Kapitel 49

Statuen und Teppiche


Ulram der Leutselige eilte ihnen entgegen, als Rowarn und Arlyn die Treppe in die Hauptstube hinunterstiegen. »Welches Vergnügen! Welche Freude! Seid Ihr wohlauf?«

»Ja, das sind wir«, antwortete der junge König ein wenig erstaunt, denn der Wirt schien überglücklich zu sein. »Und herzlichen Dank auch für die gute Bewirtung. Wir werden nun abreisen.«

»Gewiss doch! Eure Begleitung ist bereits eingetroffen und wartet schon seit zwei Tagen.«

»Unsere Begleitung?«, sagte Rowarn verdutzt.

»Folgt mir bitte, edler Herr, meine Lady«, forderte der Wirt sie auf und ging voran zu einer kleinen Nische, in der Rowarn die Ritter Laradim und Reeb erblickte, sowie Oïsin und Norem. Dann machte sein Herz einen Satz, als er im Schatten eine hünenhafte, schwarzgekleidete Gestalt mit langen spitzen Ohren und Widderhörnern sitzen sah. »Vater«, flüsterte er aufgeregt und voller Freude, nachdem er hastig die Ritter begrüßt hatte, die sich gegenseitig rempelnd aufgesprungen waren und sich verbeugten.

Angmor stand unerwartet auf und trat dicht zu Rowarn, den die ungewohnte Nähe zu seinem Vater verlegen machte. Ein wenig ängstlich hielt er still, als Angmor sein Gesicht mit kühlen rauen Fingern berührte, seine Schultern und die Arme abtastete und dann wieder das Gesicht. »Junge, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte der Visionenritter leise, und Rowarn wurde immer unruhiger. So eine Besorgnis hatte er noch nie in der tiefen Stimme des Dämons gehört.

»Ja, sicher«, begann er verwundert. »Aber ...«

Angmor wandte sich Arlyn zu. »Ist das wahr?«

Die Königin nickte. »Er ist gesund, unverletzt und ganz er selbst.«

»Seine rechte Hand ist verbunden.«

»Nur eine kleine Verbrennung an zwei Fingern, die er sich vorhin hier zugezogen hat. Das ist bald verheilt.«

»Was ist denn los?«, fragte Rowarn nervös.

»Femris hat die Nachricht verbreiten lassen, dass du im Dämonenland umgekommen bist«, berichtete Lara. »Tracharh hat ein blutiges Gewand und Wappenhemd geschickt, mit ein paar Haaren von dir. Graum konnte riechen, dass es deine waren, auch das Blut stammte von dir.«

»Ich konnte es nicht sehen«, sagte Angmor düster. »Wir ... wollten es nicht glauben, aber alles sprach dafür ...« Immer noch ließ er Rowarn nicht aus den Augen, bohrte seinen magischen Blick tief in ihn hinein. »Ich spürte, dass du fort warst.«

»So wie ich«, sagte Arlyn. 

»Und beinahe war es auch so«, fügte Rowarn ernst hinzu. »Zuerst hatte ich mich verloren, und ... ja, gewissermaßen starb ich tatsächlich im Dämonenland. Ich war für einige Augenblicke tot, doch ich wurde gerade noch rechtzeitig zurückgeholt ...« Zornig ballte er die Faust. »Wenn ich Tracharh das nächste Mal sehe, schlage ich ihm die Hörner ab, und zwar knapp unter dem Kinn. Das blutige Hemd stammt wahrscheinlich aus meiner Gefangenschaft in der Splitterkrone, und die Haare hat er mir eigenhändig ausgerissen. Es tut mir leid, dass ihr solche Sorge hattet.«

»Ja. Diesmal ist es Femris gelungen, uns tief zu treffen. Und weil ich dich nicht sehen und spüren konnte ...« Angmor setzte sich wieder und starrte gedankenverloren vor sich hin. 

Die vier Ritter strahlten Rowarn an und konnten auch nicht umhin, ihn zu berühren, um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich kein Geist war.

Ulram kam mit zwei Knechten im Gefolge herbei und nötigte das Paar, Platz zu nehmen, damit er auftragen konnte. Rowarn musste zugeben, dass er schon wieder hungrig war, und kam der Aufforderung gern nach.

»Wo ist Graum?«, fragte er seinen Vater.

