Kapitel 25

Der Weg nach Farnheim


Wir erreichen bald den Waldrand, Herr«, sagte Rowarn zwei stille Stunden später zu dem Visionenritter.

»Mir wäre wohler, wir würden den Wald nicht verlassen, aber uns bleibt keine Wahl«, brummte Angmor.

»Es gibt etwas, das Ihr fürchtet?«, platzte Rowarn heraus, bevor er richtig nachgedacht hatte, und biss sich auf die Zunge.

Doch Angmor wirkte weder zornig noch ungehalten. »Ja, ich fürchte deine jugendliche Unbesonnenheit, die dein Temperament in den ungünstigsten Situationen durchgehen lässt.«

Das beste Beispiel habe ich gerade gegeben, dachte Rowarn verlegen. »Ich verspreche Euch, besonnen zu sein, Herr Angmor, wenn ich weiß, worauf ich mich einstellen muss.«

»Merk dir vor allem eines: Verlass nicht den Weg, solange wir durch Farinvin reiten. Unter gar keinen Umständen, verstehst du? Was auch geschehen mag. Wenn es Schwierigkeiten gibt, warte, bis ich dir Anweisung gebe.«

Rowarn fühlte ein Kribbeln im Nacken. »Was erwartet uns denn in Farinvin?«

»Es ist ein Land des Scheins«,  antwortete der Visionenritter, »entstanden während des Krieges um Waldsee durch einen großen magischen Zusammenprall. Tote gehen dort um.«

»Und durch so ein Gebiet führt eine bedeutende Handelsstraße?«

»Es droht keine Gefahr, solange man auf der Straße bleibt. Wer als Händler durch Valia oder andere Länder Waldsees reist, durchquert selten sicheres Gebiet.«

»Außer in Ferlungar.«

»Selbst in diesem Wald gibt es Gebiete, die besser nicht betreten werden sollten. Deshalb führt die Handelsstraße an dieser Stelle hinaus und an anderer wieder hinein.«

Das Kribbeln wurde zu einem eiskalten Schauder. »Es gibt im Wald etwas, das als noch … gefährlicher erachtet wird als dieses … Farinvin?«

»Der Wald ist sehr, sehr alt, Rowarn. Die Mächte, die hier einst umgegangen sind und noch immer in Fragmenten existieren, lassen nicht mit sich spaßen.«

»Und Ihr, äh, kennt diese Mächte, Herr Angmor?«

»Ich hatte bisher keinen Grund, mich mit ihnen bekannt zu machen, und halte mich an die offiziellen Wege, die ähnlich wie eine Freie Straße als Friedenspfade gelten.«

Rowarn fühlte sich auf einmal sehr klein, schwach und fremd in dieser Welt. Und das im Land Valia, das gleich neben dem beschaulichen, von Bergen beschützten Inniu lag, wo er aufgewachsen war. Nichts verstehe ich von alldem, wie soll ich da ein Erbe übernehmen? Wie soll ich, wenn ich der Zwiegespaltene bin, das Tabernakel zusammenführen und zur Anwendung bringen können?



Damit verließen sie den Wald, und vor ihnen lag ein totes Gebiet. Eine Steinwüste, durch die ein einsamer Wind pfiff. Selbst die Flüsse schienen einen Bogen um Farinvin zu machen, denn Rowarn konnte nicht einmal ein ausgetrocknetes Bachbett entdecken. Als wäre alles, was hier jemals gegrünt und geblüht hatte, herausgestanzt worden, und zurück blieb nur der nackte Stein. Kein Geröll, keine Kiesel, sondern durchgehend glatter, fester Fels, wie unter gewaltiger Hitze zusammengebacken. Es gab nicht eine einzige Lücke oder Spalte, in der sich irgendeine Art von Leben festhalten konnte.

Gleichzeitig schien die Luft sehr viel schwerer zu sein, und die Sicht verschwamm, verschob sich auf eigenartige Weise. Der Himmel war düster, obwohl sogar die Wolken diesem Land auswichen und offenbar keinen Schatten über dieses Land werfen wollten. Sie zerteilten sich und fanden erst weit in der Ferne wieder zusammen.

»Grauenvoll«, stellte Rowarn erschüttert fest. »So etwas Lebloses habe ich noch nie gesehen. Als ob ein Fluch darüber läge ...«

»So ähnlich ist es auch«, bestätigte der Visionenritter. »Die Magie ist hier völlig außer Kontrolle geraten, hat alles zerstört, und strahlt noch immer aus. Es sind Fetzen von Energiefäden, die hier umherirren, Bruchstücke, die nicht mehr zusammenfinden. Man sagt, dass Teile aus der Weltenmelodie gerissen wurden, deren Klang zerbrach und hier immer noch nachhallt, verzerrt und all ihrer Harmonie beraubt. Das hat das Land, das vorher geblüht hat, vernichtet, möglicherweise für immer.«

»War das vor oder nach der Titanenschlacht?«

»Vorher. Aber niemand zog eine Lehre daraus, weil es nur ein sehr kleines Gebiet betraf, obwohl sich überall auf Waldsee solche verseuchte Landstriche finden lassen.«

»Falls das Land besiedelt war ... hat es also nicht mal die Götter gekümmert, was aus diesen Wesen wurde!?«

»Nein.«

»Das ist ... einfach nur entsetzlich.«

»Es herrschte Krieg, junger Ritter. Auch Götter sind der Zerstörung anheimgefallen.«

Rowarn starrte geradeaus. »Deshalb also wollen alle das Tabernakel«, flüsterte er. »Weil sie hoffen, dass es die Wunden der Vergangenheit heilen wird.«

»Das Tabernakel kann möglicherweise viel bewirken. In die eine oder andere Richtung«, erwiderte Angmor. »Die Aufgabe meines Ordens ist es, dafür zu sorgen, dass es seiner Bestimmung zugeführt wird.«

»Aber wie ...«

»... wollen wir wissen, wann es soweit ist? Das werden wir. So ist es wiederum uns bestimmt.« Nach diesen Worten hüllte der Visionenritter sich wieder in sein gewohntes Schweigen.

Rowarn war es nicht bange. Was konnte hier schon passieren, solange er auf dem Weg blieb? Niemand konnte sich ungesehen nähern, ein Hinterhalt war unmöglich. Magie einzusetzen war sicher keine gute Idee. Und Rowarn konnte den Waldrand, auf den die Straße zuführte, bereits erkennen. In weiter Ferne erblickte er weitere Straßen aus verschiedenen Richtungen, auf denen sich Reisende in den Wald hinein bewegten. Von der nördlichen Seite aus wurde Farinvin wohl, wenn überhaupt, nur kurz gestreift. Vermutlich war der bestmögliche Kompromiss, wenn das verfluchte Land schon nicht ganz gemieden werden konnte, es nur am Rande zu betreten.

Und Ferlungar wurde an dieser Stelle sogar wie ein Tabu behandelt. Rowarn entdeckte mit seinen scharfen Augen nicht einen einzigen schmalen Fußweg, Gebüsch und Bäume bildeten eine geschlossene Wand, mit abweisend nach außen gereckten Dornästen. Was mochte es hier geben, dass ein scheußliches Gebiet wie Farinvin als das kleinere Übel angesehen wurde?

