dass Rowarn sein Ziel erreichen wird, und dann ziehen wir in den Krieg.«



Rowarn war aufgeregt und nervös, als er mit Arlyn von Farnheim aufbrach. Es war noch sehr früh am Morgen, die Sterne glänzten hell über ihnen. Lediglich eine heller Schimmer am Horizont kündigte den neuen Tag an. Arlyn wollte sich diesmal nicht offiziell verabschieden, sondern einfach verschwinden. Vielleicht fiel es dann nicht so schnell auf, dass die Herrin von Farnheim nicht mehr anwesend war. Zusätzlich würde sich die Kunde von Noïruns Rückkehr bald verbreiten und für weitere Ablenkung sorgen, sodass der Feind nicht so schnell herausfinden konnte, wohin der Erbe von Ardig Hall unterwegs war.

»Wir dürfen Femris nicht vorzeitig auf unsere Spur bringen«, bemerkte Arlyn zu Rowarn. »Du sollst deine Reise in Ruhe beginnen.«

Doch von Ruhe konnte keine Rede sein. Rowarn brach zu seiner wichtigsten Fahrt auf, von der alles abhing, und nur seine Königin war an seiner Seite. Kein Fürst, der ihm riet, was er zu tun hatte, kein Kriegskönig der Zwerge, der stets der ruhende Pol inmitten des Chaos war. Kein Visionenritter und kein Schattenluchs, die viele Wege kannten. Es war eine große Veränderung.

Arlyn entging seine Anspannung nicht, und sie schmunzelte darüber. »Ich kenne den Weg zum Freien Haus«, erklärte sie sanft.

»Ich dachte, du hast Farnheim nie verlassen«, erwiderte er mit gequältem Lächeln.

»Ja, es ist einige Jahrzehnte her, dass ich dort war«, gab sie mit gedankenvollem Blick zu. »Aber es ist nicht weit, Rowarn – und ich habe die Karte noch gut im Gedächtnis. Ein guter Orientierungssinn liegt meinem Volk im Blut, sonst wären wir sicher nicht so ausgezeichnete Seefahrer gewesen.«

Die beiden Pferde schritten ruhig nebeneinander die alte Handelsstraße entlang. Es ging in nordöstlicher Richtung, quer durch die letzten Ausläufer Ferlungars, bis nah an die Grenze des versunkenen Nordreichs. Das Freie Haus, das Arlyn aufsuchen wollte, lag an einer bedeutenden Handelswegkreuzung, wo sich auch ein großer Warenumschlagplatz befand. Von dort aus führten die Straßen weiter zu den Zwergenreichen der Kúpir und Gandur, nach Warinland, zum Dämonenreich und zu einigen anderen kleinen Reichen, die teils von Menschen, teils von den Alten beherrscht wurden. Die südliche Hauptstraße führte direkt nach Eisenwacht und von dort weiter nach Dubhan; auf ihr sollte es ein schnelles Vorankommen möglich sein, sobald Rowarn seinen Auftrag erfüllt hatte.

Diesen Plan hatte Arlyn Rowarn eröffnet, doch so weit wollte er noch gar nicht denken. »Eins nach dem anderen«, verkündete er besorgt. Die Ungewissheit jagte ständig seine Gedanken im Kreis. Es war eine Sache, einer greifbaren Gefahr zu begegnen oder einen Ausweg wie aus der Splitterkrone zu suchen. Aber die Suche nach den Bruchstücken des Tabernakels war etwas gänzlich Neues und Unbekanntes. Es schien eine Aufgabe für einen Mächtigen zu sein, der darin bewandert war, auf magischen Ebenen zu reisen.

»Hab einfach Vertrauen«, sagte Arlyn beruhigend und legte die Hand auf seinen Arm. Die andere hielt locker die Zügel des Braunen, dessen Ohren fröhlich spielten. »Ich jedenfalls vertraue dir und darauf, dass du den richtigen Weg finden wirst. Du kannst nicht alles genau planen, manchmal musst du dich auch von deinem Gefühl leiten lassen.«

»Es gibt so viel zu berücksichtigen«, murmelte Rowarn. »Und die anderen ...«

»... sind erwachsene Männer, die wissen, was sie tun. Hör auf, dich um sie zu sorgen! Du musst an dich denken.«

Das sagte sie so leicht. Rowarn wusste, dass er sich immer zu viele Gedanken um alles machte. Aber das war eben seine Art, gerade weil es noch so viele Unwägbarkeiten gab.

Sie erreichten den Waldrand, und Arlyn trieb den Braunen an. Die Straße war gut ausgebaut, der Boden nahezu trocken und die Sicht bestens. Windstürmer stieß einen freudigen Laut aus, als Rowarn ihm die Zügel freigab, und die beiden Pferde fielen schnaubend und prustend in einen ruhigen Wandergalopp, die Hügel hinauf und hinunter und durch eine weite Grasebene.

Farnheim lag weit hinter ihnen, als sie schließlich im Schutz eines Wäldchens Rast machten. Zu dieser frühen Jahreszeit waren nicht viele Händler unterwegs; den ganzen Tag waren sie nicht einem einzigen Reisenden begegnet. Aber das würde sich bald ändern, wie Arlyn versprach, sobald sie die Nord-Süd-Verbindung erreichten.

Rowarn riskierte ein Feuer; sollten ihnen Häscher auf den Fersen sein, würde es nicht viel ändern, wenn sie in der Dunkelheit froren. Femris hatte ihn schon zweimal gefunden, er konnte die Dubhani jederzeit auf seine Spur führen. Aber es war unwahrscheinlich, dass sie bereits jetzt in Gefahr waren. Femris wollte ja, dass Rowarn die Splitter fand und zu ihm brachte. Solange war auch Arlyn in Sicherheit.

Sie aßen von den Vorräten, tranken heißen Tee und kuschelten sich dann dicht am Feuer aneinander. Rowarn war glücklich über Arlyns Nähe. Er würde es nicht zulassen, dass irgendetwas sie voneinander trennte. Niemals.

Am Nachmittag des nächsten Tages kamen sie auf die große Hauptstraße, und wie Arlyn es prophezeit hatte, herrschte hier lebhafter Betrieb. Händler, Abenteurer, Handwerker, Barden und viele mehr waren unterwegs, die meisten in Richtung Süden. Arlyn und Rowarn schlugen die Kapuzen hoch und schlossen fest ihre Umhänge. So wurden sie zwar als Edelleute erkannt, aber niemand würde sie genauer anschauen, denn das ziemte sich nicht. Und tatsächlich wichen ihnen die meisten Reisenden ohne weitere Umstände aus; nur manchmal mussten sie selbst von der Straße herunter, wenn der Strom ins Stocken geriet, weil unerwartete Begegnungen stattfanden, die lautstarke Begrüßung und ein Schwätzchen erforderten. Auch schnelle Boten kamen hier entlang, die pausenlos Flüche ausstießen, weil sie auf ihrem Weg aufgehalten wurden. Sie wurden für Eile bezahlt.

Schließlich erspähte Rowarn die große Kreuzung; das Freie Haus war unverkennbar, ein verschachtelter Bau mit vielen Fenstern und Türen, jenem Haus im Westen, jenseits des Goldenen Flusses, sehr ähnlich. Nicht weit davon hatte sich an einem Fluss ein Marktflecken gebildet, mit riesigen Lagerhäusern, Tiergehegen und Handelsstationen.

»Hoffentlich finden wir überhaupt einen Platz«, stellte Rowarn staunend fest. Nicht einmal in Ennishgar hatte derart viel Trubel geherrscht, soweit er sich erinnern konnte.

Arlyn lachte. »Keine Sorge.« Sie übernahm die Führung und hob grüßend die behandschuhte Hand, als ein Knecht ihr entgegeneilte. »Zum Gruß«, sagte sie. »Wir erbitten eine Unterkunft auf unbestimmte Zeit, für uns und die Pferde.«

»Selbstverständlich, edle Dame«, sagte der Knecht und verbeugte sich mehrmals. Er nahm die Zügel der beiden Pferde, ohne den Blick zu heben, winkte einem Hausdiener, damit er sich um das Gepäck kümmerte, und ging Richtung Stall.

