Kapitel 50

Der Gorgonier


Rowarn war für einen Moment sprachlos, starrte auf das Bruchstück und dann zu seiner Muhme hoch. »Also, das ...«, begann er schließlich, »ist wirklich eine Überraschung.«

Schattenläufer lachte. »Das kann ich mir denken. Nicht einmal Ylwa wusste es. Aber welchen Sinn hätte es, ein wertvolles Artefakt zu hüten, wenn jeder davon Kenntnis hat?«

»Nun müssen wir Weideling allein schützen«, fügte Schneemond hinzu, während sie das Bruchstück in Rowarns Hand drückte. »Jahrhundertelang spendete der Splitter uns Frieden und Sicherheit. Aber es wird Zeit, dass das Artefakt zusammengefügt wird.«

Rowarn zog die beiden anderen Teile hervor und legte alle drei aneinander. »Sie passen nicht zusammen.«

»Das war zu erwarten. Verberge die Splitter und lass uns zurückgehen, die anderen werden auf deine Entscheidung warten, Rowarn.«

»Entscheidung?«

»Bist du der König oder nicht?«



Bis zum Mittag hatte sich endlich alles soweit beruhigt, dass über den Aufbruch entschieden werden konnte. Baron Solvan öffnete die Tür zu einer Waffenkammer im ältesten Teil der Burg, deren verrostetes Schloss Jahrhunderte alt und ebenso lang nicht mehr geöffnet worden war. Auch hierüber hatte ein Bann gelegen, denn die Kammer barg die alten Waffen der heute hier versammelten Verbündeten. Auch die Velerii hatten einst Schwert und Bogen gegen Werkzeuge getauscht, doch Schattenläufers Augen leuchteten auf, als er den breiten, gekreuzten Schultergürtel mit dem gewaltigen Schwert in der Rückenscheide hervorzog. Durch den Schutzzauber waren alle Waffen noch scharf und einsatzbereit. Schneemond prüfte die Spannkraft ihres Bogens und strich durch die Schaftfedern. Auch die anderen Verbündeten waren andächtig, manche fast rührselig.

Rowarn hatte seinen Zieheltern inzwischen auch gestanden, dass er Luvian besaß, Lichtsängers Schwert. Die beiden Velerii reagierten überwältigt, sie freuten sich, dass das Schwert von Sonne und Mond wiedergefunden und in Rowarns Besitz war. »Zeig es allen«, forderte Schneemond ihn auf, und als er ihrem Wunsch nachkam, brach großer Jubel unter den Alten aus. »Nun ist der Bund endgültig besiegelt, und es ist, als weilte der große Velerii noch unter uns!«

Die meisten von ihnen brachen bereits eine Stunde später auf; die Pferdmenschen und einige Runi, Pheren und Daranil wollten Rowarn begleiten. Rowarn schickte per Botenfalk eine in schalkhafter Absicht kurz gehaltene Botschaft an Noïrun:


Der König von Ardig Hall an den Heermeister:

Ich komme, und nicht allein.

Rowarn


Auch Baron Solvans Begleittruppe war zum Abmarsch bereit, die berittene Vorhut schon unterwegs. Ein Teil der Reiterei würde Rowarn begleiten, der Rest die Fußtruppen. Noïrun würde ihnen vermutlich noch weitere Truppen entgegenschicken, sodass die durchs Land ziehenden Dubhani-Truppen in jedem Fall unterlegen waren, selbst wenn sie sich alle zusammenrotten würden. Und Sherkun hatte keine Möglichkeit, ihnen Verstärkung zu schicken. Femris musste sich nun in Geduld üben, bis Rowarn mit den Splittern bei ihm eingetroffen war.



Rowarns Herz schlug aufgeregt, als sie Dubhan erreichten, diesmal in aller Offenheit und aus nördlicher Richtung. Ein weites Grasland zog sich hier über lang gestreckte Hügel entlang. In der Ferne war die Lichtlose zu erkennen, die auf dem glitzernden See thronte, und davor war das Gelände bedeckt mit tausendfachem Gewimmel, Zelten, Fahnen und mehr. Zwischen dem Lager von Ardig Hall und den Dubhani lag ein Streifen Niemandsland, teilweise von Gräben und Palisaden durchzogen. Buschwerk und Bäume waren abgeholzt worden. Rowarn konnte nicht soweit blicken, aber er wusste, dass die Belagerung rund um Dubhan ging. Die Zahl des Aufgebots an Kämpfern konnte mit den Augen kaum abgeschätzt werden; doch Rowarn hatte erfahren, dass es insgesamt, beide Seiten gerechnet, über hunderttausend waren.