Rowarn schätzte, dass sie trotz der Last von Tamrons Bahre den Wald um die zweite Mittagsstunde wieder erreichen würden. Dann wollte er den Pferden eine Rast gönnen. Windstürmer war nervös und schwitzte, seine kleinen Ohren waren in ständiger Bewegung, und er schnaubte und prustete misstrauisch. Seine feine Nase konnte die entfesselte Magie vermutlich in der Luft riechen; auch Rowarn hatte einen unangenehm metallischen Geschmack auf der Zunge. Es war dunstig, die Sonne halb verhüllt. Sie schien zu kraftlos, scharfe Schatten auf den Boden zu zeichnen. Rowarn sah nur matte, verwischte Konturen unter ihnen dahinirren. »Selbst Schatten meiden dieses Land!«, versuchte er einen Scherz zu machen, auch um wieder einen Laut in dieser geisterhaften Stille zu hören. Angmor saß schon seit einiger Zeit steif und reglos im Sattel, während Aschteufel gleichmäßig einen Huf vor den anderen setzte. »Es ist sehr unheimlich hier«, fügte er leise hinzu, als er keine Antwort erhielt. So zuversichtlich wie zuvor, die Strecke in kurzer Zeit bewältigen zu können, war er nicht mehr. Aber was konnte schon passieren? Der Weg war frei, nur Steinland ringsum, kein Leben weit und breit, abgesehen von den Reisenden am Horizont. Sollte sich ein Feind nähern, war er von weitem sichtbar, es gab keine Deckung. Es waren doch nur tote Steine, die sie umgaben, und die Luft von unangenehmem Beigeschmack durchsetzt, aber der Weg nicht weit, der Waldrand rückte, nachdem sie den Bogen hinter sich gebracht hatten, schon wieder näher. 

Warum aber war Windstürmer so nervös und schweißnass?

In diesem Augenblick scheute das brave Lastpferd, fing an zu tänzeln und am Strick zu reißen. Der Falbe ließ sich sofort davon anstecken, wieherte und wollte sich drehen.

»Halt!«, rief Rowarn und versuchte den Wallach zu bändigen, sonst hätten sie sich heillos verheddert. »Windstürmer, ruhig!« Er musste mit seinem Pferd kämpfen, was noch nie der Fall gewesen war, und verlor zusehends die Kontrolle darüber. Unmöglich, dachte er, das kann nicht sein!

»Bring die Pferde zur Ruhe!«, mahnte Angmor, der Aschteufel angehalten hatte, und drehte sich leicht im Sattel. »Ich kann dir nicht dabei helfen, Junge, also mach schnell!«

»Ich versuche es ja!«, gab Rowarn verzweifelt zurück. Windstürmer war nicht mehr zu halten, er drehte sich, halb steigend, auf der Hinterhand. Auch das Lastpferd wieherte und riss immer heftiger am Seil. Rowarn zückte das Messer, als er sah, wie der Strick sich um Windstürmers Vorderbein schlang, um das am Sattel verschnürte Packpferd loszuschneiden. »Ich weiß nicht, was mit ihnen los ist!«, keuchte er, während der Falbe zu buckeln anfing und ihn daran hinderte, das Seil zu erreichen.

»Es müssen die Toten sein«, antwortete der Visionenritter und bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Sie greifen uns an! Wir müssen so schnell wie möglich weiter.«

»Aber warum greifen sie ...«

»Ich hätte es wissen müssen. Es ist Tamron!«

Windstürmer stieß ein grelles Wiehern aus, als er merkte, dass sein Huf sich im Seil verfangen hatte, und stürmte blindlings los. Das sich heftig wehrende Packpferd wurde mitgezerrt, und Rowarn schoss mit den beiden Pferden an Aschteufel vorbei. Er griff in die Zügel, unternahm alles, sein Pferd zur Ruhe zu bringen, doch es war völlig panisch. So hatte Rowarn Windstürmer noch nie erlebt. Temperamentvoll, ja, auch einmal widerborstig. Aber ängstlich? Gar panisch? Niemals!

Mit einem scharfen Knall riss der Strick, das Lastpferd holte auf, und Kopf an Kopf rasten die beiden Pferde die Straße entlang. Rowarn sah, wie Tamrons Bahre ins Schlingern geriet und dann gefährlich hin- und hergeschwungen wurde. Er fluchte, schimpfte, riss an den Zügeln, doch Windstürmer rollte einfach den Kopf nach unten ein und galoppierte weiter.

Da riss die Befestigung von Tamrons Bahre, und er wurde seitlich davongeschleudert.

»Tamron!«, schrie Rowarn, und ohne weiter nachzudenken, ließ er sich im Galopp aus dem Sattel fallen. Das hatte er schon als Kind gelernt, ohne sich den Hals oder sämtliche Knochen zu brechen – eine der ersten Lektionen seiner Muhmen: Bevor du reiten lernst, lern fallen.

Es trieb ihm die Luft aus den Lungen, als er auf dem unnachgiebigen Stein aufprallte, obwohl er sich sofort abrollte und versuchte, mit dem Schwung wieder hochzukommen. Hilflos rollte er über die Straße, bis seine Hände sich endlich abstützen konnten. Hastig, ohne die Schmerzen durch den heftigen Ruck zu beachten, rappelte Rowarn sich auf. Aschteufel donnerte auf schweren Hufen heran, und Tamrons Bahre lag ein paar Schritte weiter am Rand der Straßenmarkierung, wie durch ein Wunder unversehrt, der bewusstlose Unsterbliche lag mit dem Gesicht nach oben.

»Ich hole die Bahre!«, rief Rowarn und rannte auf die Trage zu. »Fangt Ihr die Pferde ein, Herr!«

»Rowarn, nicht!«, schrie der Visionenritter, der fast heran war; er neigte sich im Sattel, als wolle er nach Rowarn greifen, aber in diesem Moment war der junge Mann schon über die Markierungslinie getreten.



Rowarn hatte Angmors Mahnung durchaus noch in Erinnerung, gerade deswegen hatte er Tamron ja so eilig wie möglich zurückholen wollen. Er hatte geplant, so schnell zu sein, dass niemand – Geist, Toter oder was auch immer – es mitbekommen würde. Er durfte keine Zeit verlieren. Schließlich konnte der immer noch blinde, geschwächte Visionenritter hierbei nicht helfen, sonst geriet er womöglich selbst in Gefahr. Rowarn hatte keine anderen Wahl. 

Doch dann verstand er, warum man den Weg nicht verlassen sollte.

Was er nun sah, war nicht mehr das tote Felsland, durch das sie seit über einer Stunde gezogen waren. Die Luft flirrte und waberte vor Hitze, die Sicht war noch verzerrter als vorher, und Rowarn sah ... Wesen. Kreaturen, ob lebend oder tot wusste er nicht zu sagen, die dieses Reich bevölkerten, und es gab auch eine Landschaft voll bizarrer, eckiger Bäume, nicht minder merkwürdiger Sträucher, und gezackter Grasbüschel. Die Wesen ähnelten nichts, was Rowarn je gesehen hatte, sie schienen willkürlich aus vielen Teilen, die nicht zueinander gehörten, zusammengesetzt. Manche waren so riesenhaft, dass ihre Beine die Bäume überragten. Einige Geflügelte hatten eine Spannweite von mehr als zwei Speerwürfen. Dann gab es Monstrositäten, die mit mächtigen Kieferwerkzeugen und Hauern tiefe Löcher in den Boden schlugen. Die Luft war erfüllt von unbeschreiblichem Lärm.

Rowarn schluckte. War dies Scíanshàn oder gar das zwergische Hráldfhárr, wo verfluchte und verlorene Seelen gefangengehalten wurden? Er sah Schemen zwischen den körperlosen und trotzdem so wirklich scheinenden Kreaturen umherwandern, und er hörte Klagen und Jammern über das infernalische Kreischen und Dröhnen hinweg. Und Rowarn spürte die Magie körperlich, in sich, wie glutflüssige Lava zog sie feurige Bahnen durch seinen Körper, rüttelte und zerrte an ihm.

Doch davon durfte er sich nicht beeindrucken lassen, er hatte eine Aufgabe zu bewältigen. Erschrocken sah Rowarn, dass sich die Aufmerksamkeit bereits auf den bewusstlosen Unsterblichen richtete, dass Geschöpfe von menschenähnlicher Form sich um ihn ringten, lange, dünne Greifklauen nach ihm ausstreckten und mit weit geblähten Nüstern witterten. Diese Wesen waren bleich, die Knochen zeichneten sich durch die dünne Haut ab; einige besaßen keine Augen, andere keinen Mund.