Rowarn sah sich um; er entdeckte den einen oder anderen reisenden Krieger, aber keine Soldaten Dubhans. Niemand nahm Notiz von ihnen, jeder war viel zu sehr mit sich beschäftigt. Als er die Haupttür öffnete, schlugen ihm erhitzte Luft und Stimmengewirr entgegen. Die verschiedensten Gerüche stiegen in seine Nase – frischer Braten, Rauchkräuter, getrocknete Duftblumen und natürlich die Ausdünstungen der vielen Gäste.

Arlyn steuerte geradeaus den Empfangstresen an, hinter dem ein langnasiges, verhutzeltes Wesen mit wirrer weißer Mähne stand und eifrig mit spitzer Feder in ein großes Buch kritzelte. Es sah auf, als die Königin sich näherte, und sie sagte ihren Namen. »Arlyn Antasa.«

Die Feder flog dem Hutzelmännlein aus der Hand, es sprang von dem Podest und wieselte eilig in den dunklen hinteren Bereich. Sie mussten nicht lange warten, bis ein menschlich aussehender Mann erschien, so groß wie Rowarn, von massiger Statur. Er trug die langen grauen Haare im Nacken zusammengebunden, eine große Lederschürze mit Latz; Hosen und Stiefel waren ebenfalls aus Leder und das dunkle Hemd aus schwerer Wolle. Seine Nase war breit, mit großen Nüstern, die Lippen voll und fleischig, und die großen alten Augen waren von tiefem Moosgrün, mit länglicher Pupille. Seine großen, nach oben geschwungenen Ohren waren über und über mit Schmuck behängt.

Arlyn schlug die Kapuze zurück und bedeutete Rowarn, es ihr gleichzutun.

»Ihr seid es!«, rief der Wirt und verbeugte sich tief, zuerst vor Arlyn, dann vor Rowarn. »Verehrte Königin, edler König, ich habe Euch bereits erwartet, denn eine Botschaft traf ein, die Eure Ankunft ankündigte.«

»Von wem?«, fragte Rowarn erstaunt.

Der Wirt lächelte. »Nun, wenn Ihr es nicht wisst, wie sollte ein unbedeutender Mann wie ich davon Kenntnis haben?«

»Er weiß immer, was in Valia vor sich geht, doch er gibt seine Informanten nie preis«, erklärte Arlyn Rowarn. »Ulram der Leutselige wird der Wirt des Freien Hauses genannt, und das mit gutem Grund, denn als Einziger von allen Besitzern dieser Häuser zeigt er sich den Gästen, zumindest einigen auserwählten.«

»Lasst mich Euch ansehen«, fuhr der Wirt fort und musterte die Königin anerkennend. »Als ich Euch das letzte Mal sah, wart Ihr ein mageres kleines Mädchen, still und verschlossen, mit den traurigsten Augen der Welt. Nun seht, was aus Euch geworden ist! Die Barden werden Euch nicht annähernd gerecht. Ist das Euch zu verdanken?« Er wandte sich Rowarn zu. »Es ist mir eine Ehre, Euch in meinem Haus begrüßen zu dürfen, edler König von Ardig Hall. Euer Ruf eilt Euch schon weit voraus.«

»Alles Übertreibungen«, wehrte Rowarn murmelnd ab, an solche Aufmerksamkeit konnte er sich noch nicht gewöhnen. »Im Augenblick bin ich nur ein König ohne Thron.«

»Ihr wisst, weswegen wir hier sind?«, fragte Arlyn.

»Gewiss, und ich habe schon alles vorbereitet. Folgt mir bitte.« Ulram der Leutselige ging voraus, und das Paar folgte ihm durch eine verwirrende Vielzahl von Gängen, über Stufen, Brücken und Stiegen, bis er schließlich, abseits von allem Trubel, vor einer Nische an einer Wand verhielt, direkt an einem Fenster gelegen. Der Ausblick von hier oben zeigte die Straße in Richtung Süden, man sah weit übers Land.

In dieser Nische befanden sich ein Tisch und zwei mit Kissen ausgelegte Sitzbänke, in der Wand war eine Tür eingelassen, auf die der Wirt deutete. »Hier nebenan befindet sich eine Gästekammer für Euch. Der Diener hat Euer Gepäck bereits hineingebracht. Dort gibt es auch einen Baderaum. Ihr seid völlig ungestört in diesem Bereich des Gasthauses. Niemand außer zwei sorgfältig ausgewählten Dienern wird hierherkommen, dafür sorge ich.« Einladend wies er zum Tisch. »Bitte, nehmt Platz, ich lasse Euch sofort eine Auswahl an Speisen und Getränken bringen. Nennt Eure Wünsche, und sie werden erfüllt. Ich darf mich zurückziehen, wenn Ihr erlaubt.«

Rowarn nickte, während er den Umhang ablegte und die Handschuhe auszog. Langsam setzte er sich an den Tisch und ließ sich schweigend bedienen. Die erlesensten Genüsse wurden dargeboten, doch sie konnten seine Sinne kaum reizen, auch sein Magen war viel zu verkrampft, um sich darüber zu freuen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wie würde es jetzt weitergehen?

»Wir essen«, sagte Arlyn, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Und dann werden wir ruhen, es wird bald dunkel. Die Reise beginnt erst morgen. Du kannst dich in Ruhe darauf vorbereiten, heute Nacht. Gehe in dich und konzentriere dich auf deine Aufgabe.«

»Sicher«, sagte Rowarn, blass vor Angst. Er hatte das Gefühl, als wären tausende von Augen auf ihn gerichtet. Das ganze Land wartete darauf, was er tun würde. Und er wusste es nicht. In Märchen wie der Blauen Rose schien immer alles ganz einfach zu sein, die Helden zogen los und erfüllten ihre Pflicht.

Eine Weile lauschte Rowarn den gedämpften Geräuschen, die von unten herauf schallten. Es schien so, als würden alle Gäste bestens unterhalten und hätten keine Sorgen. Die Stimmen klangen heiter und ausgeglichen, begleitet von leisen Musiktönen. Wie gern würde er dazugehören, unbeschwert und unwissend.

Und er konnte nicht einmal darauf hoffen, dass es jemals so sein würde. Seine unbedarfte Jugend lag für immer hinter ihm, und vor ihm lag ein Weg der Verantwortung, mit Entscheidungen, die weitreichende Auswirkungen haben würden. Wie einfach war sein Leben als Knappe noch gewesen! Als er noch nicht einmal gewusst hatte, dass er zur Hälfte Dämon war. Eine unberechenbare Hälfte, die er möglicherweise nicht kontrollieren konnte. Konnte es Femris? Wie oft würde der Unsterbliche Rowarn noch heimsuchen? Hatte er die Kraft, dem Mächtigen zu widerstehen?

Als Rowarn endlich etwas essen konnte, war es bereits dunkel. Wie der Wirt versprochen hatte, verirrte sich niemand in diesen abgeschiedenen Winkel, und das junge Paar war ganz für sich. In der Sicherheit des Freien Hauses, abseits aller Augen und Ohren; denn selbst in Farnheim waren die Wände dünn und vor allem die Herrin unter stetiger Beobachtung.

Sie unterhielten sich über viele Dinge, lernten sich auf diese Weise ein wenig mehr kennen, denn sie wussten noch so wenig voneinander. Doch Rowarn stellte fest, je besser er Arlyn kennenlernte, desto tiefer liebte er sie. Er hatte das Richtige getan, und es war gut, dass er nicht gewartet hatte. Wer wusste schon, was auf sie zukam, wie viel Zeit ihnen blieb.

Als sie schließlich zu Bett gingen, liebte Rowarn seine Königin mit einer Zärtlichkeit und Innigkeit, die seiner Angst entsprang, es wäre das letzte Mal. 