Wie man sich hier noch zurechtfinden konnte und ohne Rüstung oder Wappenhemd Freund von Feind unterscheiden, war Rowarn ein Rätsel. Wie schaffte der Fürst es, den Überblick zu behalten? Woher wusste er, wen er wo am besten einsetzen konnte? Der junge König konnte nur staunen, und er war froh, diese Verantwortung nicht tragen zu müssen.

Als sie das Lager erreichten, brach ein Aufruhr aus; die Soldaten waren durch das Eintreffen der Alten Völker bereits vorgewarnt und schnell auf den Beinen. Windstürmer schnaubte empört, als er sich den Weg durch die Massen erkämpfen musste, aber Aschteufel sorgte schnell für mehr Platz – er stieß ein donnerndes Wiehern aus, seine Augen flammten rot auf, und aus seinen Nüstern blies er Dampfwolken. Mit gebleckten Zähnen, angelegten Ohren und wiegenden Schritten, jederzeit zum Tritt bereit, brachte er die Menge auf Distanz.

Graum, Fashirh, Olrig und Noïrun warteten vor dem Beratungszelt. Die Wiedersehensfreude war groß, vor allem die Velerii wurden aufs Herzlichste begrüßt. Rowarn betrachtete den Fürsten sehr kritisch, aber Noïrun war in hervorragender Verfassung, seine Augen sprühten vor Lebenskraft. Arlyn bemerkte natürlich trotzdem die leichten Verletzungen, die er unter der Rüstung verborgen hielt, und verlangte, ihn ebenso wie Olrig zu untersuchen. Die beiden gaben ohne Gegenwehr lachend nach, vor allem, als Rowarn ihnen die beiden Flaschen Ushkany aus Jokims Brennerei überreichte, mit der Bemerkung, dass dieser Heiltrunk gewiss seine Wirkung nicht verfehlen werde. Da leuchteten ihre Augen auf, und sie folgten Arlyn bereitwillig. Die dritte Flasche spendierte Rowarn den Befehlshabern ersten Ranges.

Der König und die anderen ließen sich derweil ihre Quartiere zuweisen, und dann saßen das Königspaar, der Visionenritter und sämtliche höheren Befehlshaber einschließlich Fashirh und die Velerii bis tief in die Nacht zusammen und schmiedeten Pläne für die entscheidende und letzte Schlacht. Schon morgen Abend sollte alles beendet sein. Noïrun wollte noch im Lauf der Nacht fast das gesamte Heer zusammenziehen, um im Sturmlauf durchzubrechen und die Burg einzunehmen. Den Befehl dazu hatte er bereits gegeben, als ihm die baldige Ankunft des Königs gemeldet wurde. Damit Sherkun nicht dasselbe tat, wollte der Heermeister dessen Streitkräfte durch Angriffe von mehreren Seiten in Atem halten, und zwar noch vor der Kalten Stunde. Brennende Speere und Pfeile, Steinschleudern; bis es hell genug war, um Mann gegen Mann vorzugehen.

Bis zum Anbruch des Tages wollte Fürst Noïrun das Heer bereitstehen haben. »Wir lassen Femris keine Gelegenheit mehr, sich eine Strategie zu überlegen. Du bist hier, also legen wir los. Wir haben lange genug gewartet.«

Dem konnte Rowarn nur zustimmen. Er wollte es hinter sich bringen, auch wenn er fiebrig war vor Angst und Ungewissheit. Ich würde lieber nach der Blauen Rose suchen, dachte er zittrig, und im selben Atemzug: Aber das tue ich doch bereits.

Noïrun musterte ihn prüfend, dann neigte er sich zu ihm herüber und sagte leise: »Deine Prinzessin hast du bereits gewonnen.«

Rowarn war wieder einmal fassungslos, wie gut der Fürst seine Gedanken erraten konnte. Das wurde ihm allmählich unheimlich. Er entschloss sich, nicht darauf einzugehen, sondern gab zurück: »Und du wirst morgen als Heermeister auf Beobachtungsposten gehen?«

»Nicht mal im Traum«, erwiderte Noïrun und richtete sich wieder auf.

»Und wenn ich es dir befehle?«, rief Rowarn, und die Gespräche der anderen verstummten. Die Augen aller richteten sich zuerst auf ihn, dann auf den Fürsten.

Auch wenn es jetzt zum Streit kam, es war ihm gleich. Rowarn zeigte eine entschlossene Miene und starrte Noïrun finster an. Das Schweigen um ihn beeindruckte ihn nicht.