»Bei Noïrun und passt auf ihn auf«, brummte Angmor. »Nicht nur, dass ständig irgendwelche Attentäter versuchen, ihn umzubringen; seit dem Gerücht um deinen Tod ist der Mann überhaupt nicht mehr zu halten. Er geht als Erster in die Schlacht und kehrt als Letzter daraus zurück. Die letzten beiden Siege sind allein ihm zu verdanken. Er wütet nicht weniger als du, wenn du in Raserei bist, Rowarn. Graum weicht ihm nicht von der Seite.«

»Gut so, ich könnte mir keinen besseren Leibwächter vorstellen«, meinte Rowarn halbwegs beruhigt.

»Olrig hat keinen Augenblick daran geglaubt, dass du tot bist«, sagte Oïsin. »Er war überzeugt, dass du lebst, und zwar aus tiefstem Herzen. Das hat uns nicht ganz verzweifeln lassen.«

»Aber es gelang ihm nicht, den Heermeister zu beruhigen«, ergänzte Norem. »Selbst die Warinen laufen inzwischen davon, wenn sie ihn auf Rundyr nahen sehen. Dieser Hengst ist noch verrückter als sein Vorgänger. Ein absoluter Draufgänger und seinem Herrn treu ergeben. Als ob sie miteinander verwachsen wären. Die beiden verbreiten Angst und Schrecken, wo sie hinkommen.«

»So muss Noïrun früher gewesen sein«, murmelte Rowarn.

»Das kann ich nur bestätigen«, bemerkte Arlyn. »Und in diesem Fall ist es offensichtlich von Vorteil für uns. Wie ist die Lage ansonsten?«

»Sherkun gelang der Durchbruch, weil wir bei unserem Eintreffen noch nicht die volle Kampfstärke hatten«, berichtete Reeb. »Er zog einen Kreis um Dubhan und riegelte es ab, und wir wiederum haben einen Kreis um sein Heer gezogen und setzen ihm von allen Seiten zu, um seine Truppen zu dezimieren. Jedes Mal, wenn sie glauben, Noïruns Strategie durchschaut zu haben, setzt er eine andere ein. Wir wissen oft selbst nicht, was er plant, er teilt es uns immer erst im letzten Moment mit. Er setzt darauf, die Dubhani zu zermürben.«

»Wie stark sind wir, und wie zahlreich der Feind?«, wollte Rowarn wissen.

»Jeweils etwa dreißigtausend Mann«, gab Angmor Auskunft. »Doch wir erhalten laufend Nachschub. Noïruns Siege haben sich herumgesprochen, und täglich treffen neue Kämpfer ein. Es sieht nicht gut aus für Dubhan.«

»Dann ... sind wir zum ersten Mal gleichauf?«

»Gewiss. Aber so war es geplant. Und wir werden noch weitere Verstärkung erhalten, sobald du in Eisenwacht eingetroffen bist. Ich habe dir ja gesagt, du hast Verbündete, von denen du nichts ahnst, und der Moment ist nun gekommen, sie zu rufen.«

Lara stand auf. »Ich schicke jetzt sofort einen Botenfalk los und werde auch hier im Freien Haus verkünden, dass der König von Ardig Hall unterwegs nach Dubhan ist.« 

»Ist das vernünftig?«, wandte Oïsin ein. »Das bringt die dubhanischen Suchtruppen doch erst recht auf Rowarns Spur.«

»Fürst Noïrun hat es mir so aufgetragen«, erwiderte die Ritterin. »Er sagte, den Anhängern von Ardig Hall Hoffnung zu geben, sei wichtiger. Und er liefert Rowarn ja nicht schutzlos aus. Die ersten Doppelgänger werden unterwegs sein, sobald die Nachricht beim Heermeister eingetroffen ist. Und das wird schon heute Abend sein, denn der Botenfalk ist so schnell wie der Wind, aus Baron Solvans Zucht.«

»Doppelgänger?«, wiederholten Rowarn und Arlyn gleichzeitig.

Laradim nickte. »Ja, von weitem könnte man sie für euch halten. Sie werden überall zwischen diesem Ort und Dubhan in Erscheinung treten und Verwirrung stiften.« Beim Weggehen berührte sie noch einmal Rowarns Arm. »Ich bin so froh«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen und verschwand hastig.

Rowarn rieb sich das Gesicht; er war erschüttert. »Also müsst ihr Hoffnung gehabt haben, sonst wärt ihr nicht alle hergekommen, und Noïrun hätte sich nicht diesen Plan ausgedacht. Oder galt diese Eskorte ursprünglich Arlyn?«

Angmor sah ihn ruhig an. »Natürlich haben wir gehofft. Und dieser Plan ist in jedem Fall vonnöten, ob mit oder ohne dich. Zum einen, um Arlyn zu schützen, zum anderen, um selbst Gerüchte in die Welt zu setzen, die Femris unglaubwürdig machen.« Er wandte sich an die Ritter. »Bereitet alles für den Aufbruch vor und sichert die Umgebung. Wir ziehen los, sobald der König gegessen hat.«

Unverzüglich standen die drei Ritter auf, verbeugten sich vor Rowarn und verschwanden.