Er wartete, bis sie in seinen Armen eingeschlafen war und versenkte sich dann in die Tiefe Ruhe. Es war an der Zeit, sich vorzubereiten, und er folgte Arlyns Rat, sich nicht den Kopf zu zermartern, sondern die Gedanken einfach fließen zu lassen und die Strömungen um sich herum in sich aufzunehmen. Tatsächlich fand Rowarn schließlich Gelassenheit, und die Angst fiel endlich von ihm ab. Er musste es geschehen lassen. Der Weg würde sich finden. Nicht umsonst hatte Fürst Noïrun ihn damals, als er kaum zum Ritter geschlagen war, in ein Freies Haus mitgenommen, um ihm zu zeigen, welche Macht diesen magischen Orten innewohnte.

Darüber schlief Rowarn schließlich tief und traumlos ein und erwachte noch vor dem Morgengrauen ruhig und erholt. Er spürte, dass es die Kalte Stunde war, und lauschte eine Weile in die Stille um sich. Nicht einmal eine Holzbohle knarzte, was bei einem Haus wie diesem eigentlich unmöglich war – nur nicht in dieser Stunde. Da war wohl selbst hier drin die Welt erstarrt.

Arlyn schlummerte tief, ihr Atem ging regelmäßig und ruhig. Rowarn spürte ein letztes Mal ihre samtweiche Haut und Wärme an sich, bereits jetzt voller Sehnsucht. Flüchtig streifte er mit seinen Lippen ihre Stirn; sie erwachte auch jetzt nicht. Auf ihrem Mund lag ein stilles Lächeln, sie sah gelöst und glücklich aus.

Behutsam löste Rowarn sich von Arlyn, zog die Decke über ihr zurecht, die noch seine Wärme und seinen Geruch trug, und stand auf. In aller Eile wusch er sich, legte die einfache Reisekleidung an, die er für diese Fahrt mitgenommen hatte, nahm dazu einen grob gewebten Umhang, Waffen und seinen Reisebeutel und verließ die kleine Kammer. Leise schloss er die Tür, horchte noch einmal auf die unveränderte Stille im Zimmer, dann gürtete er sich und warf sich den Umhang über. Den Helm, das Schwert Luvian und den königlichen Umhang ließ Rowarn bei Arlyn; er ging schließlich als Bittsteller, nicht als Herrscher.

In der Gaststube herrschte Dämmerlicht aus trüben Öllampen. Irgendwo weiter unten klapperte Geschirr, und vereinzelte Stimmen murmelten. Die Bediensteten räumten wohl auf, und vielleicht waren auch noch ein paar späte Gäste da. Bald würde der normale Betrieb wieder losgehen, sobald die Frühe Stunde anbrach.

Es war Zeit, zu gehen. Rowarn wusste Arlyn in Sicherheit – und für ihn selbst war es ein Trost, dass sie hier auf ihn warten würde. Das Band zwischen ihnen würde ihm ein Halt sein, wenn er dort draußen durch unbekanntes Land wanderte, und ihn davor bewahren, den Weg zu verlieren; es würde ihm helfen, wieder zurückzufinden. Arlyns Licht würde ihn immer begleiten, ihm wie die Sonne am Himmel den Weg weisen.

Rowarn atmete tief durch und schulterte seinen Beutel. Dann schritt er auf die Tür am Ende des Gangs zu, öffnete sie und ging hindurch.



Der Morgen erwartete ihn dort draußen bereits, wolkenverhangen und grau. Eine vom Winter ausgetrocknete Steppe breitete sich vor ihm aus, ein raues Land, mit windzerzausten, kahlen Bäumen, Heidekraut, Dornbüschen und vielen ausgetrockneten Bachläufen, die tiefe, rissige Furchen ins müde Antlitz des Landes gegraben hatten. Der Horizont wurde von einem gewaltigen Gebirgszug beherrscht. Manche der schroffen und spitzen Gipfel schimmerten weiß, andere waren schattendunkel. Rowarn wurde klar, wo er sich befand. Er hatte von diesen Ländern im Norden gehört, in Erzählungen der Muhmen und von dem einen oder anderen Händler, und in so manchem Teppich Schneemonds waren die Tiere zu finden, die er nun vor Augen hatte.

Als er sich umdrehte, war das Freie Haus nicht mehr zu sehen. Er war nicht überrascht, etwas Ähnliches hatte er sich schon gedacht. Schließlich sollte es vorwärtsgehen, ohne einen Blick zurück. Rowarn zog den Umhang vorn zu, als ihm ein kalter Wind von der Steppe entgegenblies. Eine freundliche Einladung war das nicht. Langsam setzte der junge Mann Fuß vor Fuß, er folgte einem schmalen Tierpfad, immer Richtung Norden. Im Osten war der Himmel noch dunkler und drückte schwer hernieder, gelegentlich zeigte sich ein rötlicher Schein am unteren Wolkenrand. Ganz im Westen, weit entfernt, lag Inniu, versteckt hinter einem anderen Gebirgswall. Dort war der Himmel freundlicher und offener und schien dem Boden nicht so nah.

Aber dorthin führte kein Weg, nicht jetzt. Weideling und die vertrauten Spielplätze der Kindheit waren unerreichbar fern. Weiter ging es, hinein in das unwirtliche Land. Selbst auf weite Entfernung waren keine Rauchsäulen von Behausungen erkennbar, es gab keine Karrenwege oder Händlerstraßen. Zum ersten Mal in seinem Leben war Rowarn ganz allein und in gänzlich unbekanntem Land unterwegs.

Ich muss verrückt gewesen sein, dachte er. Ohne Anhaltspunkt, einfach drauflos durch eine Tür. Ich weiß nicht einmal, in welchem Jahrhundert ich mich befinde, denn alles ist möglich

Immer Zweifel, immer Unsicherheit. Würde sich das je ändern?

Lass es geschehen, hatte Arlyn gesagt. Aber für Rowarn war das nicht so einfach, er fühlte sich nun einmal verantwortlich, und er hasste Ungewissheit. Er konnte die Dinge nicht einfach so auf sich zukommen lassen, auch wenn er momentan keine andere Wahl zu haben schien. Geduld war nicht gerade seine Stärke.

Dann denke doch endlich einmal daran, meldete sich eine leise Stimme in ihm – und plötzlich hatte er das Gesicht seiner Mutter vor Augen – worauf du vertraust. Wessen du dir ganz sicher bist.

Arlyn, dachte Rowarn sofort. Sie war es, von Anfang an. Ich sah sie und wusste, dass ich nur sie lieben würde, mein ganzes Leben lang. Es gab überhaupt keinen Zweifel; so klar wie ich meinen Herzschlag fühlen kann, fühle ich auch ihren.

Wie von einer schweren Last befreit ging er weiter. Ja, es war richtig, sich nicht immer nur den Kopf über die möglicherweise düsteren Aussichten zu zerbrechen, sondern sich auch daran zu erinnern, was es Gutes gab, und das ganz ohne jeden Zweifel.

Wahrscheinlich war Arlyn inzwischen erwacht und zürnte ihm, weil er ohne Abschied gegangen war. Aber sobald sie sich beruhigt hatte, würde sie auf ihn warten und an ihn denken, ihm ihre Zuversicht schicken. Ich vertraue dir, hatte sie gesagt. Und ihre nächtliche Umarmung, die zärtlichen Worte, die sie ihm ins Ohr flüsterte, bewiesen ihm immer aufs Neue, dass auch sie ihn liebte. Wir gehören zusammen, Rowarn, für immer. Du bist der Mann, auf den ich gewartet habe. Der Erste und Einzige, nach dessen Berührung ich mich sehne. Der mir die Angst genommen hat. Die Schatten der Vergangenheit sind für immer besiegt.

Rowarn lächelte verschmitzt und stolz in sich hinein. »Ich könnte dein Urenkel sein«, hatte er in der Hochzeitsnacht zu ihr gesagt. »Manchmal benimmst du dich auch so«, hatte sie schmunzelnd erwidert.

Ja, ich schaffe es, dachte Rowarn getröstet. Wer Arlyn zur Frau hat, kann einfach alles.