»Weg von ihm!«, schrie Rowarn und rannte auf Tamrons Bahre zu. Doch bevor er sie erreichte, sprang ihm ein hundeartiges Geschöpf mit überlangen Hinterbeinen in den Weg und öffnete drohend einen zähnestarrenden Rachen. Derweil packten drei der Geisterwesen die Bahre und schleppten sie mit sich fort.

Rowarn zog das Schwert und starrte das Hundewesen, das etwa so groß wie Aschteufel war, drohend an; sein Gebaren war mutiger, als er sich fühlte. Doch er konnte nicht mehr zurück. »Aus dem Weg!«, knurrte er die Kreatur an. »Oder du wirst es bereuen.«

Das Geistertier zeigte sich unbeeindruckt. Als Rowarn einfach weitergehen wollte, griff es ihn an. Der junge Ritter schlug sofort zu, doch sein Schwert traf nur Luft. Die Kreatur hingegen erwischte ihn voll mit der Pranke, und Rowarn wurde durch die Luft geschleudert und landete ächzend auf dem Rücken. Bevor er sich herumrollen konnte, war das Biest über ihm, presste die Schemenpfote auf seine Brust und drückte ihn schwer nieder. Rowarn schlug mit dem Schwert um sich, doch es traf auf keinen Widerstand. Am Rande bekam er mit, wie die anderen Wesen Tamrons Bahre immer tiefer in das verfluchte Land schleppten. Bald würde er sie nicht mehr finden können, bei all den wabernden Trugbildern rings um ihn würde er schnell die Orientierung verlieren.

Obwohl der Kiefer der Bestie nicht fassbar war, troff Speichel herab, als sie den Kopf auf Rowarn herabsenkte, um zuzubeißen.

Da griff Rowarn zu einer letzten verzweifelten List, wie ein Käfer, den ein neugieriges Kind auf den Rücken gedreht hatte – er stellte sich tot. Es gab eine Übung der Tiefen Ruhe, in der man den Herzschlag verlangsamen und den Atem für einige Zeit anhalten konnte. Rowarn hatte diese Übung schon mehrmals bei Streichen eingesetzt, wenn er Gefahr lief, entdeckt zu werden. Nicht zuletzt hatte er wegen der Waldtiere bei Madin, etwa einer Rotte Riesenschweine, gelernt, diesen Zustand innerhalb kürzester Zeit zu erreichen.

Augenblicklich erschlaffte Rowarn, zog sich in sich selbst zurück, verlangsamte den Herzschlag und hielt den Atem an. Lange konnte er das nicht durchhalten, weil es enorm an den Kräften zehrte, aber er wusste nicht, was er sonst tun konnte.

Doch es klappte. Die Kreatur biss nicht zu, sondern verharrte unruhig, schnüffelte an Rowarn herum, stieß ihn leicht an. Dann verlor sie das Interesse und trollte sich.

Rowarn kehrte augenblicklich ins Leben zurück, vor seinen Augen tanzten Sterne, als er aufsprang und die Diebe mit Tamrons Bahre verfolgte, die schon fast außer Sicht waren. »Anhalten!«, schrie er. »Dazu habt ihr kein Recht!« Er hörte, wie die gefoppte Bestie wütend aufheulte, sich herumwarf und ihm nachjagte. Doch die Sorge beflügelte seine Schritte, er rannte so schnell er konnte.

Die Diebe hielten tatsächlich inne und wandten sich dem jungen Ritter zu. Die Bestie hinter ihm kam auf ein Zeichen hin zum Stillstand und wartete auf weitere Befehle.

»Wass will ess?«, zischte eines der Geisterwesen.

»Was den Wech verlässt, chehört uns«, fügte ein anderes heiser hinzu.

»Das ist mein Freund«, erklärte Rowarn keuchend. Er steckte das ohnehin nutzlose Schwert ein. »Er braucht meine Hilfe, ich muss für ihn sorgen.«

»Err isst unssterrblich«, zischte das Erste. »Viel Lebenskrraft für unss, sspendet Sstofflichkeit. Ssiehsst du?« Es hielt seine lange, dürre Klaue an Tamrons Wange, und tatsächlich, von den Fingerspitzen her sah Rowarn, wie sich die geisterhafte Hülle verfestigte, undurchsichtig und stofflich wurde, fast wie warmes Fleisch.

Nun verstand er, was Angmor vorhin gemeint hatte. Wäre Tamron bei Bewusstsein gewesen, hätte er sich gewiss beim Durchqueren des Landes schützen können, aber bewusstlos war er den Geistkreaturen hilflos ausgeliefert. Sie hatten seine unsterbliche Lebenskraft gewittert und ihren Willen zusammengeballt, um ihn zu bekommen. Ihr Angriff hatte bis in die »normale Welt« des Weges Wellen geschlagen. Deswegen waren die Pferde, deren Sinne außerordentlich feinfühlig waren, durchgegangen.

»Er hat eine Aufgabe in der Welt der Lebenden zu erfüllen«, erwiderte Rowarn. »Ihr könnt ihn nicht behalten. Ich nehme ihn mit mir zurück.«

Das dritte Geisterwesen lachte hohl. »Wiiie wiiillst du das tun? Wir werden auch von deinem freiwilligen Opfer zehren, nur Geduld.«

Rowarn hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Aber das durfte er sich nicht anmerken lassen. In drohender Haltung ging er auf die diffus hin und her wallenden Schemen zu. »Ihr habt keine Ahnung, mit wem ihr euch anlegt«, sagte er scharf. »Ihr fühlt euch sicher, weil ihr nicht stofflich seid, aber ich kann mich euch anpassen. Ich brauche nur bis zur Dämmerung zu warten, und dann tauche ich ins Zwielicht ein. Dann bekommt ihr mich nicht mehr zu fassen, aber ich sehr wohl euch!«

»Dann zehren wir eben zuerst von dir, jetzt gleich, jetzt gleich«, kicherte die kleinere Geistkreatur, und sie wandten sich alle drei Rowarn zu.

Er versuchte zurückzuweichen, aber es gelang ihm nicht mehr. Augenblicklich fingen sie an, seine Lebenskraft abzusaugen. Er spürte, wie die naurakische Hälfte in ihm sofort schwächer wurde, wohingegen die dämonische in Aufruhr geriet. In Wellen trat die dämonische Kraft aus ihm heraus, schlug den Kreaturen entgegen und bildete eine schimmernde Aura um Rowarn. Daraufhin hielten sie inne, und er merkte, wie der Sog nachließ. 

»Dämonenblut«, fauchte das zweite Geisterwesen und spie einen sich windenden Wurm aus. »Unappetitlich.«

»Unverdaulich«, stimmte die dritte Kreatur zu.

»Aberr nurr die Hälfte«, wandte die erste Kreatur ein.

Mutig setzte Rowarn Fuß vor Fuß, während die Drei sich uneins waren, bis er Tamrons Bahre erreichte, und stellte sich vor sie.

Noch immer zögerten die Geisterwesen und schwankten unruhig hin und her. Rowarn merkte, wie ihn immer mehr die Kräfte verließen. Dieses Reich war wie Gift, er hatte hier nichts verloren. Er packte mit beiden Händen zu und zerrte Tamrons Bahre mit sich, oder versuchte es vielmehr. Sie war viel zu schwer, mehr als einen halben Schritt konnte er sie nicht bewegen, dann musste er Pause machen.

Die Geisterwesen beobachteten ihn lauernd und mit wachsendem Interesse. Wie eine Katze die ahnungslose Maus, um das Vergnügen hinauszuzögern.

Da hörte Rowarn eine ferne Stimme, die nach ihm rief. Er kannte diese Stimme, sie hatte ihn schon einmal vom Pfad des Todes zurückgeholt, und er war unendlich erleichtert, sie zu hören. Wer die Donnervögel befehligte, den konnte auch ein Todesreich wie Farinvin nicht aufhalten.