Der Fürst lächelte gelassen. »Mir kann nichts geschehen, mein König, denn jeder Feind wird morgen darauf aus sein, dich umzubringen.«

»Und wir«, sprach Olrig, »werden dafür sorgen, dass ihnen das nicht gelingt. Wir bringen dich hinein, Rowarn, und das wirst du uns alten Kämpen nicht nehmen. Auf diesen Moment haben wir so lange gewartet, zumindest ich – du kannst nicht verlangen, dass wir abseits stehen und nur beobachten.«

»Die Strategie ist festgelegt«, schloss Noïrun. »Alle haben ihre Befehle und werden danach handeln. Und wenn sich das Blatt unerwartet wendet, werden sie eigene Entscheidungen treffen. Ich vertraue jedem Einzelnen, dem ich ein Kommando gegeben habe. Ich kann auch vom Hügel aus in einer Schlacht dieser Größenordnung nicht überall meine Augen haben und schnell genug Befehle erteilen. Unsere Leute auf der anderen Seite der Burg sind bereits seit Stunden auf sich gestellt.«

»Felhir ist dort«, wandte Rowarn ein.

»Und ich bin hier. Das ist mein letztes Wort.«

Rowarn hob die Hände. »Ich wollte es wenigstens mit Vernunft versuchen.«

Noïrun war nicht erzürnt, sondern lachte amüsiert.



Zur Morgendämmerung fanden sich alle auf dem Beobachtungshügel ein, auf dem ein hoher Mast mit einer großen Fahne in den Boden gerammt war. Zwischen dem Hügel und Dubhan wogte das Land schwarz und silbern. Zwischendurch war ein buntes Wappenhemd zu erkennen oder das Aufblitzen einer Waffe im Sonnenlicht. Eine Palisadenmauer war in der Nacht eingerissen worden, und der Weg durch das Niemandsland zum Feind war frei. Drüben waren auch die Dubhani bereit, wie es aussah.

Der Heermeister schickte einen Boten mit einer weißen Friedensflagge los, der folgende Botschaft ausrichten sollte: 


Der Heermeister von Ardig Hall, Fürst Noïrun Ohneland, bittet um Unterredung mit dem Heermeister von Dubhan, Sherkun dem Gorgonier. 

Wir wollen freies Geleit für den König von Ardig Hall nach Dubhan, um die Splitter des Tabernakels zusammenzuführen. 

Wir garantieren den freien Abzug der Dubhani bis zur Mittagsstunde. Der geordnete Ablauf wäre zu besprechen. Bedingungen dürfen keine gestellt werden.

Dies ist unser letztes Friedensangebot.

Sollte keine Antwort innerhalb der nächsten Stunde erfolgen, werden wir uns den Zutritt gewaltsam erzwingen.


»Der arme Bote«, bemerkte Rowarn. »Er reitet in den sicheren Tod.«

»Das braucht dich nicht zu belasten«, versetzte Noïrun. »Er ist ein gefangener Dubhani, den wir mit ein paar Kräutern willig gemacht haben. Das Mittel dürfte wirken, bis er die Nachricht überbracht hat.«

»Aber du kennst doch Sherkuns Antwort schon längst?«

»Natürlich. Dieses Angebot gehört sich trotzdem.«

Sie warteten ungeduldig ab, doch vor Ablauf der Stunde kam Bewegung in die Reihen unten, und Rowarn riss die Augen auf, als er einen gewaltigen Dämon, größer noch als Fashirh, heranstampfen sah. Seine Haut war leuchtend orange, die Tierbeine besaßen sehr lange Sprunggelenke und endeten in Spalthufen. Er hatte eine stumpfe Schnauze, aus der krumme, spitze Zähne herausragten, und eine lange, dünne, sich ständig bewegende Zunge. Die Augen waren schmal und gelb, mit gespaltener, glühend roter Pupille. Vorn an der Stirn entsprang ein Paar aufwärtsgeschwungener, in sich gedrehter Hörner, ein zweites Paar an den Schläfen, das zunächst wie bei Widderhörnern gebogen war, dann aber gerade und spitz nach unten auslief. In der schwarzen Bärennase trug er einen breiten Ring. Die großen, geschwungenen Ohren standen weit ab und waren mit vielen silberfarbenen Ketten behangen. Genau wie Angmor war Sherkun völlig unbehaart, er besaß keinen Schweif, und er trug eine dunkelbraune Rüstung.

»Und der kommt nicht durch unsere Linien?«, hauchte Rowarn. Das gewaltige Wesen jagte ihm einen ordentlichen Schrecken ein.

»Der schon«, versetzte Noïrun. »Aber die anderen nicht, zumindest bisher. Das größere Problem ist, wir kommen nicht durch seine Linie. Sherkun ist ein sehr ernst zu nehmender Gegner, der mich mehr als einmal aus dem Konzept brachte. Wenn Femris ihn vor zwei Jahren als Heermeister gehabt hätte, wäre uns bereits da die endgültige Niederlage gewiss gewesen, und wir hätten den Splitter noch früher verloren.«

Der Riese verharrte auf dem Streifen Niemandsland und stemmte die krallenbewehrten Pranken in die Seiten. »Meine Antwort«, schallte seine Stimme klar verständlich bis zum Hügel herauf. »Ihr ergebt euch, legt sämtliche Waffen und Rüstungen ab, liefert mir den Dieb der Splitter aus, und dann lasse ich euch unbehelligt ziehen. Vielmehr, laufen, denn ich werde euch zur Unterstützung ein paar Antreiber schicken.«

»Ein Dieb, oho!«, knurrte Olrig.