Der Tag verging still. Tiere sah Rowarn nur von Ferne, in unmittelbarer Nähe schien es immer nur ihn zu geben. Unentwegt wehte der raue Wind. Die Tierpfade verliefen kreuz und quer, und Rowarn musste sich größtenteils seinen Weg selbst suchen. Zur Orientierung hatte er sich einen schneebedeckten Gipfel ausgesucht, der zwischen zwei dunklen, schroffen Zacken lag, und auf den er schnurstracks zuhielt.

Mittags machte er eine kurze Rast. Der Tag blieb trüb, nur ab und zu wurde die Sonne hinter den dichten Schleiern als matte Scheibe sichtbar. Hunger hatte Rowarn keinen, aber Durst. Er konnte nur hoffen, dass er spätestens in zwei Tagen Wasser oder ein Gehöft fand, sonst würde es schlecht um ihn bestellt sein.

Anschließend ging der junge Mann weiter bis zum Einbruch der Dunkelheit. Die Landschaft hatte sich nicht geändert, Herdentiere wanderten in der Ferne, über ihm kreisten Vögel und pfiffen. Rowarn hatte keinerlei Vorstellung, wie viel Weg er zurückgelegt hatte. Die Berge waren keinen Schritt nähergerückt, und hinter ihm lag die endlose Weite vor einem leeren, verschwommenen Horizont. Das Gelände war eintönig und ohne besondere Merkmale.

Rowarn sammelte dürres Holz, riss Heidekraut aus und grub eine kleine Feuerstelle. Es wurde unangenehm kühl, der Wind ließ nicht nach, und der Himmel über ihm wechselte von Nebelgrau zu stumpfem Schwarz. Das Licht der Flammen war ihm der einzige Trost in der zugigen Unwirtlichkeit, die plötzlich ganz nahe gerückt war. Denn außerhalb des Lichtkreises wartete undurchdringliche Dunkelheit wie eine Wand. Nur ganz im Osten zeigten sich wenige rote Schlieren am Himmel und deuteten darauf hin, dass es noch etwas da draußen gab.

Verlorener konnte man sich wahrscheinlich nicht fühlen. Und Rowarn war auch noch freiwillig hierher gekommen. Seufzend entschloss er sich, den aufkeimenden trüben Gedanken durch Schlaf zu entrinnen, rollte sich fest in seinen Umhang und eine Decke gewickelt nah beim Feuer zusammen und schlief ein.



In der Nacht weckte ihn ein Schnüffeln dicht an seinem Ohr. Rowarn erstarrte, wagte nur, die Lider einen Spalt zu öffnen und vorsichtig die Augen zu bewegen. Das Feuer war heruntergebrannt, aber es war noch Glut vorhanden, die einen matten Schein in die Dunkelheit warf. Der junge Mann sah einen vierbeinigen Schatten zwischen sich und der glimmenden Feuerstelle hin- und hergehen, mit struppiger, aufgestellter Rute. Offensichtlich suchte das Tier nach Essensresten, aber die hatte Rowarn nicht zu bieten. 

Nach einer Weile kam das Tier wieder näher zu ihm; es mochte Rowarn bis knapp ans Knie reichen, das Fell war lang und zerzaust. Die Schnauze war stumpf, das Gebiss allerdings beachtlich, als das Tier mit gefletschten Zähnen zu ihm witterte. Ein Grollen drang aus seiner Kehle. Rowarn tastete unter dem Umhang nach dem Messer, sein Herz schlug wild. Er wollte dem Tier nichts tun, aber ihm lag auch nichts daran, diese scharfen Zähne zu spüren. Durch einen Lichtreflex glühten plötzlich die Augen des Tieres auf, wild und gelblich grün. Es kam immer näher, und Rowarns Finger umschlossen den Messergriff. Das Tier senkte die Schnauze herab und schnupperte an seinen Haaren; Rowarn ließ es angespannt zu. Auch als Speichel auf ihn herabtroff und der übelriechende Atem seine Nase reizte, regte er sich nicht. Die ledrige Nase wühlte durch seine Haare, die mörderischen Zähne waren ganz nah an seinem Gesicht. Rowarn wagte nicht, zu atmen. Da erklang ganz in der Nähe ein schauerliches Heulen, das Rowarn durch Mark und Bein ging, und der Kopf des Raubtiers ruckte herum. Es antwortete mit demselben schrecklichen Laut, der ihm alle Haare aufstellte, und verschwand. Kurz darauf hörte Rowarn das Trappeln vieler Pfoten und das ängstliche Blöken eines anderen Tieres, dessen Schrei abrupt abbrach. Dann vernahm er nur noch heftiges Schnaufen, leises Knurren und reißende Geräusche.

Was soll ich tun?, dachte er. Werden sie zurückkommen, oder sind sie satt? Werden noch andere kommen?

Im Grunde genommen durfte er es gar nicht wagen, zu schlafen. Aber er brauchte die Erholung, er konnte nicht tagsüber wandern und nachts Wache halten. Also musste er sich auf sein Glück verlassen. Um sich ein wenig zu beruhigen, legte Rowarn Holz nach und schaute eine Weile in die wiedererstarkten knisternden Flammen. Nach einer Weile wurden seine Lider schwer, und er nickte ein.

Als Rowarn das nächste Mal erwachte, hatte sich die Nacht nicht verändert, aber auf der anderen Seite der glimmenden Glut hockten zwei kleine Wesen mit krummen, knorrigen Körpern, großen runden Köpfen, langen, spitzen Ohren und in der Dunkelheit fahl leuchtenden großen Augen. Rowarn blinzelte und brauchte eine Weile, bis er erkannte, was sie in ihren dürren langen Fingern hielten: seinen Wanderbeutel! Das ging nun doch zu weit.

»He!«, rief er und sprang auf. »Sofort weg da! Lasst meine Sachen in Ruhe!«

Die beiden hielten inne und starrten zu ihm auf. »Er ist wach«, fistelte der eine, der links saß. Er trug eine Art Blatthut.

»Das ist mir nicht entgangen«, zischelte der andere, dessen Ohren lange abstehende, dünne Haare hatten. Sie redeten in der Hochsprache – mit seltsamem Akzent, aber immerhin.

»Sollen wir schnell weglaufen?« Der Knorrige mit dem Hut raffte den Beutel an sich.

»Lass den Beutel da, ist nicht mehr wichtig«, antwortete der andere. »Behindert nur beim abhauen.«

Rowarn baute sich mit in die Seiten gestemmten Händen vor ihnen auf. Er war mindestens doppelt so groß wie sie. »Ihr rennt überhaupt nirgends hin, sondern legt jetzt brav alles wieder in den Beutel, was ihr rausgenommen habt«, herrschte er sie so streng an, wie er nur konnte. Eine Hand legte er auf den Knauf des Schwertes.

Die beiden blinzelten zu ihm hoch. »Aber ...«

»Sofort!«

Hastig gehorchten sie, und Rowarn konnte nur staunen, was sie alles hervorzogen; sie hatten nahezu den ganzen Beutel ausgeräumt! Eilig stopften sie die kostbaren Vorräte, den Wasserschlauch und einige nützliche Utensilien zurück.

»Der ist nicht nett«, maulte der Kleine mit Hut.

»Was will er denn überhaupt hier«, murmelte der andere.

Rowarn musste sich ein Lachen verkneifen und ging in die Hocke. »Wer seid ihr denn?«

»Agrivill und Fortivill, Brüder, zu Diensten«, antwortete der mit den haarigen Ohren und deutete bei dem Namen Agrivill auf sich. »Wir sind vom Strauchvolk, gleich hier unter den Stillen Hügeln.«

»Und arm, ja, sehr, sehr arm«, beeilte sich Fortivill zu versichern. »Habnixe, das sind wir! Das weiß jeder. Und unter dem Namen kennt man uns auch überall!«

»Ich hab noch nie was von Habnixen gehört«, musste Rowarn gestehen.