»Ich bin hier!«, schrie er. »Ich habe Tamron!«

Nur einen Atemzug später flog etwas durch die Luft heran, an dem ein Seil hing. Ein Speer. Angmor musste ihn mit aller Kraft geworfen haben, dem Klang von Rowarns Stimme nach und darauf vertrauend, dass er rechtzeitig ausweichen konnte. Dicht neben Rowarns Füßen bohrte der Speer sich zitternd in den Boden, und der junge Mann band in fliegender Hast das Seil los und befestigte es an Tamrons Bahre. Dann stellte er sich neben die Bahre, hielt sich daran fest und rief: »Los!«

Er glaubte, ein fernes Wiehern zu hören, und dann ging ein scharfer Ruck durch die Bahre und hätte Rowarn beinahe umgerissen. Er musste die Beine in die Hand nehmen, um mithalten zu können, als der Unsterbliche davongezerrt wurde. Die Geisterwesen heulten vor Wut, doch Rowarn konnte jetzt spüren, wie sich eine fremde Aura um ihn und Tamron legte, die sie beide schützte. Sie war vertraut, ganz ähnlich wie die Halrid Falkons. Vielleicht nicht ganz so mächtig, aber sie reichte aus, um die Toten von Farinvin aufzuhalten.

Keuchend, nach Luft ringend, stolperte Rowarn kurz darauf zurück in die vertraute Welt und landete unsanft auf dem Hintern, als der Zug plötzlich weg war und alles zum Stillstand kam.

Einige Momente lang konnte er nur dasitzen und laut keuchen, während der Visionenritter die Bahre an dem Packpferd befestigte, den Strick des Pferdes wiederum an Windstürmer, und sich dann Rowarn zuwandte. Nicht weit entfernt saß Graum mit gesträubtem Fell und starrte über das Land.

Rowarn machte sich auf wütende Vorwürfe gefasst, und er würde alles schweigend und dankbar hinnehmen. Er war viel zu erschöpft und ihm tat alles viel zu sehr weh, um noch die Kraft zur Rechtfertigung aufzubringen.

Erschrocken fuhr er zusammen, als Angmor, anstatt zu reden, die Hände nach ihm ausstreckte. Bevor der junge Mann ausweichen konnte, hatte der Visionenritter ihn gepackt, mühelos hochgehoben und wortlos auf Windstürmer gesetzt. Wie ein Kind! Dann tastete Angmor sich zu Aschteufel, der ganz ruhig dastand, und stieg auf. Mit Windstürmers Zügeln in der Hand, ließ er den schwarzgrauen Hengst vorangehen.

Rowarn hörte, wie Tamrons Bahre mitgeschleift wurde, an der Seite ging Graum. Er fühlte sich ganz klein im Sattel, genau wie das Kind, als das er behandelt worden war, und wagte nicht, sich zu rühren oder laut zu atmen.

»Es wird Zeit, dass wir Farnheim erreichen«, sagte Angmor schließlich. 

»Ja, Herr«, murmelte Rowarn.



Noch eine Stunde ritten sie durch das tote Geisterland, bis sie den Rand des Waldes erreicht hatten, ohne behelligt zu werden. Sie hatten kein Wort mehr über das Abenteuer in Farinvin verloren, und Rowarn hatte sich dazu entschlossen, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Es gab auch nichts mehr dazu zu sagen. 

Auf der gut ausgebauten Handelsstraße kamen sie jetzt schnell voran. Graum lief die ganze Zeit abseits zwischen den Bäumen, denn sein Anblick auf der Straße hätte nicht nur die Pferde und Ochsen, sondern auch die Reisenden scheu gemacht. Rowarn erhaschte nur selten einmal einen Blick auf ihn; das Fell des Schattenluchses verschmolz perfekt mit den Lichtspielen des Waldes.

Auch ohne Graum waren sie allerdings aufsehenerregend, doch die anderen Reisenden versuchten, es sich nicht anmerken zu lassen. Die wenigsten von ihnen mochten von einem Visionenritter gehört haben, und der große, schwere Mann in voller Rüstung mit Widderhelm, der auf dem mächtigen schwarzgrauen Ross einherritt, bot gewiss Anlass, im nächsten Gasthaus einzukehren und eine tolle Geschichte zu erzählen. Vor allem, weil er in Begleitung eines heruntergekommenen Jünglings in Fetzen war, der einen Leblosen auf einer Bahre mit sich führte. 

Rowarn hätte sich gern darüber amüsiert, aber er schämte sich zu sehr über den Anblick, den er bot. Nichts von einem stolzen Ritter von Ardig Hall war mehr an ihm, alles war verloren, sogar das Wappenhemd und die Rückenfahne. Wahrscheinlich hätte er selbst für jemanden, der ihm so entgegenkam, auch nur mitleidige Blicke übrig gehabt. Nicht nur die Kleidung war schäbig; seine Haare waren struppig, er war abgemagert, und sein Körper war übersät mit Blutergüssen, Rissen und kaum verheilten Kampfwunden. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht, wenn er jungen Frauen begegnete, doch leider herrschte kein Zwielicht, und so konnte er nur eine stolze Haltung annehmen und mit ernstem Gesichtsausdruck starr geradeaus blicken. Und so tun, als ob er das Getuschel und Gekicher nicht hörte, und erst recht nicht Bemerkungen wie »na, der finstere Ritter hält seinen Knappen aber sehr kurz«, »so also sieht ein echter Prügelknabe aus«, und dergleichen, sobald sie sich außer Hörweite wähnten.

Angmor merkte von den Nöten des jungen Ritters natürlich nichts. Wahrscheinlich war er sowieso nie jung gewesen. Ob Rowarn je erfahren würde, wer unter der Maske steckte? Vermutlich nicht. Ich weiß zwar auch nichts über Noïrun, aber der trägt keine Maske und ist ... na ja, ein Mensch. Zugänglicher, trotz seiner strengen Art. Und er ist natürlich auch viel jünger. Wie alt Angmor wohl ist? Älter als meine Muhmen? Ich glaube schon. Irgendetwas ist an ihm, in seiner Ausstrahlung, das anders ist als bei den Velerii. Als ob er Dinge gesehen hätte, die ...

Er unterbrach sich. Das führte Rowarns Gedanken in eine Richtung, die er nicht wollte. Schon fühlte er etwas in sein Gehirn einsickern, dem er verboten hatte, sich ihm jemals wieder zu nähern. Rasch gebot er seinem Sinnieren Einhalt.

Doch es war schon zu spät.

Du bist nicht frei, kicherte eine ferne Stimme boshaft in ihm. Du wirst nie frei sein. Ich werde dich wiederfinden, und dann gehörst du für immer mir.



Am Nachmittag erreichten sie die Abzweigung, und Rowarn bog ab, wie Mimi es ihm beschrieben hatte. Sie waren die ganze Zeit ohne Pause geritten, und in all den Stunden fiel kaum ein Wort zwischen ihnen. Angmor gab sich wortkarg wie immer, und Rowarn hing eigenen Gedanken nach.

Der Weg wurde schmaler, der Wald hingegen änderte sich kaum. Es war schön hier, und doch auf Dauer eintönig. Rowarn sehnte sich nach Weite und freiem Himmel, auch wenn es um ihn her lärmte und zwitscherte und viele Tiere sich ohne Scheu am helllichten Tag zeigten. Die wenigsten kannte Rowarn beim Namen, und er staunte nur so, welche Vielfalt es gab, allein an Hirschen. Hinzu kamen noch wilde Waldpferde, mit kleinen, gedrungenen Körpern, kurzer Stehmähne und Streifen im Fell, und mächtige Büffel; außerdem Baumbewohner und Vögel, so viele Sänger, farbenprächtige Flatterer, manche kaum größer als ein Schmetterling. 

Sie kreuzten Bäche und Furten, kamen an verwunschenen Seen vorbei, von denen oft lockende Gesänge klangen, und ab und zu sah Rowarn auch eine Hütte im Wald, aus deren Schornstein Rauch aufstieg.