Rowarn ahnte, was sein Vater nun erfahren wollte, und griff sich unwillkürlich an das Wams, wo nahe an seinem Herzen in einer Tasche die beiden kostbaren Tonscherben verborgen waren. »Ich habe zwei Splitter. Arlyn sagte, der sechste würde zu mir kommen.«

Der Visionenritter musterte die Königin, dann nickte er anerkennend. »Du bist eine wahre Weise Frau, Arlyn. Deine Eltern wären sehr stolz auf dich. Du bist die beste Königin für Ardig Hall.«

»Und für mich«, fügte Rowarn hinzu und ergriff Arlyns Hand. Der Ring glänzte an seinem kleinen Finger.

Bald darauf waren sie zum Aufbruch bereit und verabschiedeten sich von Ulram dem Leutseligen. 

Windstürmer begrüßte seinen Herrn mit hellem, glücklichem Wiehern. Rowarn stand blinzelnd draußen, die Sonne schien hell, es war warm und der Frühling wahrlich angebrochen. Die Bäume standen bereits im zarten Grün, die Wiesen waren mit einem bunten Blütenschleier überzogen, und überall zwitscherten und flöteten Vögel.

»So viel Zeit ist verloren?«, fragte er erschrocken.

»Sie verging, während du im See warst«, antwortete Arlyn. »Einen Mondwechsel lang. Diese Zeit konnte dir das Freie Haus nicht zurückbringen, weil du dich verloren hattest.«

»Sorge dich nicht deswegen. Die Zeit wurde von anderen genutzt, Rowarn, der Kampf ist noch im vollen Gange, und wir haben eine gute Position«, sagte Angmor.

Die Ritter saßen auf und teilten sich in Vor- und Nachhut auf. Arlyn wartete auf ihrem Braunen; Angmor ging zu Aschteufel, der von einem Knecht abseits angebunden worden war.

»Arlyn, bitte reite mit Lara und Reeb, wir kommen gleich nach«, bat Rowarn. Die Königin nickte und trieb den Braunen an. Rowarn nahm Windstürmer am Zügel und folgte seinem Vater. Er hatte ihn noch nie so erlebt. Angmor wirkte bewegt und nachdenklich, zugleich noch in sich gekehrter als sonst, als drückte eine schwere Last auf seine Schultern. Besorgt wartete Rowarn, er erkannte seinen Vater nicht wieder.

Als er gerade aufsteigen wollte, verharrte Angmor und senkte leicht den Kopf. Es schien, als würde er zum ersten Mal von sich aus etwas preisgeben wollen. »Rowarn ...«

»Ich bin hier, Vater.«

»Ja.«

Der kostbare Moment schien schon wieder vergangen, Angmors Stiefel schob sich in den Steigbügel. Dann hielt er doch noch einmal inne. Langsam wandte er den Kopf zu seinem Sohn.

»Ich hätte es nicht ertragen«, sagte er leise. »Ich kann gerade noch damit leben, Ylwa verloren zu haben. Aber dich ...« Er schüttelte den Kopf und schwang sich in den Sattel. Aschteufel trabte los, noch bevor Angmor richtig saß.

Rowarn hatte einen dicken Kloß im Hals, als er auf Windstürmer stieg und Angmor folgte. Eine Weile ritten sie still nebeneinander, und der junge Mann überlegte, ob er seinem Vater alles über seine Fahrt erzählen sollte. Aber dann ließ er es sein.

Etwas allerdings musste er ihm mitteilen. »Vater, ich ... habe mit der Èta Garon Marú gesprochen.«

Angmor schwieg, sein Blick ging starr geradeaus. Er zuckte mit keinem Muskel. Nach einer Weile fragte er langsam: »Wie ... geht es ihr?«

»Ich glaube, gut. Sie sah wunderschön aus.«

»Mhm.«

»Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?«

»Kurz bevor ich nach Waldsee ging.«

Rowarn kratzte sich am Kinn. »Sie ... sie vermisst dich.«

Angmor nickte und starrte auf Aschteufels Mähne. »Ich vermisse sie auch.« Er hob das mächtige Haupt zum Himmel. Tief seufzte er. »Ich werde alt, Rowarn. Vielleicht bin ich sogar schon zu alt. Und ich bin müde.«

»Wirst du nach Xhy zurückkehren?« Rowarn war erschüttert und fühlte sich hilflos. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte.