»Da, seht Ihr? Nicht mal ein wenig Bekanntheit besitzen wir«, sagte Agrivill sofort, ohne sich zu kümmern, was sein Bruder zuvor behauptet hatte. »Wer sollte sich auch für uns interessieren? Hier gibt es weit und breit nichts. Nur arme Habnixe, viel zu unwichtig, um bemerkt zu werden.«

»Und wo ist dieses ›Weit und Breit‹?«, fragte Rowarn.

Die beiden Habnixe glotzten ihn verständnislos an. »Na, hier«, gab Fortivill Auskunft. »Rundum«, fügte Agrivill mit ausholender Geste hinzu.

Rowarn setzte sich bequemer hin. Er kramte in seinem Beutel, den er nur mit Mühe aus Fortivills langen dürren Fingern zerren konnte, und reichte den Brüdern dann zwei harte, aber süße Honiggetreidetaler, die ihnen beim Durchwühlen entgangen waren. Sie starrten zuerst misstrauisch auf die Gabe, dann griffen sie gierig zu, bissen ab, stutzten – und kauten geräuschvoll schmatzend weiter. Ihre breiten, dünnlippigen Münder verzogen sich zu einem verzückten Grinsen.

»Daschischabergug«, nuschelte Agrivill und spuckte dabei jede Menge Krümel aus. »Mhmmm«, machte Fortivill selig und fing mit langer, dünner Zunge jeden Krümel hastig auf.

»Also gut«, sagte Rowarn lächelnd. »Wo komme ich hin, wenn ich weiter auf die Berge zugehe?«

»Nach Gandur, wasch schonscht?«, antwortete Fortivill verständnislos und Agrivill tippte sich mit der Fingerkuppe gegen die Stirn und verdrehte die Augen.

»Aber ich dachte, die Gandur leben in der Nähe der Berge ...«

»Tun schie doch auch, da hinten bei dem Schneegipfel, tschwischen dem Doppeltschacken.« 

»Gibt es sonst noch Nennenswertes in diesem Land? Ein bedeutendes Reich, aus Legenden oder in der Wirklichkeit?«

»Nee. Gandur genügt dir wohl nicht, was?« Fortivill gab es auf und winkte ab. »So dumm wie groß«, wisperte er seinem Bruder zu und schielte misstrauisch zu Rowarn hoch.

»Hauen wir lieber ab, vielleicht will er uns mästen und dann verspeisen«, flüsterte Agrivill besorgt. »Dann sind wir am Ende Garnixe.«

»Ich kann euch hören«, bemerkte Rowarn freundlich.

Die beiden stießen quietschende Laute aus und rannten in die Dunkelheit davon. Die Reste der süßen Taler nahmen sie aber mit.

Gandur also. Das war dann wohl sein Weg. Also würde er weiter auf die Berge zuhalten.



Als Rowarn das dritte Mal erwachte, war es Morgen. Erleichtert stellte er fest, dass er unversehrt und an einem Stück war, auch seine Habseligkeiten waren noch da. Aber keine Spur mehr von den beiden kleinen Gnomen. Rowarn fachte das Feuer noch einmal an, um sich einen Tee zu kochen. Es war sehr kühl durch den unablässigen Wind, aber nach wie vor trocken. Der Himmel war genauso bedeckt wie gestern, das Licht trüb. Allerdings, das musste Rowarn einräumen, war dies eine Wohltat für seine lichtempfindlichen Augen, auch wenn er die Sonne vermisste. Er knabberte einen süßen Taler, dann warf er sandige Erde über die Glut, beseitigte seine Spuren, ließ jedoch nochmals zwei Taler zurück, und machte sich auf den Weg. Also dann, auf nach Gandur, wo Jokim, der Hochkönig aller Zwerge, residierte, der angeblich den besten Ushkany von ganz Waldsee brannte.



Gegen Mittag erreichte er das Ende.

Staunend verharrte Rowarn vor der scharfen Kante. Abrupt, ohne Vorwarnung, tat sich ein Riss in der Landschaft auf, der sich rasch verbreiterte und in Richtung der Berge schließlich sein ganzes Blickfeld einnahm. Die Felswand fiel fast senkrecht in die Tiefe. Doch das Land dort unten war nicht eben, sondern schroff und voller Felsen, die sich in Richtung Horizont immer höher auftürmten, bis sie über die Bruchkanten hinausragten und schließlich in dem gewaltigen Gebirge endeten, das Rowarn seit Beginn seiner Reise vor Augen hatte. 

Das Felsenreich dort unten war nicht minder rau wie hier oben, zerklüftet, mit großen, knorrigen Bäumen, weit ausladendem Gebüsch und grasbewachsenen Plateaus. Wilde Frostrosen wucherten zwischen dem Gestein, weißlich gelb leuchtend und den ersten zarten Duft verströmend, ein Vorbote des Frühlings. Moosteppiche waren von einem blauen Schimmer überzogen, und Rowarn hörte sogar von hier oben das geschäftige Summen der großen rotblau gestreiften Winterdrohnen mit ihren schillernden Flügeln, die den ersten Nektar sammelten. Dort unten musste es wärmer sein; zumindest der Wind hatte seine Kraft verloren. Und es musste Wasser geben, oder wenigstens Feuchtigkeit, die sich zwischen den Felsen sammelte Rowarn war sicher, dort unten eine Weile überleben zu können, und das beruhigte ihn.

Doch von hier aus konnte er den Abstieg nicht wagen, es ging senkrecht nach unten. Er hoffte, irgendwo einen Gebirgspfad zu finden, der nicht nur von Felsspringern begehbar war. Aber welche Richtung sollte er einschlagen? Der freundlichere Westen oder der düstere Osten?

So sehr er seine scharfen Augen auch anstrengte, er konnte von hier aus keine Möglichkeit erkennen, wo es hinunterging. Rowarn schloss die Lider und ließ sich den Wind um die Nase wehen. Führe mich, dachte er, bevor er seinen Verstand leerte.



Nach links, sagte Rowarn auf einmal ein Gefühl. Er dachte nicht weiter darüber nach, sondern wandte sich nach Westen und ging einfach drauflos. Wenn er sich irrte, war daran auch nichts zu ändern.

Wie viel Zeit verging, vermochte er nicht abzuschätzen, da er keinen Sonnenstand erkennen konnte. Seinem Gefühl und dem gleichmäßigen Schritt nach war es eine Wegstunde, aber wer wusste schon, ob er sich hier draußen noch darauf verlassen konnte. Er war dem gezackten Verlauf des Bruchs gefolgt; bisher sah es nicht so aus, als ob es eine Biegung gegeben hätte. Noch immer fand sich kein Weg hinab. Nach einer weiteren Wegstunde erreichte Rowarn eine Gruppe windschiefer Bäume, umschlossen von Büschen. Er entschloss sich, sie zu umrunden, um sich einen neuen Überblick zu verschaffen, und dann im Windschatten zu rasten. Die trockene Luft und der ständige kalte Wind dörrten ihn aus. Auch wenn seine Vorräte dadurch bedenklich dahinschwanden, er musste trinken. Bestimmt gab es irgendwo einen Weg nach unten, dann würde es leichter werden. Moos brauchte Feuchtigkeit, also musste es Wasser geben.

Langsam ging Rowarn um das Gehölz herum; trockene Blätter hingen noch im Geäst, und die Bäume standen so dicht, dass ein Blick hindurch unmöglich war.

Auf der anderen Seite stand die Frau.

Rowarn verharrte für einen Moment erschrocken; er hätte nicht erwartet, jemandem zu begegnen. »Guten Tag«, sagte er höflich und verneigte sich leicht.

Die Frau mochte Mitte Vierzig sein, das dunkle Haar war nachlässig hochgesteckt; sie trug Mieder, Bluse und Rock mit Schürze sowie ein Schultertuch. Es war die einfache Kleidung einer Bauersfrau oder Krämerin.

»Ja, ja, guten Tag«, gab die Frau zurück, ohne sich ihm zuzuwenden. Unablässig starrte sie in den Abgrund.