»Wir sind bald da«, sagte Angmor plötzlich. Er schien seine Sehfähigkeit zurückerlangt zu haben, denn er drehte den Kopf. »Eine Nacht noch am Lagerfeuer, dann warten weiche Betten auf uns und gutes Essen. Und Erholung.« 

Rowarn konnte sich täuschen, aber er glaubte, Vorfreude herauszuhören. Der Visionenritter hatte recht. Genug war genug, jetzt brauchten sie eine Pause. Und mit Tamron konnte es nicht mehr so weitergehen.

Vor der Dämmerung bogen sie vom Weg ab und steuerten eine winzige Lichtung an, auf der Graum bereits mit einem frisch geschlagenen Kitz wartete. Rowarn baute das Lager auf, fachte das Feuer an und holte Wasser aus dem nahegelegenen Tümpel. Angmor versorgte derweil die Pferde, die allesamt, einschließlich Aschteufel, müde waren und zufrieden schnauften, als der Sattel vom Rücken und die Zäumung aus dem Maul genommen wurde. Sie wälzten sich an Ort und Stelle, soffen aus dem Tümpel und machten sich dann ans Grasen und Blattzupfen.

Rowarn hielt es schließlich nicht mehr aus. Die Frage brannte schon seit der Abreise von Grinvald in ihm. »Herr ... als Gríadan und Ihr in die Zukunft geblickt habt – habt ihr da Nachtfeuer gesehen?«

»Wir haben hauptsächlich in die Gegenwart gesehen, Rowarn«, antwortete der Visionenritter.

»Verzeiht, aber das ist keine Antwort auf meine Frage.«

»Also gut. Ja, du wirst ihm begegnen.«

Rowarns Herz fing an zu rasen. Sogleich brannten hundert Fragen mehr auf seiner Zunge, aber er hielt sich zurück. Er wusste, dass Angmor ihm nicht mehr sagen würde. Sei es, dass er es nicht wusste, oder weil er nicht wollte. Aber immerhin, Rowarn würde seinem Va... seiner Rache begegnen. Tracharh hatte also Unsinn geredet, er hatte keine Ahnung, wo sich sein Herr aufhielt. Zumindest in absehbarer Zukunft würde Nachtfeuer sich in Valia befinden, nicht im Dämonenland. Aber woher sollte der Taur das auch wissen, er zog ja mit Femris’ Heer und war nicht immer über alles informiert. Nachtfeuer konnte längst auf Burg Dubhan weilen, vielleicht hatte er auch Femris geholfen, das Bewusstsein wiederzuerlangen.

Der Schattenluchs kam zu Rowarn und schmiegte sich schnurrend an ihn. Heute wollte er offensichtlich nicht bei seinem Herrn liegen, warum auch immer. Rowarn war zuerst ein wenig verlegen, aber dann dachte er sich, dass es nicht sein Problem war. Katzen entschieden immer selbst, ohne sich beeinflussen zu lassen. Und dem Visionenritter schien ohnehin das meiste gleichgültig zu sein, was um ihn herum geschah, wenn es nicht gerade um Kampf und Verteidigung ging.

Rowarn aß allein, wie stets, aber er wusste immerhin, dass Angmor auch etwas zu sich nahm, denn er verschwand für eine Weile mit seinem gefüllten Teller. Selbst Visionenritter mussten also ab und zu etwas essen.

Manchmal dachte Rowarn an Gaddo und Moneg. Wo mochten sie jetzt sein – vorausgesetzt, sie waren Heriodons Häschern entkommen, und Moneg hatte die schwere Verletzung überlebt? Würde Gaddos größter Wunsch, geliebt zu werden, eines Tages in Erfüllung gehen?  Es war seltsam, aber je länger diese Ereignisse zurücklagen, desto geringer wurde Rowarns Hass auf den Verräter. Irgendetwas wenigstens annähernd Achtbares musste Moneg doch in sich haben, wenn er von einem anderen bis zur Selbstaufgabe angebetet wurde. Wer weiß, vielleicht war er nicht immer so ein selbstsüchtiger, gewalttätiger Mensch gewesen. Genau wie bei Gaddo war auch Monegs Geist, sein Wille schwach. Er konnte viel durchgemacht haben, bevor er sich zum Dienst für Ardig Hall meldete. Gaddo hatte gesagt, dass Moneg sich von allen verraten fühlte und deshalb selbst zum Verräter wurde.

Was würde aus mir werden, wenn ich Heriodon für lange Zeit ausgeliefert wäre?, dachte Rowarn. Würde er mich brechen, um mich dann neu zu formen, nach seinem Willen? Gäbe es einen anderen, der mich für diese Schwäche verachten würde?

»Hör auf, an Heriodon zu denken«, unterbrach Angmors strenge Stimme seine Gedanken. »So verschaffst du ihm Zutritt.« Der Visionenritter kam genau in diesem Moment zurück und ließ sich am Feuer nieder. 

Dunkelheit senkte sich gleichzeitig über den Wald herab, und es wurde still um sie.

Rowarn blickte ihn verstört an. Also achtete er doch auf alles! »Woher wisst Ihr ...«

»Dein Gesichtsausdruck, Junge. Nackte Angst.« Angmor schien nach Graum greifen zu wollen, doch der Schattenluchs entzog sich ihm und rückte noch enger an Rowarn.

Dem trat der Schweiß auf die Stirn. »Er beherrscht mich also immer noch ...«, krächzte der junge Ritter.

»So schnell kann man das nicht abschütteln. Heriodon ist ein mächtiger Mann. Er vereint die Lebenskraft der Menschen, die Essenz der Dämonen und den eisernen Willen der Warinen in sich. Er besitzt eine ungewöhnliche Gabe, die es hoffentlich nur einmal gibt, und er versteht es, sie anzuwenden. Du bist um Jahrzehnte jünger als er, unerfahren und ... unbedarft. Trotz des Krieges immer noch voller Unschuld. Natürlich kannst du ihm nicht viel entgegensetzen.« Angmor stocherte in der Glut. »Aber du bist stärker als er, Rowarn. Und mächtiger. Schon jetzt in deiner Jugend. Vertrau darauf.«

»Es tut mir leid, wenn ich Euch enttäusche.«

»Mich enttäuschen? Wie solltest du?« Angmor hielt inne und wandte sich Rowarn zu. Dann sagte er langsam: »Hör zu, Junge. Der Krieg hat uns zusammengebracht. Wir sind Schicksalsgefährten. Da ich Ardig Hall gegenüber mit einem Eid verpflichtet bin, muss ich auf dich als Ylwas Sohn achten und dich in Sicherheit nach Farnheim bringen. Aber das ist alles, was zwischen uns besteht.«

»Ich dachte ...«

»Dass wir Freunde sein können? So wie du und Tamron? Nein.«

Es klang so hart und endgültig, dass Rowarn unwillkürlich schlucken musste. Dennoch gab er nicht so leicht auf. »Warum versagt Ihr Euch Freundschaft, Herr Angmor?«

»Ich bin ein Einzelgänger«, antwortete Angmor ruhig. »Graum und Aschteufel sind die Einzigen, die ich aus verschiedenen Gründen in meiner Nähe dulde.«

»Dann hätte ich Euch auf dem Schlachtfeld liegen lassen sollen?«, fragte Rowarn herausfordernd.

»Das musst du wissen, nicht ich. Es war deine Entscheidung.«

»Hättet Ihr es an meiner Stelle getan?«

»Du willst wissen, ob ich Mitgefühl kenne? Oder gar empfinde? Nein, das tue ich nicht. Und den meisten Lebewesen stehe ich absolut gleichgültig gegenüber.« Angmors Stimme klang unbeteiligt, ohne jegliche Gefühlsregung. 