»Das kann ich nicht. Ich werde Waldsee nie wieder verlassen.« Angmor straffte den Rücken, dann trieb er Aschteufel an und galoppierte voraus.



Angmor hatte einen Weg nach Eisenwacht gewählt, der durch unwegsames Gelände führte und sie zwei zusätzliche Tage kosten würde, der aber seiner Ansicht nach der sicherste war.

»Als wir erfuhren, dass Dubhanitruppen in diesem Gebiet unterwegs sind, die alle Siedlungen und Gehöfte durchstöbern, nährte das unsere Hoffnung, dass du der Grund bist«, sagte Lara während einer Pause zu Rowarn. »Angmor war mit uns gleich nach Eintreffen der Nachricht aufgebrochen, um nach Arlyn und dann nach dir zu suchen. Wir standen über Botenfalks in ständiger Verbindung mit dem Heermeister, und als er von den Suchtruppen erfuhr, schickte er eigene Truppen los, die zwischen dem Freien Haus und der Lichtlosen Burg nach den Dubhani suchen und sie vernichten sollten. Nun werden sie entsprechend des weiteren Plans die Doppelgänger unterstützen.«

»Femris kann mich überall finden«, gab Rowarn zu bedenken.

»Jetzt nicht mehr«, erwiderte Angmor. »Die Splitter halten sich vor ihm verborgen, daran hat sich nichts geändert.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich kann deine Aura nach wie vor nicht spüren, und ... sehen kann ich dich auch nicht.«

Rowarn war schockiert. »Aber du hast mich doch ...«

»Angeschaut? Ja. Ich erkenne dich als Schatten, der sich vor dem hellen Licht bewegt. Aber nur, wenn du unmittelbar vor mir stehst. Und das ist alles.« Angmor hob die Hand. »Ich konnte mich nur durch Berührung davon überzeugen, dass du es wirklich bist, dass deine Seele unversehrt blieb. Es ist irritierend, dich nicht auf magische Weise wahrnehmen zu können. Aber das bedeutet gleichzeitig, dass auch andere Mächtige dich nicht aufspüren können.«

Der Visionenritter wirkte wieder ausgeglichen und stark wie immer, von seiner düsteren und niedergeschlagenen Stimmung war nichts mehr zu merken. Rowarn war froh darüber.



Dank Angmors visionärer Gabe konnten sie allen Gefahren rechtzeitig ausweichen. Der von ihm gewählte Weg führte durch tiefe, unberührte Wildnis, in der Rowarn sich allein hoffnungslos verirrt hätte. Selten genug gab es Gelegenheit, sich am Sonnenstand oder den Sternen zu orientieren, und selbst Tierpfade gab es kaum. Die meiste Zeit mussten sie die Pferde am Zügel hinter sich herführen, und es war nicht immer ganz einfach, sie zum Weitergehen zu bewegen. Es war sehr anstrengend, nicht nur für die Pferde, doch der Visionenritter trieb sie unermüdlich voran. Dass sein Vater sich wenige Tage vorher alt und müde gefühlt haben sollte, kam Rowarn jetzt wie ein Scherz vor. Mehrmals war er nahe daran, einen Streit mit Angmor anzufangen, wenn er Arlyns erschöpftes Gesicht sah, doch sie warnte ihn jedes Mal mit einem kurzen Blick. Sie schien immer zu wissen, was er gerade dachte und tun wollte.

Zu einer Begegnung mit den Dubhani kam es nicht, aber das wunderte Rowarn keineswegs. Hierher verirrte sich ja kaum ein größeres Tier; bisher hatte er nur Insekten und Vögel entdeckt, ab und zu einmal die Losung eines Dickas, ein nur wenige Handspannen hohes Reh.

Einen ganzen Tag hindurch regnete es, und sie kamen nur noch mühselig voran. Das Gestein war glatt, der Boden schlammig. Schweigend kämpften sie sich Stunde um Stunde vorwärts. Erst am Abend, als sie mit triefnassen Umhängen unter einem überhängenden Felsen hockten und an ein paar Streifen Trockenfleisch nagten, brummte Oïsin: »Da gehe ich lieber zweimal am Tag in die Schlacht.«

»Außer, es regnet«, spottete Reeb.