»Ich bin auf der Suche nach einem Abstieg«, fuhr Rowarn fort. »Seid Ihr aus dieser Gegend und könnt mir weiterhelfen?«

Die Frau stieß einen trockenen Laut aus. »Hier führt der Weg hinab, genau hier, seht Ihr das nicht?« Sie deutete den Abgrund hinunter.

Rowarn trat neben sie, und tatsächlich, ein schmaler Gebirgspfad führte von hier aus nach unten. Zumindest ein Stück weit, der Blick zum Grund wurde durch Bäume und Felsen versperrt. »Was für ein Glück«, stieß er erleichtert hervor.

»Glück, pah«, sagte die Frau. »Was sucht Ihr denn da unten?«

»Ich will zu den Gandur.«

»Geht es nicht genauer? Das Reich der Gandur ist groß, Ihr steht bereits auf deren Gebiet. Da habt Ihr viele Möglichkeiten und müsst nicht unbedingt hier heruntersteigen. Außer natürlich, Ihr wollt in die Residenzstadt, Ganduria.« Die Frau fuchtelte mit dem Zeigefinger in Richtung Gebirge. »Ist der schnellste Weg von hier aus, aber nicht ungefährlich. Aalreiter treiben sich hier ab und zu herum. Widerliches Kroppzeug.« Sie schüttelte sich.

»Ganduria klingt gut«, meinte Rowarn erfreut. »Ist dort auch König Jokim zu finden?«

»Möchte man meinen, wenn’s doch seine Residenzstadt ist.« Zum ersten Mal sah die Frau ihn aus ihren bläulichen Augen an. »Ein seltsamer Reisender seid Ihr, wenn Ihr nicht mal wisst, wohin Ihr wollt, geschweige denn eine Ahnung von dem Land habt, durch das Ihr reist.«

»Ich weiß«, lächelte Rowarn. »Es hat mich unerwartet hierher verschlagen.«

»So wie mich«, brummte die Frau. »Seit Tagen schon versuche ich, wieder hinunterzugelangen.«

»Warum geht Ihr nicht einfach?«

»Schon mal mein Schuhwerk gesehen?«

Die Frau wies auf ihre Füße, und Rowarn sah, dass sie schwere Steinschuhe trug. Er wollte vorschlagen, dass sie die Schuhe auszog, doch dann sah er, dass eine Art Kralle von den Schuhen ausging, die sich um ihre Knöchel wand. Die Steinschuhe waren fest mit den Füßen verbunden. Wenn überhaupt, konnte die Frau sich nur sehr mühsam fortbewegen, und ganz gewiss nicht auf abschüssigem Gelände.

Rowarn stellte keine Fragen. Warum die Frau Steinschuhe trug, ging ihn nichts an, er wollte sich nicht in weitere Geschichten verzetteln, sondern sich ausschließlich auf seine Aufgabe konzentrieren. Allerdings konnte er die Frau nicht einfach so zurücklassen, sie schien schon zu lange hier oben zu stehen, war deswegen wahrscheinlich nicht mehr ganz bei Sinnen. »Wenn Ihr Euch so festhalten könnt, dass Ihr mich nicht erwürgt, nehme ich Euch auf meinem Rücken mit hinunter.«

Die betrübte Miene der Frau hellte sich schlagartig auf. »Das würdet Ihr tun? Wirklich?«

»Ja. Versuchen wir es.« Die Frau war um mehr als einen Kopf kleiner als er und sah nicht schwer aus. Lediglich die Steinschuhe könnten ein Problem sein. Aber Rowarn war jung und trotz seiner schmalen Statur kräftig. Seine dämonische Hälfte verlieh ihm eine ungewöhnliche Stärke. Er band sich den Reisebeutel vor den Bauch, ging leicht in die Knie, und die Frau klammerte sich an ihn. Er stützte sie nach hinten mit den Armen, richtete sich auf und machte sich an den Abstieg.

Zunächst ging es gut voran. Die Frau hielt sich fest, ohne Rowarn in der Bewegung zu beeinträchtigen, und gab ihm Hinweise, wo er gut auftreten konnte.

»Ihr habt Glück, dass Ihr mich getroffen habt, junger Mann«, gackerte sie. »Ohne mich hättet Ihr den Pfad nach unten niemals gefunden. Er verbirgt sich vor den Suchenden, wisst Ihr? Zum Dank, dass Ihr mich nach Hause bringt, führe ich Euch.«

»Gibt es nur diesen einen Weg nach Ganduria?«

»Allerdings. Schon so manches Heer versuchte es außenherum, doch gelangt es am Ende stets an einen breiten und tiefen Graben, über den man nur gelangt, wenn man fliegen kann. Und ich kenne nur wenige, die das können, etwa wie die Daranil, doch diese gehören zu den Alten Völkern. Sie hegen kein Interesse am Raub von Zwergenschätzen.«

»Ich auch nicht«, versicherte Rowarn.

»Dessen bin ich mir sicher«, antwortete die Frau. »Euch fehlt das hungrige Glitzern in den Augen.«

Der Pfad war sehr schmal und abschüssig, stellenweise rutschig mit Sand und Geröll. Rowarn geriet bald ins Schwitzen und war dankbar, dass der Himmel bedeckt war.

»Kommt hier jemals die Sonne zum Vorschein?«, fragte er.

»Durchaus«, kicherte die Frau. »Herrliche Tage erwarten uns.«

Die Steinschuhe waren schwer. Die Beine der Frau hingen steif herab. Rowarns gekrümmter Rücken begann zu schmerzen, und die Armmuskeln verkrampften sich. Zudem wurde der Pfad steiler und glatter. Immer wieder musste Rowarn seine Hände zu Hilfe nehmen, und dann rutschte die Frau seinen Rücken hinunter. Mehrmals musste er ums Gleichgewicht kämpfen, und sein Atem ging keuchend.

»Habt Ihr eine Freundin, junger Herr?«, fragte die Frau, wohl, um ihn abzulenken.

Jetzt musste Rowarn vorsichtig sein. Er entschloss sich zur halben Wahrheit. »Es gibt eine edle Dame, die ich verehre.«

»Und seid Ihr ihretwegen hier?«

»Ja, sie gab mir den Auftrag.«

Die Frau gackerte. »Und wenn Ihr ihn erfüllt, wird sie Euch erhören?«

»Das und mehr«, lachte Rowarn. »So habe ich es zumindest geplant.«

»Aber was könnte sie von König Jokim wollen?«

»Ich hörte, er würde den besten Ushkany brennen.«

Beinahe hätten sie das Gleichgewicht verloren, als die Frau zu schaukeln anfing. Fassungslos rief sie: »Eure Angebetete schickt Euch wegen Ushkany auf diese Reise?«

»Nein, es ist ein bisschen komplizierter, gute Frau«, erwiderte Rowarn.

»Ja, scheint mir auch so. Aber achtet darauf, dass Ihr wegen Eurer Liebe nicht Euch selbst verliert! Das bringt nur Unheil.«

»Ihr glaubt nicht an die wahre Liebe?«

»Bah, ein Lügengespinst! Es gibt keine Liebe, nur Begehrlichkeiten und Gier. Ihr werdet es noch merken, bevor Ihr so alt seid wie ich, junger Mann.«

Rowarn kämpfte sich einige steile Felsstufen hinunter und war schweißgebadet, aber erleichtert, als sie heil wieder auf dem Weg ankamen. Es war jetzt ein wenig leichter zu gehen, und er konnte durchatmen. »Dann seid Ihr wohl tief verletzt worden«, sagte er nachsichtig. »Haben Eure Steinschuhe damit zu tun?«

»Das ist eine ungehörige Frage.«

»Schon gut, schon gut! Bitte schaukelt nicht so, sonst stürzen wir beide doch noch ab.«

Rowarn hätte gern einmal eine Pause eingelegt und die Frau abgesetzt, aber er musste erschrocken feststellen, dass das nicht ging. Es war, als wäre sie inzwischen fest mit seinem Rücken verwachsen, ihre Hände vorn an seinem Hals unauflöslich ineinander verschränkt. Wie lange würde er diese Last tragen müssen? Vor allem litt er unter schrecklichem Durst. Zwar hatte der Wind hier unten keine Macht mehr, aber die Luft war noch immer sehr trocken.