»Er hat ja recht«, meinte Rowarn gleichmütig. »Das Tabernakel gehört Femris, nicht mir.«

»Das sehe ich anders«, erklang Schneemonds Stimme. 

»Ich weiß«, sagte Rowarn. »Aber es ist nicht so einfach.«

»Du bist kein Dieb«, mischte Arlyn sich ein. »Du willst das Tabernakel nicht für dich, du willst es heilen.«

Rowarn lächelte bitter. »So weit, so gut. Und dann?«

Fürst Noïrun hielt sich kerzengerade auf seinem Pferd. Rundyr stand ruhig und stolz aufgerichtet, wie ein Standbild. »Abgelehnt!«, rief er hinunter. »Verlierer haben keine Bedingungen zu stellen. Entweder, du nimmst mein Angebot an, oder wir werden angreifen.«

»Etwa so wie auf der anderen Seite der Burg?«, rief der Gorgonier höhnisch. Seine Stimme klang schauerlich, wie ein rostiger Nagel, der über Metall kratzt. »Wir haben alle niedergemacht.«

Die Befehlshaber bewegten sich unruhig, und Olrig zischte ihnen zu, sich nichts anmerken zu lassen. »Das ist eine Lüge! Vermutlich verliert er gerade an Boden.«

»Dann werdet ihr eben doppelt dafür bluten«, gab Noïrun dem Heermeister zurück. »Genug des Geplänkels, wenn das deine Antwort ist, blasen wir jetzt zum Angriff.«

»Womit denn?«, lachte Sherkun. »Ich sehe nur einen lächerlichen Haufen, mit dem man nicht mal Kinder erschrecken kann! Pferde, die sich einbilden, Intelligenz zu besitzen! Zwerge, die Stelzen benötigen, um nicht von Ameisen zertreten zu werden! Und einen vermisse ich ganz besonders, wo ist er denn?« Suchend ließ er seinen Blick schweifen, bis er scheinbar zufällig an Angmor hängen blieb.

»Ah, da ist er ja, der gezähmte Dämon!«, dröhnte Sherkun voller Hohn und Spott. »Nimmt man ihm die Weiberröcke weg, versteckt er sich hinter einem dünnen Halm, der glaubt, ein König zu sein! Ein mageres Fischlein, entstanden aus verdünntem Samen, der weit über seine Zeit hinaus gealtert ist! Hier ist kein Platz mehr für Graugewordene, deren Hörner jeden Moment abfallen und deren Verstand in einer Jauchegrube versunken ist!«

Rowarn schluckte, als er die an den Visionenritter gerichteten Beleidigungen hörte. »Das ist nicht gut«, murmelte er.

»Ganz ruhig«, befahl der Fürst, doch es war bereits zu spät.

»Was sagt der da?«, knurrte Graum, nahm Katzengestalt an und stellte sich mit gesträubtem Fell neben seinem Herrn auf. »Ein Abtrünniger öffnet unerlaubt den Mund? Beschmutzt unser Gehör mit dreckigen Worten? Fällt ein Urteil, das nicht einmal ein Gott wagen würde?« Seine Augen loderten, und seine Aura flammte auf. Er fuhr seine Krallen aus und wölbte die Brust. Weithin schallend rief er: »Ich werde den Nichtswürdigen lehren, was Höflichkeit ist und dass sich Respekt ziemt vor Nachtfeuer, dem Sohn der Großen Mutter und des göttlichen Herrn von Xhy, dem Herrscher des Dämonenlands und Gebieter aller Dämonen Waldsees!«

Für einen winzigen Moment verharrte alles, während Graums Worte verhallten.

Und dann öffnete er den Rachen, so weit, dass Rowarn seinen Kopf hätte hineinlegen können, und stieß ein Gebrüll aus, das selbst die Felsmauern der Lichtlosen Burg erbeben ließ. Warinen, Menschen und Zwerge gleichermaßen hielten sich die Ohren zu und duckten sich in der Sturmbö von Graums Atem, die donnernd über sie hinwegfegte.

Selbst Rowarn wurde davon bis tief in sein Innerstes erschüttert, obwohl er neben dem Schattenluchs stand und zur Hälfte Dämon war. Fassungslos starrte er auf Graum, dessen Aurenkörper riesenhaft in die Höhe wuchs, bis er so groß war wie Sherkun selbst, und immer noch brüllte er mit einem einzigen Atemstoß. Der Dämon brüllte, bis die Wolken am Himmel zerstoben und sterbend davonjagten.