Angmor blieb draußen im Regen stehen und hielt Wache. Als Rowarn zu ihm hinauskroch, sagte er: »Bleib besser im Trockenen, Junge.«

»Aber du stehst auch hier draußen.«

»Ich bin ein Dämon ohne Fell. Mir macht Nässe nichts aus. Ich spüre sie nicht einmal.«

»Ich bin zur Hälfte Dämon und zur Hälfte Nauraka, was sollte also ich spüren?«

»Aha, dann ist dieses Schlottern also ein Ausdruck des Wohlbefindens. Das habe ich wohl immer falsch verstanden.«

»Nun ...« Rowarn fühlte sich ertappt.

»Wenn Ylwa so gezittert hat, war es jedenfalls immer kalt.«

»Ich zittere nicht.«

»Nein. Du schüttelst dich vermutlich nur trocken.«

»Du bist blind, Vater. Du kannst mich nicht einmal visionär erkennen, das hast du mir selbst gesagt.«

»Ich kann dich dafür umso besser hören. Deine Mutter hasste den Landregen auch. Sie sagte immer, das Wasser der See wäre wie eine gleichmäßige schützende Hülle, und durch die Kiemenatmung wäre der Körper bald eins damit. Der Regen aber fällt ungleichmäßig in großen, schweren Tropfen und peinigt die sich ständig anpassende Haut durch andauernde trommelnde Schläge.«

Rowarn gab es auf, sich verstellen zu wollen. Seinem Vater, der erschreckenderweise auch noch anfing, eine Art Humor zu entwickeln, konnte er ohnehin nichts vormachen. Er fror erbärmlich, mehr als die anderen. Regenwasser war wirklich eine Qual für ihn. »Du warst meiner Mutter sehr nah«, stellte er stirnrunzelnd fest. »Sie hast du nicht auf Distanz gehalten.«

»Nein. Bei ihr war ich ... anders.« Von Angmors Ohren und Hörnern rannen Bäche herab, aber es schien ihm tatsächlich nichts auszumachen. Seine Augen glühten sehr klar und eisblau im letzten Dämmerlicht des Tages. »Ich war jemand, den ich zuvor nicht kannte und der kein Teil von mir zu sein schien. Die Erinnerung an diese Zeit, an die Gefühle, ist immer noch sehr lebendig in mir. Es ist ja auch noch nicht lange her.«

Rowarn hätte ihm nun gern Fragen über sein früheres Leben gestellt, vor allem, wie lange es schon währte. Aber der Schrecken über Angmors Niedergeschlagenheit vor einigen Tagen saß immer noch tief, er sollte ihn besser nicht gerade jetzt daran erinnern. Außerdem hatte Angmor das Versprechen gegeben, eines Tages alles zu offenbaren, vielleicht sollte er sich also weiterhin gedulden. Stattdessen sagte er: »Du frierst vielleicht nicht. Aber du musst ruhen, wie jeder von uns. Ich glaube nicht, dass uns hier in dieser verlassenen Gegend Gefahr droht. Selbst im Dämonenland war es nicht stiller als hier.«

»Nur im Randgebiet ist das so. Ansonsten ist es ziemlich laut.« Angmor lehnte sich entspannt an den Felsen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin nicht müde, und ich kenne Techniken, wie ich mich trotz Wachehalten entspannen kann. Ich stehe gern noch hier draußen. Geh schlafen, Rowarn.«

Der junge König gab nach und kroch zu den anderen.



Schließlich erreichten sie das Hochland und konnten von dort aus die sich weithin erstreckende Grenzmauer von Eisenwacht erkennen. »Das letzte Stück müssen wir galoppieren«, sagte Angmor. »Ich hoffe, die Pferde besitzen genug Ausdauer, denn hier sind überall Dubhani unterwegs. Achtet auf meine Anweisungen und befolgt sie ohne Rückfragen, möglicherweise schaffen wir es nicht auf direktem Wege.«

»Wir werden euch Rückendeckung geben, wenn es zur Konfrontation kommt«, sagte Laradim. »Das bedeutet, wenn wir nicht mehr ausweichen können, werden wir vier uns den Dubhani stellen. Ihr drei reitet unverzüglich weiter.«

»Einverstanden«, sagte Rowarn. Die Splitter mussten so schnell wie möglich in Sicherheit gebracht werden, nur das zählte. »Mit ›ihr drei‹ bist übrigens auch du gemeint, Vater.«

Der Dämon verzog keine Miene. »Ich habe schon begriffen und stimme dem zu. Die Ritter brennen auf einen Kampf, sollen sie ihn haben, und ich will endlich nach Dubhan zurück.«

Arlyn kam an Rowarns Seite und musterte prüfend, ob Wappenhemd, Gürtel und Rüstung richtig saßen. Vorn steckte der Dolch der Zwerge, das Schwert Luvian hing an der Seite. Im Rückenköcher präsentierte sich stolz die Ritterfahne von Ardig Hall, der Umhang war geschlossen. »Setz deinen Helm auf, das ist wichtig.«

Rowarn nickte; das war ihm sehr recht, denn so würde man seine Aufregung nicht sehen können. Er konnte sich denken, was ihn in Eisenwacht erwartete.