Die Frau schien sich über seine Nöte zu amüsieren, denn sie kicherte vor sich hin, schaukelte ab und zu und fing dann auch noch an, zotige Lieder zu singen. Eine Unterhaltung war nicht mehr möglich. Rowarn blieb nichts anderes übrig, als weiter hinabzusteigen und zu hoffen, dass seine Kräfte bis unten reichten und er erlöst würde. Er schalt sich selbst einen Dummkopf, so arglos hilfsbereit zu sein. Er hatte einfach noch nicht genug Erfahrung mit Reisen durch fremde Länder, ganz auf sich allein gestellt.

Kurzzeitig sah er einmal den trüben Sonnenball über sich, als die dichten Nebelschleier sich für wenige Momente lichteten. Es musste also bereits Mittag sein. Inzwischen war er so tief unten, dass Bäume und Felsen den Blick auf die Bruchkante versperrten. Das Land dort oben schien weit entfernt. Allmählich wurde es wärmer, und er hörte das Piepsen kleiner Vögel, die im Buschwerk herumhüpften und nach vertrockneten Beeren vom Vorjahr suchten. Auch das Brummen der Winterdrohnen wurde lauter, und Rowarn verbannte energisch die Gedanken an die giftigen Stachel der handtellergroßen Insekten. Er hatte in Madin schauerliche Geschichten über angriffslustige und sogar blutrünstige Schwärme gehört, die einem ausgewachsenen Pferd binnen weniger Augenblicke den Garaus machten.

Die Frau auf seinem Rücken war eingeschlafen und schnarchte ihm ins Ohr. Ihre Steinschuhe wogen immer schwerer, und Rowarns ganzer Körper schmerzte. Wo waren seine Dämonenkräfte? Anscheinend erwachten sie nur, wenn er in Raserei geriet, doch davon war er weit entfernt. Er wollte sich einfach fallenlassen, der Erschöpfung nachgeben. Verfluchte Freundlichkeit. Was ging ihn diese alte Vettel an? Viel wichtiger war das Schicksal, das in seinen Händen lag – wenn er versagte, spielte es auch keine Rolle mehr, ob die Frau mit den Steinschuhen nach Hause gelangte oder nicht.

Im Zickzack ging es hinunter. In der Nähe tobte sich ein Familienverband  Felsspringer aus, das Krachen ihrer zusammenprallenden Hörner brach sich vielfach an den Felswänden. Die ersten Rangkämpfe und das Werben um die Weibchen begannen. Die Einjährigen mit den sprießenden Hörnern riskierten an den Steilwänden waghalsige Sprünge und liefen parallel zu Rowarn. Immer wieder verhielten sie und blickten neugierig zu ihm herüber, bevor sie vergnügt weitersprangen. Sie lachen mich aus, dachte er. Sie können nicht begreifen, was ich da Dummes tue und warum ich mich so ungeschickt anstelle. Es war ihm nicht ersichtlich, wo ihre schmalen Spalthufe Halt fanden, aber sie bewegten sich mit traumwandlerischer Sicherheit.

Es war besser, nicht mehr hinzusehen, sondern einfach den Blick nach vorn zu richten und weiterzugehen.

Direkt vor ihm lag in einer Biegung eine moosbewachsene Felswand, wo sich die Winterdrohnen an den blauen Blüten gütlich taten. Ihr Brummen übertönte sogar das Schnarchen der Frau. Hier musste er vorbei, er hatte keine Wahl, wenn er sich nicht in einen Felsspringer verwandeln konnte.

Nur keine Angst, und vor allem nicht schwitzen! Sie riechen den Angstschweiß.

Rowarn hatte Herzklopfen, aber es gab keinen anderen Weg. Zurück ging es nicht, rennen konnte er nicht, also musste er langsam und ruhig vorbeigehen. Er durfte die Insekten nicht beachten, sie aussperren aus seinen Gedanken.

Aber die Nektarsammler bemerkten ihn. Sie wandten sich von den zarten Moosblüten ab und umschwirrten ihn, ließen sich auf Gesicht und Händen nieder. Ihre mit Widerhaken bewehrten Beine kitzelten ihn, und er spürte, wie ihre Rüssel ihn abtupften und von seinem Schweiß kosteten. Er wagte nicht einmal zu blinzeln, als eine Drohne seinem rechten Auge sehr nahe kam, ihr schillerndes Facettenauge starrte ihn direkt an. Sie kroch zur Nasenwurzel und stieß den Rüssel in den Augenwinkel, um dort Tränenflüssigkeit abzusaugen. Rowarn war versucht, nach ihr zu schlagen und davonzurennen; das Kitzeln löste einen Niesreiz aus, und das Gefühl des Abtastens war äußerst unangenehm. Voller Sorge betrachtete er die beweglichen, pumpenden Hinterleiber auf seinem Arm, an denen der tödliche Stachel saß. Einen Stich konnte er sicher überstehen, aber zwei auf keinen Fall. Ein ganzer Dämon zu sein, wäre jetzt von Nutzen, denn kein Stachel konnte Dämonenhaut durchdringen – und selbst wenn, das Gift würde ein magisches Wesen, das mit Lebensessenz angefüllt war, wohl kaum beeinträchtigen.

Rowarn presste die Lippen fest zusammen, als eine andere Drohne versuchte, ihm in den Mund zu kriechen. Noch schlimmer wurde es, als gleichzeitig eine weitere sich für seine Nasenlöcher interessierte. Der junge Mann konnte sich kaum mehr zurückhalten, nicht laut loszuschreien und wild um sich zu schlagen. Das wäre sein Todesurteil gewesen, und nur deswegen schaffte er es, unter größten Mühen die Fassung zu bewahren. Seine Füße gehorchten ihm noch und schritten weiter aus, und bald führte der Pfad vom Felsen weg.

Nacheinander verloren die Drohnen das Interesse und lösten sich von ihm, um zu ihrer eigentlichen Tätigkeit zurückzukehren. Als das letzte Insekt weggeflogen war und das Brummen hinter ihm leiser wurde, stieß Rowarn pfeifend den angehaltenen Atem aus. Sein Herz schlug immer noch wild, doch er ging weiter, einfach immer weiter. Irgendwann musste er unten ankommen!



Und da, endlich, sah er ein weites Tal, das sich bis zum Gebirge ausbreitete. Nur noch eine Stunde weiteren Abstiegs, dann war es geschafft. Vielleicht war die Frau bis dahin wieder aufgewacht und konnte ihm sagen, wo er sie absetzen sollte.

Sehr viel beschwingter ging Rowarn weiter, ganz bestimmt würde er hier unten auch Wasser finden und Gelegenheit zu einer Rast bekommen. Erleichtert atmete er auf, als er schließlich den Talgrund erreichte. Über ihm türmte sich die Felswand auf, die er bewältigt hatte, und er konnte nicht einmal mehr den Pfad erkennen. Dafür aber sah er vor sich eine dünne Rauchsäule emporsteigen. Vielleicht eine Hütte? Rowarn schlug den Weg dorthin ein, möglicherweise war die Frau mit den Steinschuhen dort zu Hause.

»Seid Ihr wach?«, fragte er nach hinten. »Ist dies der richtige Weg?«

Er schüttelte sie, bis die Frau endlich aufwachte und sich räusperte.

»Oh!«, rief sie erfreut aus. »Fast zu Hause! Braver Junge. Nur noch ein kurzes Stückchen!«

Rowarn seufzte erleichtert. »Und wie komme ich von hier aus nach Ganduria?«

»Das bin ich Euch wohl schuldig, eher werde ich nicht frei sein. Man muss sich an die Regeln halten, ja, ja, das weiß ich durchaus. Also achtet genau auf meine Worte, sonst könntet Ihr auf Irrwege geraten.« Die Frau beschrieb den Weg nach Norden und die Markierungen, an denen Rowarn sich orientieren konnte.