Die beiden Heere stoben in zwei Richtungen auseinander, als würde ein Wasser geteilt, und bildeten eine Schneise zwischen den Dämonen. Der Großteil warf sich zu Boden und hielt sich die Ohren zu, viele wimmerten oder schrien vor Schmerz, einige erlitten einen Blutsturz.

Graum brüllte, bis selbst das Wasser des Sees vor ihm zurückwich und schwappend über das Ufer auf der anderen Seite floh. Er brüllte, bis sich hoch oben im Turm Dubhans ein Riss bildete, eine Zinne mit einem schrillen Klang zersprang und dröhnend in den aufgewühlten See stürzte, wo sie ein Loch in den schlammigen Boden schlug.

Und erst dann war es genug. Die Gestalt des Schattenluchses schrumpfte wieder auf die gewohnte Größe, während der Nachhall seines Schreis über die Ebene fegte, doch seine Augen, die er unverwandt auf Sherkun gerichtet hielt, loderten immer noch in eisigem Hass, und sein Fell blieb gesträubt.

»Ich werde ...«, setzte Graum an und spannte die Muskeln zum Sprung, aber sein Herr packte ihn und riss ihn zurück.

Fashirh, der sich vorn neben Rowarn gestellt hatte, verschränkte die Arme vor der Brust. »Oje.« Er fletschte die Zähne, seine Bartfäden wanden sich und verschränkten sich zitternd ineinander.

Rowarns Herz sank ihm tief in die Magengrube. Er ahnte, was jetzt kam, und wusste nicht, wie er es verhindern sollte.

Angmor drehte sich zu ihm um, öffnete den Umhang, streifte ihn ab und gab ihn dem Sohn. Der junge König hatte noch nie so eiskalt flammende Augen gesehen, und er spürte, wie der Rote Dämon neben ihm erschauerte. 

Angmors – nein, Nachtfeuers Zorn war geweckt.

Seine Haut nahm eine tiefblaue Farbe an, und seine Hörner überzog ein silbriger Glanz, als das Alter von ihm wich, und ebenso vergingen die letzten achthundert Jahre als Visionenritter auf seiten des Regenbogens. Seine Aura entzündete sich in weißen Flammen und war nun auch für Menschen sichtbar. Die Ausstrahlung seiner Macht machte die Luft so drückend wie vor einem aufziehenden schweren Gewitter und lähmte die Atmung.

»Das«, sagte Nachtfeuer mit tief grollender, kaum mehr gedämpfter Stimme, die das Blut in den Adern zum Kochen brachte, »übernehme ich selbst.«

Dann legte er auch noch den Waffengürtel ab. Lediglich die Rüstung behielt er an.

Als Aschteufel auffordernd wieherte, hob der Dämon die Hand. »Graum, Fashirh und ihr anderen – ihr sorgt dafür, dass die Dubhani stillhalten. Du, Rowarn, bleibst hier und rührst dich nicht. Aschteufel, du passt auf, dass er keine Dummheiten macht.«

Rowarn wagte kein Wort des Widerspruchs. Ihm klingelten ohnehin noch die Ohren von Graums Schrei. 

Auch die Heere rührten sich nicht, der Nachhall schwebte immer noch über ihnen. Nur zaghaft wagte der eine oder andere, sich aufzurichten.

Als Rowarn sich zu den anderen drehte, sah er Olrig und Noïrun sprachlos auf ihren Pferden sitzen; selbst diese beiden erfahrenen Krieger waren völlig überwältigt. Die Velerii standen stolz und aufrecht, es war nicht zu erkennen, was in ihnen vorging.

»Du weißt, dass es nicht gut ist, Gebieter, wenn du ihn persönlich zur Ordnung rufst?«, wagte Fashirh einen zaghaften Einwand. »Sherkun ist ein sehr mächtiger Dämon, die Freisetzung seiner Lebensessenz und die Verbindung mit deiner Macht könnte große Zerstörung anrichten.«

»Was kümmert mich das?«, knurrte der Widdergehörnte. »Diese Ungeheuerlichkeit muss bestraft werden.«

»Ja, Herr«, seufzte der Rote Dämon und verneigte sich ergeben.

»Geht jetzt.«

»Sofort, Gebieter.«

Fashirh, Graum und die verbündeten Dämonen stiegen nun auf breiter Linie den Hügel hinab und gingen mit erhobenen Waffen an der Spitze des Heeres von Ardig Hall in Position. Hinter ihnen reihten sich die Alten Völker auf, allen voran Schneemond und Schattenläufer, die Geflügelten kreisten über ihnen.