Rowarn konnte spüren, dass er nichts unterdrückte. Der Visionenritter sprach schlicht die Wahrheit. Zumindest, was »die meisten Lebewesen« betraf. »Ich bin Euch aber nicht gleichgültig.«

»Das habe ich nie behauptet.«

»Und Ihr habt meine Frage schon wieder nicht beantwortet.«

»Also gut. Dieses eine Mal noch.« Der Visionenritter wirkte nun deutlich ungehalten, aber immerhin zeigte er sich weiterhin gesprächsbereit. »Nein, ich hätte dich nicht liegen gelassen. Man lässt niemanden auf dem Schlachtfeld zurück. Genauso, wie wir gemeinsam von Sternfall geflohen sind und nun mit Tamron nach Farnheim reisen. Ich achte dich, Rowarn von Weideling, und ich halte dich für ein großes Talent. Deine besondere Seele leuchtet aus dir. Du hast ein schweres Los, aber genau wie jeder andere wirst du es tragen. Du bist dabei nicht allein, du hast Freunde und Förderer, die für dich da sind. Aber ich werde keiner von ihnen sein. Du bist nicht mein Schüler, und ich bin nicht dein Lehrmeister. Verstanden?«

»Ihr habt mich schon viel gelehrt«, sagte Rowarn leise.

»Das bleibt nicht aus, wenn man älter wird«, erwiderte Angmor. »Man gefällt sich in weisen Sprüchen. Ich habe dir Ratschläge erteilt, weil du mich irgendwie immer wieder dazu verleitest. Aber das wird nicht zur Gewohnheit.«

Rowarn schwieg verletzt.

»Sieh mich an, Junge«, sagte Angmor nach einer Weile deutlich sanfter. Er hob leicht die behandschuhten Hände. »Du weißt nicht, wer ich bin. Du kannst mein Gesicht nicht sehen, weder in meinen Augen noch in meiner Miene lesen. Alles, was du siehst, ist ein Mann in einer Rüstung und mit einer Maske. Du kennst nicht einmal meine Vergangenheit, bevor ich dem Orden beitrat. Als Visionenritter bin ich nur ein Begriff, kaum mehr als ein Name. Du hast keine Vorstellung davon, was ich denke und fühle, und was ich in meinem langen Leben getan habe.« Er machte eine kurze Pause und wandte den Kopf ab, wohl um den Blick in weite Ferne zu richten. Dann schloss er: »Meine Sonne nähert sich dem Untergang. Deine geht gerade erst auf.«

Rowarn schmollte eine Weile. Er hatte fast erwartet, dass Angmor aufstehen und gehen würde, aber der Verhüllte blieb sitzen, die Gesichtsmaske dem Feuer zugewendet. Seine Haltung war völlig entspannt. Wahrscheinlich hatte er die Unterhaltung, sogar Rowarns Anwesenheit, bereits vergessen, und sein Geist weilte in Sphären, die für den jungen Mann unerreichbar waren.

Graum hingegen war bei ihm und verlangte laut schnurrend nach Streicheleinheiten. Er drückte sich an Rowarns Bein und streckte sich lang aus. Als Rowarn ihn traurig streichelte, drehte er sich wohlig auf den Rücken und gähnte. Vorsichtig legte er eine große Samtpranke auf Rowarns Arm. Sein Brust- und Bauchfell war unglaublich weich und seidig und lud dazu ein, sanft mit den Fingern hindurchzugleiten. 

Rowarn fühlte sich durch die deutliche Zuneigung des Tieres getröstet. Vielleicht verlangte er ja wirklich zu viel. Und war zu neugierig. Er sollte am besten einfach den Mund halten und sich nicht mehr um Angmor kümmern. Akzeptieren, dass sie nur Weggefährten waren, aber nicht mehr.

Dann platzte doch noch etwas aus ihm heraus. »Empfindet Ihr denn überhaupt irgendetwas?«

Angmor lachte daraufhin leise und tief. »Hass und Liebe, unschuldiges Kind, und das voller Leidenschaft. Tot bin ich noch lange nicht.«

Damit gab sich der junge Ritter endlich zufrieden.



Sie brachen nach einer ruhigen Nacht bereits in der Morgendämmerung auf. Angmor schien es jetzt eilig zu haben, und Rowarn war das nur recht. Der Visionenritter kehrte allerdings nicht zur Straße zurück, sondern nahm einen Waldtierpfad, eine Abkürzung, wie er behauptete. Wahrscheinlich aber wollte er niemandem begegnen und seine Ankunft nicht vorzeitig ankündigen. Es war auch möglich, dass Angmor doch einen Angriff befürchtete und sich erst aus sicherer Deckung überzeugen wollte, ob alles in Ordnung war. Aber nach der deutlichen Abfuhr gestern Abend hatte Rowarn nicht mehr die Absicht, Fragen zu stellen oder eine neue Debatte anzuzetteln. Er war zudem immer noch gekränkt.

Das Wetter hielt sich. Der Spätsommer schob den Herbst noch ein Stück hinaus, es konnte ein weiterer milder Mondwechsel vor ihnen liegen. Je nachdem, wie weit sie vom Norden entfernt waren, mochte es hier ohnehin nicht so strenge Winter geben. 

Rowarn schaute ab und zu nach Graum, der beschwingt neben ihm lief, die Ohren in ständiger Bewegung. Der Schattenluchs wirkte seltsam fröhlich und erwartungsvoll – und er hielt sich immer noch von seinem Herrn fern. Was wohl vorgefallen war? Angmor achtete jedenfalls nicht auf ihn, und er hatte heute früh auch nicht auf Aschteufels morgendlichen Anfall schlechter Laune reagiert. Bevor der Hengst so richtig die Ohren anlegen und die Zähne blecken konnte, war der Sattel mit Wucht auf seinem breiten Rücken gelandet, und das Gebiss steckte im Maul. Der Schwarzgraue war so verdutzt, dass er sich nicht mehr rührte, als der Visionenritter den Bauchgurt mit einem kurzen, aber heftigen Ruck anzog und sich auf seinen Rücken schwang.

Rowarn hielt sich hinter dem schweigsamen Maskierten. Der Weg war zu schmal, aber er wollte ohnehin nicht neben ihm herreiten. Der Visionenritter wirkte heute finsterer und abweisender denn je, und der junge Nauraka wollte sich davon nicht anstecken lassen. Wer weiß, welche Gedanken und Pläne der ältere Mann wälzte und ausbrütete. Nun ja, vielleicht hatte er auch Schmerzen, und seine Augen machten ihm wieder zu schaffen. Aber wenn er nicht darüber sprach und jegliche Freundschaft ablehnte, musste er eben allein damit fertig werden.

Der Tag war viel zu schön, um die Dunkelheit der Seele herauszulassen. Farnheim war nicht mehr fern, und Rowarn war schon sehr gespannt darauf. Er blieb auf Abstand und lauschte vergnügt den vielfältigen Vogelstimmen, ohne besondere Gedanken oder Vorstellungen. Die Tiere dieses Waldes waren überhaupt nicht scheu, das gab es nicht einmal rund um Weideling. Rowarn hatte das Gefühl, als wäre Lúvenors Atem immer noch zu spüren, der Abdruck seiner Füße sichtbar und warm. So sicher und behütet hatte der junge Nauraka sich zuletzt als Kind gefühlt.

Wenigstens so lange, wie sein Blick nicht nach vorne auf die beiden finsteren Gestalten schweifte, den großen Mann auf dem schweren Hengst, die nur Dunkelheit um sich zu verbreiten schienen. Die Distanz zwischen ihnen schien sich immer mehr zu vergrößern.

Rowarn achtete nicht darauf. Er gab Windstürmer die Zügel frei, der schnurstracks hinter Aschteufel herzockelte, und träumte ausgeglichen für sich, versunken in Kindheitserinnerungen. 