Bald schon konnte er die aus Holz gezimmerte Hütte sehen, die zwischen zwei Felsen eingepasst war. Doch gleich darauf blieb er erschrocken stehen, als ein Mann wie ein Wirbelsturm aus der Hütte fegte, wild mit den Armen ruderte und schrie: »Nein! Weg hier!« Er hatte wilde, ungepflegte dunkle Haare, trug einen schmutzigen Kittel und nachlässig verschnürte Fellstiefel.

»Halt den Mund, Mann!«, rief die Frau auf Rowarns Rücken. »Ich bin zurück, daran lässt sich nichts ändern. Ich hab’s dir ja gesagt! Und es war auch höchste Zeit, wie siehst du nur aus!«

Der Mann griff nach einer Harke und ging drohend auf Rowarn zu. »Verschwindet sofort mitsamt Eurer Last, oder ich spieße Euch auf!«

Rowarn hatte genug. Er versuchte, die Frau abzusetzen, aber das ging immer noch nicht. »Lasst mich endlich los!«, zischte er nach hinten. »Ich habe Euch nach Hause gebracht, alles Weitere geht mich nichts an.«

»Los, weiter!«, befahl die Frau mit scharfer Stimme. »Ich muss meine Hütte betreten, erst dann bin ich frei.«

»Keinen Schritt weiter!«, kreischte der Mann mit gerötetem Gesicht und fuchtelte wild mit der Harke.

»Er will das aber nicht«, sagte Rowarn. »Und ich werde nicht mein Leben wegen Eures Streites riskieren! Haltet mich da raus.«

»Wie konntet Ihr das nur tun!«, keifte der Mann. »Denkt Ihr, ich verpasse ihr ohne Grund die Schuhe und setze sie oben ab?«

Rowarn entgegnete kühl: »Ich bin ein Ritter, Mann. Eine Frau in Not lässt man nicht im Stich, das ist eine Frage der Ehre. Wenn Ihr nicht mit ihr fertig werdet, ist das nicht mein Problem. Sehr wohl aber halte ich es für bedenklich, sie derart zu quälen.«

»Quälen? Ich bin es, der gequält wird! Keinen Augenblick lässt sie mich in Ruhe, ist mir ständig auf den Fersen und nörgelt und zetert und keift, das hält kein Mann aus! Nur so konnte ich sie endlich loswerden und Ruhe finden!«

»Lasst Euch scheiden«, riet Rowarn. »Das ist eine anständige Lösung.«

»Das kommt gar nicht in Frage!«, schnaubte die Frau. »Ich löse den Bund nicht, was bildet der Kerl sich ein! Der Bock wollte mich nur loswerden, um ein junges Hühnchen in sein Bett zu holen!«

»Wenn es nur so wäre!«

»Lügner!«

»Meckerliese!«

»Ehebrecher!«

»Hexe!«

»Ruhe!«, brüllte Rowarn. »Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Ihr solltet froh und dankbar sein, einander zu haben!«

Für einen Moment schwieg das zankende Paar verdutzt.

»Na ja ...«, begann der Mann und kratzte sich hinter dem Ohr.

»Also hast du mich doch ein bisschen vermisst?«, fragte die Frau.

»Es war ziemlich still, also irgendwie schon. Und ich hab nichts Sauberes mehr zum Anziehen.«

»Und ich wollte die ganze Zeit nur zu dir zurück, trotz allem, was du mir angetan hast. Und nach einem reinigenden Bad wirst du mir auch fast wieder gefallen.«

»Also«, sagte Rowarn erleichtert. »Das wäre endlich geklärt. Ihr nehmt jetzt die Harke weg, Mann, dann setze ich Eure Frau in der Hütte ab und verlasse Euch. Dann könnt Ihr in Ruhe darüber reden und noch einmal neu anfangen.«

Der Mann nahm die Harke herunter. »Netten Burschen hast du da aufgetrieben.«

»Er gefällt mir«, sagte die Frau. »Wir könnten ihn behalten, und er kann für uns arbeiten.«

Das Gesicht des Mannes hellte sich auf. »Er ist jung und kräftig. Außerdem ist er mir was schuldig für den Schrecken.«

Diese Wendung und plötzliche Einigkeit gefiel Rowarn noch weniger als der Streit zuvor. Langsam zog er sein Schwert und richtete es auf den Mann. »Nehmt das sofort zurück, Frau, oder ich spieße Euren feinen Gatten auf. Und anschließend schneide ich Euch von meinem Rücken. Bei den Füßen fange ich an.«

Der Mann spuckte aus. »Aber seine freche Zunge sollten wir ihm herausreißen.«

»Er braucht sie sowieso nicht mehr. Ich könnte eine saftige Vorspeise daraus zubereiten«, schlug die Frau vor. »Das wird uns wohl munden, schon lange hatten wir nicht mehr solch ...« Sie schrie auf, als Rowarn sein Messer zog und ihr einen Stich in den Arm versetzte. Harmlos, die Haut war kaum angeritzt, aber der kurze Schmerz genügte durchaus, um zu verdeutlichen, dass er es ernst meinte. Dann ging er einen Schritt auf den Mann zu, das Schwert immer noch erhoben. Er konnte sich kaum mehr aufrecht halten vor Schwäche, aber das würde er jetzt noch durchstehen. Jegliche Freundlichkeit war aus seinen Augen gewichen, die ein unheilvoll dämonisches Glühen annahmen.

»So also dankt Ihr Mitgefühl und Hilfsbereitschaft!«, fauchte er. »Das wird noch übel auf Euch beide zurückfallen! Glaubt nicht, ich hätte Bedenken, Euch zu erschlagen, denn Dämonenblut kreist in meinen Adern, und als Ritter ist es meine Pflicht, für Gerechtigkeit zu sorgen und Leid zu verhindern! Also, Mann, Ihr seht Eure Frau bereits bluten? Möchtet Ihr Euer Blut mit ihrem vereinen? Nur zu, dann macht weiter so. Aber überlegt schnell, denn meine Geduld ist am Ende, und meine Klinge frisch geschärft.«

Rowarn ging schnurstracks an dem nun zögernden Mann vorbei in die Hütte und schüttelte die Frau dort ab. Sie konnte sich tatsächlich nicht mehr an ihm festhalten und fiel zu Boden, wobei die Steinschuhe zerbrachen. Die Frau schnappte nach Luft, bekam jedoch keine Gelegenheit, etwas zu sagen. »Ihr braucht Euch für Eure Rettung nicht noch einmal zu bedanken«, schnappte Rowarn zornig, drehte sich um und verließ die Hütte. Der Mann draußen hatte sich nicht bewegt, er gaffte immer noch unsicher. Das war ihm offensichtlich alles zu schnell gegangen. Wahrscheinlich war er derartigen Widerstand nicht gewohnt; und außerdem stand er unter der Fuchtel seiner Frau – also ließ er sich ohnehin schnell einschüchtern.

Kopfschüttelnd steckte Rowarn Messer und Schwert ein und ging wortlos weiter. Er wollte nicht wissen, wie viele harmlose Reisende das saubere Paar schon in seine Falle gelockt und ausgeraubt oder sogar verspeist hatte, doch diesmal hatte es sich verrechnet. Er ging mit ausgreifenden Schritten, um so schnell wie möglich Abstand zwischen sich und die Hütte zu gewinnen. Nun, da die Last von ihm abgefallen war, meldeten sich seine Schultern und der Rücken erst recht mit wütendem Schmerz, und er ächzte und stöhnte, doch er zwang seine Beine weiter, immer Richtung Norden. Er wollte dieses Abenteuer so schnell wie möglich hinter sich lassen. Frühestens in einer Stunde würde er die verdiente Rast einlegen. Immerhin war er nun direkt auf dem Weg nach Ganduria und kam so vielleicht schneller voran – sofern er nicht auch noch diesen Aalreitern begegnete –, also hatte die Begegnung wenigstens etwas Gutes mit sich gebracht.