Der Gorgonier stand still. Seine Hautfarbe war so tieforange geworden, dass er jeden Moment in Flammen aufgehen mochte. Rowarn glaubte, seine heißglühende Aura bis zu sich spüren zu können. Sherkuns Zunge zuckte, er zischte wie eine Schlange.

Rowarn presste den Umhang und den schweren Waffengürtel mit dem Schwert an sich. »Vater ...«, flüsterte er, doch er erkannte, dass er in diesem Moment keinen Vater hatte, und auch den Visionenritter gab es nicht mehr. Vor ihm stand in seinem rasenden Zorn nur noch Nachtfeuer, wie er einst gewesen war, ein Schrecken der Finsternis.

Wortlos drehte der Dämon sich um und schritt den Hügel zu dem Gorgonier hinunter. Als der Riese das Schwert zog, schlug er es wie beiläufig aus der Ferne mit einer fegenden Geste beiseite, mit solcher Wucht, dass es Sherkuns mächtiger Klaue entrissen wurde, durch die Luft wirbelte und weit entfernt am Seeufer tief in den Boden gerammt wurde. Gleichzeitig kam ein Sturm auf, der von Nachtfeuer ausging und der einen flimmernden kreisrunden Wall um ihn und den Gorgonier bildete. 

Sherkun versuchte mit erhobener Hand einen magischen Angriff, dessen Energie jedoch vom Ziel abgelenkt wurde, gegen die Sturmwand prallte und klirrend zerbarst.

»Keine Magie, keine Waffen«, erklang Nachtfeuers Stimme mit der Urgewalt eines ausbrechenden Vulkans, unverhüllt und weithin tragend. Er fuhr über seine Augen. »Ich werde nicht einmal meine visionäre Sicht einsetzen. Blind kämpfe ich, denn gegen dich brauche ich mein Augenlicht nicht.« Dann ging er in Position. »Nur du und ich, Götterliebchen. Und jetzt komm, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«



Das Land erbebte, als die beiden Dämonen aufeinandertrafen. Obwohl Nachtfeuer erheblich kleiner war als Sherkun, hatte er keinerlei Mühe, sich der Urgewalt des Riesen entgegenzustemmen.

Sherkun kam rasend schnell in weiten Sätzen auf Nachtfeuer zu, seine Hufe dröhnten über den Boden und schlugen tiefe Furchen hinein. Es donnerte wie bei einem schweren Gewitter, als Sherkun auf Nachtfeuer prallte und ihn nicht um eine Handbreit verschieben konnte. Als wäre er gegen einen Berg gerannt. Die Druckwelle des Zusammenstoßes durchschlug den magischen Schild und raste durch die Heere, brachte selbst die stämmigen Warinen ins Schwanken. Die leichter gebauten Menschen verloren den Halt und stürzten.

Falls der Gorgonier geglaubt hatte, aufgrund seiner Größe leichtes Spiel zu haben, so sah er sich nun getäuscht. Es war keine grenzenlose Selbstüberschätzung gewesen, die Nachtfeuer veranlasst hatte, auf Magie, Waffen und sein visionäres Augenlicht zu verzichten. Und es war mehr als deutlich, dass der Sohn der Großen Mutter trotz seines Alters im Vollbesitz seiner Kräfte war. Und falls er doch heute schwächer sein sollte als in der Blüte seiner Jahre, so nahm es kein Wunder, dass diejenigen, die sich noch an diese lange vergangene Zeit erinnern konnten, in Angst und Schrecken verfielen, sobald Nachtfeuers Name fiel.

Sherkun wurde durch den Aufprall zurückgeschleudert und landete in einer Staubexplosion auf dem Rücken, wobei eine tiefe Grube entstand. Bevor er sich aufrappeln konnte, hatte Nachtfeuer sein linkes Bein gepackt und hielt es mit beiden Händen fest umklammert. Seine Krallen bohrten sich durch die Beinschienen, und dann riss er Sherkun mit einem einzigen Ruck vom Boden hoch, wirbelte ihn herum und schmetterte ihn mit Wucht ein Stück abseits zu Boden. 

Der Gorgonier versank fast zur Hälfte in dem Loch, das sein schwerer Körper diesmal schlug. Er stieß ein wütendes Gebrüll aus, aber man merkte ihm an, dass er überrascht und verunsichert zugleich war. Anscheinend hatte er bisher nicht viel mit dem Herrscher des Dämonenlands zu tun gehabt, sonst hätte er sich die Herausforderung vielleicht noch einmal überlegt. Der Kampf, der dazu dienen sollte, die Truppen von Ardig Hall einzuschüchtern oder gar vollständig zu demoralisieren, nahm von Anbeginn eine fatale Wendung.