Dann ging es los, und die Pferde freuten sich darüber, sich endlich wieder frei bewegen zu können. Geschwind liefen sie dahin und ließen sich nur ungern zügeln, doch sie sollten sich nicht zu sehr verausgaben und vor der Zeit ermüden. Es war bewölkt, aber trocken und die Wege gut begehbar. Die große Mauer rückte bald näher, aber ebenso auch der Feind. Der Visionenritter sah seine Bewegungen rechtzeitig voraus und gab knappe Anweisungen. Im Zickzackkurs näherten sie sich über mehrere Stunden der Mauer, die sie sonst auf geradem Wege schon am frühen Vormittag erreicht hätten. Doch schließlich gab es kein Ausweichen mehr, eines der Haupttore war in Sicht, und die entgegenkommenden Dubhani versuchten, ihnen den Weg abzuschneiden. Das war das Zeichen für die vier Ritter. Sie scherten aus dem Verbund und hielten im gestreckten Galopp mit gezückten Schwertern auf die Feinde zu. Rowarn, Arlyn und Angmor beschleunigten in Richtung Tor, nun durften die Pferde alles geben.

»Es öffnet sich!«, rief Rowarn, und von verschiedenen Wachtürmen erklangen weithin schallende Hornsignale. Eine Schar strömte aus dem Inneren Eisenwachts hervor. Sie teilte sich, die einen schwenkten zu den Dubhani und den Rittern, die anderen kamen auf Rowarns Gruppe zu. Vorneweg sprengte ein Fahnenträger, an dessen Standarte zwei Fahnen wehten – Eisenwacht und Ardig Hall. Und gleich hinter ihm ritten Hauptmann Javig von der Burggarde – und der einäugige Ragon. Schon von weitem winkten und riefen sie. Die Reiter teilten sich zu beiden Seiten der Straße auf und eskortieren dann Rowarn, Arlyn und Angmor zum Tor. Unbehelligt erreichten sie Eisenwacht und die gut ausgebaute Hauptstraße zur Burg.

Als sie sich ein paar Stunden später der Festung näherten, wartete bereits eine große Menge am Wegerand und jubelte Rowarn zu, der den schweißnassen Windstürmer zum langsamen Trab parierte. Rowarn war froh um den Helm; er blickte starr geradeaus und hob ab und zu grüßend die Hand. Er freute sich, willkommen zu sein, aber es machte ihn auch verlegen. Arlyn und Angmor folgten ihm auf Abstand und wurden ebenfalls mit Hochrufen empfangen. 

Drei Knechte kamen zum Fuß der Portaltreppe, nachdem die Reiter die zweite, schmale Zugbrücke passiert hatten, und nahmen die Pferde in Empfang.

Oben stand Baron Solvan mit seinen drei Frauen, Philippa und zwei weiteren Töchtern zum Empfang bereit. Er grinste breit, und seine Fuchsaugen blitzten, als die Ankömmlinge zu ihm hinaufstiegen.

»Was sehe ich da?«, rief der Baron. »Zwei lange, dünne, blasse Gestalten – und eine davon der junge König von Ardig Hall? Dann könnt Ihr nur Lady Arlyn sein, die legendäre Herrin von Farnheim, und Königin des Friedens!«

Arlyn warf Rowarn einen erstaunten Blick zu, und er grinste fröhlich. »Ja, er ist ein wenig … äh … anders. Daran musst du dich gewöhnen.«

»Ich bin Arlyn«, sagte sie zu Solvan, als sie ihn erreichte. »Ich entbiete dem Baron von Eisenwacht meinen Gruß.«

»Und ich erst!«, rief er. »Ich entbiete meinen innigen Gruß und tiefste Verehrung.« Er ergriff ihre Hand und führte sie kurz an seine Lippen, während er sich vollendet verneigte. »Ich sehe es als große Ehre an, Euch meine Gastfreundschaft anbieten zu dürfen, denn Ihr reist nicht oft, wie ich hörte.« Seine hellen Fuchsaugen funkelten spitzbübisch. »Bitte kommt herein und nehmt Platz an meiner Tafel. Bei gutem Essen und köstlichem Wein redet es sich besser.« Er nickte Angmor grüßend zu, drehte sich um und ging voran in das Haupthaus, gefolgt von seinen Frauen und Töchtern. Philippa drehte sich noch einmal um und zwinkerte Rowarn zu, bevor sie verschwand.