Sein Pferd war es zufrieden. Der kleine Falbe erholte sich zusehends, sein struppiges Fell glättete sich und nahm bereits einen leichten Glanz an, und der Bauch war trotz der anstrengenden Reise wohlgerundet. Auch die Augen zeigten wieder das feurige Funkeln und lebhafte Anteilnahme. Er fing sogar an, ein wenig mit Graum zu spielen, prustete ihn an und trat betont schwungvoll mit dem rechten Vorderhuf aus. Der Schattenluchs ging darauf ein, und beinahe hätten sie alles um sich herum vergessen und wären springend und buckelnd davongestürmt, wenn Rowarn nach dem ersten Satz, der ihn beinahe aus dem Sattel gehoben hätte, nicht rechtzeitig in die Zügel gegriffen hätte. Tamrons Trage wäre das ziemlich abträglich gewesen, sie hielt ohnehin nur noch mit gutem Willen zusammen. Für den Unsterblichen war es an der Zeit, dass sie das Ziel erreichten.

Und da, als hätten sie ein Einsehen, wichen plötzlich die Bäume zurück. Hinaus ging es aufs Freiland, und Rowarn erkannte, dass sie auf einer Anhöhe herauskamen. Er atmete tief ein, als er endlich wieder freien Himmel über sich sah, über den vereinzelte Wolken ruhig dahinzogen. Es wurde gleich wärmer im hellen Sonnenschein. Am liebsten wäre Rowarn mit Windstürmer den Hügel hinabgaloppiert, über die ausgedehnten Wiesen hinweggefegt, um dann irgendwo in einen Teich zu springen und den Rest des Tages faulenzend unter einem Baum zu verbringen, von dem ab und zu Äpfel herabfielen.

Der kleine Falbe schien ganz ähnlich zu denken, denn auf einmal wurde er unruhig, fing an, auf der Stelle zu trippeln, und spannte die Muskeln unter dem Sattel an. Rowarn musste die Zügel stärker annehmen, um ihn zur Vernunft zu bringen, und streichelte sanft seinen Hals. »Ein andermal«, wisperte er. »Wir holen es nach, mein Kleiner, versprochen, aber denk dran, dass wir immer noch Tamron schützen müssen.«

Seufzend gab Windstürmer nach und warf seinem Herrn einen unglücklichen, aber folgsamen Blick zu.

Der Visionenritter hielt Aschteufel am Rand des Hügels an, und Rowarn schloss zu ihm auf.

Angmor deutete vor sich und sprach das erste Wort an diesem Tag: »Farnheim.«

Staunend blickte Rowarn nach unten.



Ein grünes Tal breitete sich unter ihm aus, ein weites Land inmitten des Waldes, im großen Umkreis gesäumt von alten Baumriesen, die auf der östlichen Seite, wo sie näher an Farnheim standen, wie Wächter schützend die Wipfel darüberhielten. Das Auffallendste aber waren die unzähligen Farngewächse, die überall sprossen, auf den Wiesen und im Wald; von Bodenbedeckern bis zu riesigen Baumfarnen war alles im dichten Bewuchs zu finden. Teils waren sie sehr fein gefiedert, teils kräftig im Blatt, und die Farbe reichte von zartem Grün bis zu tiefem Violett.

Ein großes, mehrstöckiges Gebäude aus Fachwerk zog Rowarns Blicke besonders auf sich. Noch nie hatte er so etwas in dieser Größe und Schönheit gesehen. In Ennishgar hatte es verkleinerte Ausgaben davon gegeben, doch dieses Haus, so allein stehend, war imposant. Nach vorne ragten vier Ständersäulen aus dunkel glänzendem Holz über das eigentliche Gebäude hinaus und bildeten, durch Rundbögen miteinander verbunden, ein schützendes Dach über dem Eingang. Links und rechts an der Mauer entlang standen Tische und Bänke auf einer mit Holzplanken ausgelegten, breiten Veranda. Zur Südseite hin reihten sich Sitz- und Essgelegenheiten bis ins Grüne hinein, aus dem Schatten des mächtigen Hauses hinaus. 

Die Zwischenräume des tragenden Holzskeletts waren mit weiß gekalktem Lehm verfugt. Das tief herausragende Dach war steil und nach oben spitz zulaufend. Bis fast unter den Giebel fanden sich Fenster mit hellen Holzkreuzen und grünlichem Glas. Vor jedem der vielen Fenster waren fein geschnitzte Kästen angebracht, mit Farnen und leuchtend buntem Blumenschmuck darin.

»Das ist das Haus Farnheim«, erklärte Angmor. »Das Gasthaus, in dem auch gewöhnliche Reisende übernachten können – und wo die leichten Krankheitsfälle untergebracht werden, die hauptsächlich Erholung benötigen. Auch die Herrin Arlyn hat darin ihre Räume.«

Das Gelände rings um das Haus Farnheim war wie ein Park angelegt, mit vielen schmalen Wandelwegen und Bänken, bis zum Waldrand. Die Wege waren unregelmäßig und verzweigten sich vielfach, führten an Blumenbeeten und kleinen verschlungenen Gewächsen vorbei. Es gab Brückchen über schmale, sanft murmelnde Kiesbäche, winzige, mit Schilf und hohem Gras bewachsene Teiche mit Pavillons, wo man gerade zu zweit Platz fand, und natürlich viele, viele Farne.

Richtung Norden fanden sich in wenigen Abständen viele kleine Gebäude, weiß und rund wie Pilze, mit braunen Reetdächern wie Pilzkappen. Rowarn sah zwischen ihnen Gestalten umhergehen, die allesamt weiße Gewänder mit grünen Gürteln trugen, an denen kleine Beutel und Arbeitsgegenstände hingen. Einen größeren Beutel trugen sie über der Schulter. »Die Häuser der Heilung«, führte Angmor weiter aus. »Hier werden Kranke und Verletzte untergebracht und versorgt.«

Hinter den Häusern der Heilung führte ein Karrenweg weiter Richtung Nordosten, und am Ende, wo der Wald eine Biegung machte, lag ein großer, dampfender See, blinkend in der Sonne. Am Waldrand erhob sich eine riesige Steilwand, als ob sie aus ihm herauswachsen würde, von der in Kaskaden herab und über Basaltsäulen Wasser strömte und sich in vielen verschiedenen Becken auf mehreren Ebenen sammelte, bevor es weiter hinab in den See floss. In den Becken vergnügten sich Badende, Rowarns scharfe Augen konnten eine Menge bewegter Punkte erkennen. »Das Wasser dampft«, bemerkte er.

»Ja«, bestätigte Angmor. »Es sind heiße Heilquellen, die den See speisen. Du wirst das Wasser bald so sehr schätzen lernen, dass du es wahrscheinlich kaum mehr verlassen willst.«

Rowarns Herz klopfte aufgeregt. Mit Ausnahme von Weideling hatte er noch nie einen schöneren Ort gesehen. Es wirkte alles so ... friedlich und still für sich, eine ganz eigene Welt.

Auf der südwestlichen Seite von Farnheim lagen viele unterschiedliche Gebäude, die einen Marktflecken bildeten. Der Visionenritter erläuterte: »Hier wohnen Gesinde und Heiler mit ihren Familien, aber auch Handwerker, Schmied, Bauern und Händler. Der Markt ist gewachsen seit meinem letzten Besuch …«

Westlich davon, bis zu den Ausläufern der anderen Waldseite, zogen sich von Süden nach Norden Felder, Obstbäume, Gemüse- und Kräutergärten und ausgedehnte Weiden mit Ställen für Vieh und Pferde. Hier würde sich auch Windstürmer nach Herzenslust austoben und erholen können. Viele Straßen und Karrenwege führten von dem Marktflecken in den westlichen Wald hinein; Rowarn vermutete, zu den Abzweigungen der Haupthandelsstraße durch Ferlungar. An den Grenzen verliefen einige Bachläufe, an denen Mühlen standen.

»Eine Welt für sich, die sich selbst versorgt«, staunte Rowarn.