Allerdings war auch Sherkun nicht ganz wehrlos. Und er reagierte schnell. Bevor Nachtfeuer ihn ein zweites Mal packen konnte, sprang er aus dem Erdloch. Dann umkreiste er den Widdergehörnten mit weiten Sprüngen und brüllte unentwegt. Das zeigte bald Wirkung. Der Schall traf Nachtfeuer nun von allen Seiten und irritierte ihn. Der Gorgonier war so schnell, dass Nachtfeuer ihm mit dem Gehör nicht mehr folgen konnte. Anfangs drehte er sich noch exakt mit im Kreis, doch dann geriet seine Wahrnehmung durcheinander, und seine blinden Augen, die zuvor auf Sherkun gerichtet schienen, glitten ins Leere. 

Schließlich blieb er stehen und versuchte, sich zu orientieren. Seine normalerweise eng an den Hörnern anliegenden Ohren stellten sich leicht ab und bewegten sich unabhängig voneinander nach vorn und hinten.

Darauf hatte Sherkun wohl nur gewartet. Er verstummte und blieb stehen, während die Staubwolke langsam herabsank und der letzte Klang seiner Stimme verhallte.

Einen Augenblick standen die Dämonen völlig still. Nachtfeuer hob leicht den Kopf, seine Nasenflügel blähten sich, während sich die Ohren immer noch bewegten. Da sprang Sherkun, stieß sich aus dem Stand ab, flog durch die Luft und erreichte Nachtfeuer, noch bevor dieser sich zu ihm drehen konnte. Sein linker Arm traf den Widdergehörnten mit voller Kraft in die Seite, und der blauhäutige Körper wurde durch die Luft geschleudert und prallte an den magischen Wall. Es gab einen lauten Knall, Funken stoben in alle Richtungen davon, und Nachtfeuers Körper wurde von zuckenden Blitzen eingehüllt. Rauch stieg auf, als er zu Boden sackte, und seine Aura flackerte. 

Sherkun verlor keine Zeit und setzte ihm nach, um ihm einen zweiten Schlag zu versetzen. Doch Nachtfeuer war keineswegs außer Gefecht gesetzt, er rollte sich blitzschnell herum, sprang auf und hebelte Sherkuns Bein aus. Der Gorgonier verlor das Gleichgewicht und ging in die Knie; Nachtfeuer reichte nun an seinen Kopf heran, packte ihn bei den Hörnern und stieß ihn gegen die flimmernde Mauer. Sherkun schrie auf, als nun er von knallenden Blitzen eingehüllt wurde, bis Rauch aufstieg, und seine Hände ruderten wild durch die Luft, um Nachtfeuer von sich zu schleudern.

»Genug des Geplänkels!«, rief der Widdergehörnte. »Lass uns endlich anfangen.« Er hieb dem Gorgonier in den Nacken, sodass er ächzend zu Boden ging, und ließ ihn los. Langsam ging er zurück in die Mitte des Kreises. »Komm«, sagte er. »Meine Geduld ist am Ende, nun zeig endlich, was du kannst.«

Sherkun stand auf und schüttelte den Kopf. Mürrisch erstickte er eine Flamme, die seine linke Ohrspitze in Brand gesetzt hatte, zwischen zwei Fingern. Lauernd näherte er sich seinem Gegner. »Du spuckst große Töne, alter Mann«, knurrte er. »Willst du dich ernsthaft im Ringkampf mit mir messen?«

»Ist dies ein Dämonenkampf nach den alten Regeln oder nicht?«, gab Nachtfeuer dröhnend zurück. »Ich habe dir eine faire Chance gegeben, Gorgonier, indem ich dir nur als Dämon begegne, ohne Herrscherwürde, ohne meinen Status als Visionenritter. Du hast mich durch Beleidigung herausgefordert. Nun erwarte ich, dass du dich beweist. Wenn du mir unterliegst, wirst du grausam sterben.«

Sherkuns lange Arme schossen vor, genau wie die Nachtfeuers. Doch der blinde Widdergehörnte griff ins Leere, da der Gorgonier sich nach seiner Ansprache unmerklich zur Seite bewegt hatte.

Mit einem triumphierenden Schnauben packte Sherkun zu. Und starrte verdutzt auf seine leeren Hände. Nachtfeuer war unter ihm hinweggetaucht, und nun griff er von der Seite an, zog den Gorgonier zu sich heran und packte seine Arme. Die schweren Stiefel rammte er in den Boden.