Der Visionenritter ging an dem jungen Paar vorbei hinein; Arlyn brauchte noch ein wenig, um sich zu fassen.

»Der Mann hat es faustdick hinter den Ohren«, wisperte sie Rowarn missbilligend zu.

»Allerdings«, kicherte er verhalten. »Pass auf, dass er dich nicht zu seiner neuen Konkubine erklärt. Und ich werde dafür sorgen, dass du nicht plötzlich begeistert von dieser Aussicht sein wirst.«

Sie versetzte ihm einen leichten Stoß in die Seite, und er nutzte die Gelegenheit, kurz den Arm um ihre Taille zu legen und sie fest an sich zu drücken.

In der Halle war schon alles fürs Bankett vorbereitet, und Solvan bat die Gäste zu Tisch und fragte sie nach ihren Wünschen. Arlyn sah sich wie seinerzeit Rowarn staunend um und bewunderte vor allem die kostbaren Wandteppiche.

»Mir sind draußen schon die herrlichen Statuen mit ähnlichen Motiven aufgefallen ...«

»Meine Muhmen haben sie gefertigt«, erklärte Rowarn stolz. »Die Statuen stammen von Schattenläufer und die Teppiche von Schneemond. Ein Beweis, dass Solvan wirklich reich ist, denn die Velerii verkaufen selten und nur zu hohen Preisen.«

»Ich muss gestehen, dass ich diese Kostbarkeiten geerbt habe, uralter Familienbesitz«, erklärte Solvan. »Soweit ich weiß, sind alle Stücke mehrere hundert Jahre alt, und mein Vater hat mir seit meiner Kindheit eingebläut, keinen Unsinn damit zu veranstalten, nichts zu verändern, geschweige denn etwas zu beschädigen oder auch nur ein einziges Teil zu verkaufen. Er behauptete, so etwas wie ein schlafender Fluch würde über all diesen Stücken liegen. Da ich einen ausgesprochenen Sinn für diese schönen Dinge habe, fiel es mir nicht schwer, alle Warnungen zu beherzigen und diese Schätze wie ein Drache zu hüten.«

»Sie sind zauberhaft«, sagte Arlyn.

»Gefällt es Euch hier?«, fragte der Baron lächelnd und reichte Arlyn persönlich einen Weinpokal.

»Ihr habt ein gemütliches Heim«, gab sie unumwunden zu, und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und schließlich in ihre Augen. »Und wie es scheint, schätzt Ihr eine große Familie.«

»Ach ja«, lachte er. »Ich kann mich nicht beklagen. Ich hoffe, Rowarn hat Euch entsprechend vorbereitet, sodass Ihr nicht allzu schockiert seid.«

»Schockiert bin ich gewiss nicht, verehrter Baron, denn die Vielehe hat durchaus auch Tradition bei meinem Volk, allerdings auf seiten der Frauen.«

»Frauen mit mehreren Männern, oh!«, rief Philippa. »Darüber müsst Ihr mir unbedingt mehr erzählen, edle Herrin!«

»Später!«, warf Rowarn hastig ein und löste eine Lachsalve bei sämtlichen Zwerginnen aus. Arlyns Augen funkelten warm und golden, als sie ihn ansah, und er grinste ein wenig schief und verunsichert zurück.

Etwa zwei Stunden später trafen die vier Ritter und die Burggarde ein; die Dubhani waren in die Flucht geschlagen worden. Baron Solvan schickte die Helden zu den Heilern, damit ihre Wunden versorgt würden, und bat sie anschließend ebenfalls an seine Tafel. 

Aus dem Lager vor Dubhan traf wie auf ein verabredetes Zeichen hin ein Botenfalk ein, der Grüße von Noïrun an Rowarn übermittelte.


Der Heermeister an den König von Ardig Hall:

Ich habe Kenntnis erhalten, dass ihr auf dem Wege seid, und hoffe, ihr seid inzwischen wohlbehalten in Solvans Burg angekommen. Leider kann ich von hier nicht weg, Sherkun ist ein guter Heermeister und hält mich in Atem. Aber ich ihn nicht minder. Halte dich nicht lange auf, ich erwarte dich in spätestens drei Tagen hier.