»Arlyn hat etwas Großartiges geschaffen«, sagte Angmor, und Rowarn glaubte, sich verhört zu haben – schwang da etwa Stolz mit? In welcher Beziehung stand der Visionenritter zu der vielbesungenen Herrin? Gab es etwa doch jemanden, dem er Gefühle entgegenbrachte? »Sie versteht ihr Geschäft, das muss man ihr lassen. Ich glaube, sie ist die reichste Frau von Valia. Wahrscheinlich kam nicht einmal der frühere Reichtum von Ardig Hall dem nahe.«

»Ist sie eine Zwergin?« Diese galten schließlich als die besten Geschäftsfrauen von allen Völkern; sie verwalteten auch den familiären Besitz.

»Du wirst sie bald sehen, dann wirst du es wissen«, antwortete der Visionenritter vage, und Rowarn biss sich wieder einmal auf die Unterlippe. Auf seiner Stirn zeigte sich kurzzeitig eine Zornesfalte. Allmählich war er froh, dass die Reise sich dem Ende näherte.

»Ardig Hall galt offiziell als Zentrum Valias, aber als heimlicher Mittelpunkt wird Farnheim genannt«, fuhr Angmor fort. »Im Übrigen stellen sie, wie du richtig vermutet hast, fast alles selbst her, von der Kleidung bis zum Beerenwein, Met und Bier.«

»Werden wir denn überhaupt Platz finden?«, äußerte Rowarn eine Befürchtung.

»Es ist kein Ort, um dauerhaft zu verweilen«, antwortete Angmor. »Man muss abreisen, sobald man keine Hilfe mehr benötigt. Und gewöhnliche Reisende dürfen nur für eine Nacht bleiben. Außerdem ...«

»Ja, Herr?«

»Für uns wird es immer einen Platz geben.«

Der Visionenritter trieb Aschteufel an, und sie ritten quer über die Wiesen hinab Richtung Farnheim.



Es blieb nicht aus, dass ihr Kommen schließlich bemerkt wurde, noch dazu, da sie sich aus westlicher Richtung näherten und unweigerlich am Markt Farnheim vorbei mussten. Von allen Seiten strömten barfüßige Kinder zusammen, die in den Feldern und auf den Wiesen gespielt hatten. Zum Großteil waren sie Menschen, und Rowarn sah ihre geblümten und karierten Kittelchen, ihre kleinen Rotznäschen, rosige Wangen und strahlende Äuglein. Sie zeigten keine Scheu, weder vor dem düsteren Ritter noch vor dem großen Luchs, der fröhlich vor Aschteufel hersprang. Es war also eine Heimkehr, erkannte Rowarn. Und gleich darauf hörte er es auch:

»Herr Angmor! Herr Angmor!« – »Willkommen, willkommen!« – »Seht doch, der Visionenritter ist zurückgekehrt! Mama, Papa, kommt schnell!«

»Wart Ihr erst vor kurzem hier, Herr?«, fragte Rowarn erstaunt. »Diese Knirpse sind doch drei bis höchstens sechs, sieben Jahre alt!«

Angmor deutete wortlos auf den Brunnen am Marktplatz, der inzwischen gut in Sichtweite gerückt war. Dort erhob sich eine lebensgroße und lebendig wirkende marmorne Statue, die eindeutig den Visionenritter auf seinem Hengst und den Schattenluchs an seiner Seite zeigte.

»Oh ...«

»Nicht meine Idee«, brummte Angmor. »Aber ich musste mich fügen.«

Er lenkte Aschteufel auf den Karrenweg, und die Menge um sie herum wurde immer größer. Die Menschen ließen auf den Feldern alles stehen und liegen und strömten zusammen. Sie lachten und winkten, liefen neben Aschteufel her und streckten die Hände dem Visionenritter entgegen, der sich leicht im Sattel neigte und die eine oder andere Hand berührte. Auf Rowarn und Tamron auf der Bahre achtete überhaupt niemand, und das war dem jungen Ritter nur recht.

Alle riefen durcheinander, manche Frauen hielten ihren Säugling hoch über den Kopf, damit er ihn segnen möge, als wäre Angmor ein heiliger Mann. Rowarn merkte aber, wie unangenehm dem Visionenritter diese Aufmerksamkeit war. Er kannte ihn inzwischen gut genug, um das aus seiner Haltung ablesen zu können.

»Wie lange werdet Ihr bleiben, Herr?«

»Was bringt Ihr für Nachrichten?«

»Werden wir nun aus Dubhans Schatten treten?«

»Was könnt Ihr für unsere Zukunft sehen?«

Angmor parierte Aschteufel, der sofort innehielt. Auch Graum blieb stehen und blickte zu seinem Herrn hoch. Die Menschen verharrten, und erwartungsvolle Stille trat ein. Passend dazu, so empfand es Rowarn, bedeckte plötzlich eine größere Wolkenschar die Sonne und warf tiefe Schatten über das Land.

»Ich danke euch, ihr braven Leute«, sagte der Visionenritter mit weithin hallender Stimme. »Ich sehe nur Licht über Farnheim. Nichts wird diesen Ort jemals bedrohen, denn er ist geschützt vor allen Mächten des Bösen. Seid ohne Sorge. Beherzigt die Gebote des Friedens und der Nächstenliebe, und euer Leben wird in Harmonie und Eintracht verlaufen. Und seid ihr einmal zornig, so lasst euch nicht zu Gewalt hinreißen, sondern wandelt eure Wut in Mildtätigkeit um. Spart eure Kräfte für die Arbeit und dient der Herrin treu und aufrichtig. Wenn ihr dies alles befolgt, wird Lúvenors Licht euch auf ewig erleuchten, und ihr werdet alle einen Platz finden auf den Booten zu den Silbernen Gestaden.«

Danach ließ er Aschteufel antreten, und die Menschen ringsum brachen in großen Jubel aus, klatschten und fingen an zu singen und zu tanzen. Rowarn vermutete, dass daraus bald ein Fest werden würde.

Immerhin konnten sie jetzt ungehindert und allein auf das große Haus zureiten.

»Wird es so eintreffen, wie Ihr verheißen habt?«, fragte Rowarn unterwegs leise.

»Ja«, antwortete Angmor ruhig. »Mein Schutz liegt über diesem Ort, und sollte je mein Gesetz des Friedens gebrochen werden, wird der Donnervogel den Schuldigen heimsuchen, und er wird sich wünschen, niemals geboren worden zu sein.«

Rowarn schluckte. »Ich ... dachte, Ihr gebietet nicht über die Donnervögel?«

»Über diesen schon«, sagte der Visionenritter und wies zum Himmel. »Dort oben, schon fast in den Außenlanden, kreist er und behält diesen Ort im Auge. Er ist der Erste der Donnervögel und der Letzte der Titanen.«

»Ein Titan?«, flüsterte Rowarn entsetzt.

»Nicht alle sind gegangen, Rowarn. Einige von ihnen sind immer noch in der Sphäre dort oben und halten die Götter in Schach. Der Donnervogel aber schützt Farnheim, denn dieser Ort ist ein Quell der Macht, und sehr alt. Er wurde in der Frühzeit der Welt von Lúvenor erschaffen, einzig zu dem Zweck gedacht, dass Verlorene und Kranke, Verletzte und Gepeinigte hier Ruhe und Heilung finden. Lange Zeit ruhte er in Vergessenheit, bis er wiederentdeckt wurde. Das ist einer der Gründe, warum Arlyn Farnheim aufgebaut hat, und ich unterstütze sie auf meine Weise durch den Pakt mit dem Titan. Wir lassen nicht zu, dass Femris oder ein anderer davon Besitz ergreift.«

Warum? Die Frage brannte in dem jungen Nauraka, doch er schwieg. Diese Geschichte wurde immer größer, und er sah sich im selben Maß kleiner darin werden. 

Die Herrin Arlyn musste eine sehr mächtige Frau sein, dem Visionenritter mindestens ebenbürtig. Hoffentlich trug wenigstens sie das Gesicht nicht verborgen.

Dann erreichten sie den Eingang von Haus Farnheim, und Angmor hielt an.

»Wir sind da, Rowarn«, sagte er. »Das Ziel der Reise ist erreicht. Hier kann uns kein Feind mehr erreichen, und du bist endlich in Sicherheit.«