Dann begann das Ringen. Nur noch gelegentliches Keuchen war zu hören, als sie beiden Dämonen sich hin- und herschoben, scheinbar untrennbar ineinander verklammert. Sie hatten keine Wahl mehr, wer zuerst losließ, bot dem anderen unweigerlich einen Vorteil. Hin und her ging es, mal musste der eine weichen, mal der andere. Keinem gelang es, den Gegner auszuhebeln, oder die Beine einzusetzen. Sherkun kämpfte tief geduckt, wie ein Rammbock, und trotzdem konnte er keinen Vorteil erringen. Nachtfeuer war viel kleiner, aber offensichtlich stärker als der Riese, denn egal, was Sherkun versuchte, er bekam den Widdergehörnten nicht zu fassen. Allerdings war es auch für Nachtfeuer nicht leicht, seine Haut verlor allmählich die tiefblaue Farbe, und das Glitzern seiner Hörner ließ nach. Seine Ausdauer war gewiss nicht mehr so groß wie früher, und der sehr viel jüngere, in der Blüte seiner Jahre stehende Gorgonier setzte ihm schwer zu.

»Ich übernehme das Dämonenland!«, rief Sherkun hasserfüllt, als er merkte, dass er allmählich an Boden gewann. »Deine Tage sind gezählt, alter Mann, du bist nur noch ein Kinderschreck, der ...«

Weiter kam er nicht mehr. Nachtfeuer stieß einen Schrei aus, der den Boden erzittern ließ, und wurde wieder blaue Dunkelheit und Silber. Schlagartig verfinsterte sich der Himmel, und die Sonne verblasste, als seine ganze Kraft hervorbrach. »GENUG JETZT!«, donnerte er, dann stieß er mit dem Kopf zu, und mit einem berstenden Knall krachten seine Widderhörner auf die geschraubten Spieße des Gorgoniers.

Sherkun schrie ebenfalls auf, aber vor Schmerz, als eines der langen, gewundenen Hörner mit einem klirrenden Klang brach, herabfiel und sich mit der Spitze voran in den Boden bohrte. Der Klammergriff des Gorgoniers löste sich, und seine Klauen fuhren an den Kopf, Funken schlugen aus der Bruchstelle. Nachtfeuer gab ihm keine Gelegenheit, sich zu fassen, er packte zu und warf den Riesen zu Boden, stemmte das mächtige Knie auf dessen Brust und richtete die langen Krallen der rechten Hand auf seine Kehle.

»Jetzt beende ich diesen Kampf«, dröhnte seine zornige Stimme weit über das Land. »Deine Lebensessenz gehört mir, du armseliger Emporkömmling, und ich werde sie verschlingen, löschen und ausspucken, damit sie für immer ausgetilgt ist und es keine Erinnerung mehr an dich gibt. Deine Hülle werde ich auflösen, als wäre sie nie gewesen!«

Sherkun ächzte, und das Glühen in seinen Augen erlosch. 

»Gebieter!«, schrie Fashirh entsetzt.

»Herr, tu es nicht!«, brüllte Graum.

Beide Dämonen rannten zu dem magischen Wall, aber sie konnten ihn nicht durchdringen, der Zorn des Dämonenherrschers wehrte alles ab.

Kurz bevor Nachtfeuer zuschlug, um dem Besiegten die Kehle aufzureißen, zogen plötzlich schwarze, an den unteren Rändern violett leuchtende Wolken auf, die den Himmel endgültig verfinsterten. Blitze zuckten, die Wolken ballten sich zusammen und bildeten einen in sich kreisenden Strudel, der direkt über dem Kampfplatz rotierte. Ein bedrohliches Donnern erklang.

Nachtfeuer hielt endlich inne und hob das Haupt zum Himmel. »Ah!«, rief er. »Nun flehst du? Kein Drohen und Fluchen mehr? Sag mir, was erbittest du? In aller höflichen Form!«

Das Grollen wurde lauter, seltsame Töne mischten sich darunter, wie eine Stimme, aber auch wie ein unbekanntes Musikinstrument und Trommeln.

Sherkun lag schlaff da, er hatte sich ergeben. Durch die grausame Demütigung, ein Horn verloren zu haben, war sein Kampfeswille gebrochen. Nachtfeuers Krallen schwebten immer noch bedrohlich über seiner Kehle.

Dann lachte der Herrscher der Dämonen plötzlich schallend. »Welch ein artiger Gott! Das ist mir hinreichend Genugtuung, besser als der Tod eines unbedeutenden Hornlosen. Hab keine Angst um dein Liebchen! Ich werde es schonen, wenn du es mir aus den Augen schaffst, fort von hier, zurück zu seiner bescheidenen Insel Gorgonea, wo es seine Wunden lecken mag. Aber mach schnell, bevor ich es mir anders überlege!«

Mit diesen Worten zog er die Hand zurück, stand auf und ging einige Schritte zur Seite.

Ein brausender Sturm fegte nun aus dem Himmel herab, für einige Herzschläge wurde es stockfinster, und nur das Pfeifen des Windes war noch zu hören.

Dann wurde es unvermittelt wieder hell, und binnen weniger Augenblicke waren die Wolken fort, und die Kraft der Sonne kehrte zurück.

Nachtfeuer stand allein auf dem Platz, und der magische Wall um ihn war erloschen.