Noïrun


Drei Tage – das konnte wahrscheinlich nicht einmal Aschteufel schaffen. Aber das war nicht ungewöhnlich für den Fürsten, genau wie seine knappe Art zu schreiben.

Rowarn ließ sich in Kenntnis über die Lage setzen; es hatte sich seit den Nachrichten im Freien Haus nichts geändert. Dubhan war noch von Sherkun gesichert, und Ardig Hall führte kleinere Scharmützel durch und beschränkte sich ansonsten auf die Belagerung. 

»Wurde Femris gesichtet?«, fragte der junge König.

»Durchaus«, antwortete Solvan. »In seiner Aurengestalt. Nach wie vor hat er nicht genug Kraft für einen eigenen Körper.«

»Wie werden die Splitter sicher nach Dubhan gelangen?«, wollte Arlyn wissen.

»Mit einer entsprechenden Eskorte«, sagte der Baron. »Ich habe einhundert Berittene und sechshundert Fußsoldaten bereitgestellt. Niemand wird es wagen, euch anzugreifen, denn Sherkun kann keine entsprechende Zahl entbehren.«

»Sie werden versuchen, uns zu trennen«, überlegte Rowarn.

»Oder sie werden überhaupt nichts unternehmen, weil noch andere Kräfte zu uns stoßen«, erwiderte Angmor ruhig. »Noch ist das nicht das ganze Aufgebot.«

»Das hast du schon ein paarmal gesagt – wie wäre es, wenn du dich endlich genauer ausdrücken würdest?«

»Warte den morgigen Tag ab, dann erlebst du es selbst. Unsere Verbündeten wissen Bescheid, sie warten nur auf das Zeichen.«

Rowarn kochte innerlich, er hasste diese Geheimniskrämerei seines Vaters, und diesmal schien der Dämon sich ein besonderes Vergnügen daraus zu machen. Zumindest wirkte er seltsam heiter und schien noch gelassener als sonst. Auffordernd blickte Rowarn zu Arlyn, doch sie hob bedauernd die Schultern. Offensichtlich wusste sie auch nicht mehr als ihr Gemahl und hatte nicht die Absicht, den Visionenritter um Aufklärung zu bitten.

Sie besprachen noch einiges, dann wollte Solvan nichts mehr vom Krieg hören sondern feiern. Er befahl, aufzutischen, Musiker und Akrobaten traten auf, und es wurde viel gegessen, gelacht und getanzt. Genau wie sein Vater hielt Rowarn sich bei Bier, Wein und stärkeren Getränken zurück, beim Essen allerdings nicht.

Der Abend zog sich hin, und Rowarn sehnte sich nach einem Bett und Arlyns weichen Armen. Aber sie schien sich prächtig zu amüsieren, nachdem sie den Baron zuvor so kritisch betrachtet hatte. Längst hatte sie das halbe Bankett für sich eingenommen, Männer wie Frauen gleichermaßen hingen bewundernd an ihren Lippen und sonnten sich in ihrer Schönheit. Sie war die strahlende Königin des Abends. Rowarn saß still neben ihr, hörte ihr zu und betrachtete sie ab und zu sehnsüchtig, wenn er glaubte, dass es nicht auffiel.

Angmor war schließlich der Erste, der ging, aber das wunderte niemanden und schaffte eher Erleichterung.

Die Gesellschaft wurde zusehends ausgelassener, je mehr es auf Mitternacht zuging. Rowarn allerdings wurde immer müder.

Da trat ein Feuerschlucker auf, der begleitet von Musik alle Gäste in seinen Bann schlug. Nur Rowarn nicht. Er wollte die schweren Lider schließen, bloß für ein paar Augenblicke, nahm er sich vor, dann wäre er wieder ganz bei sich.

Doch so viel Zeit bekam er nicht. Der junge Mann wurde schlagartig wieder munter, als Arlyns Hand plötzlich unter dem Tisch verschwand, ohne Vorwarnung in seinem Schoß landete und in unmissverständlicher Weise nach ihm griff. Mit einem Ruck saß Rowarn kerzengerade und riss die Augen auf. Sollte es Arlyns Absicht gewesen sein, ihn zu wecken, so war ihr dies gelungen. Sein Atem beschleunigte sich, als sie ihren Kopf leicht zu ihm neigte, seine Nasenflügel blähten sich auf und sogen gierig ihren Duft ein.

»Wir gehen jetzt«, wisperte sie. »Und ich würde dir raten, wach zu bleiben.«

In seinen Lenden pochte es heiß, und Arlyn sollte inzwischen deutlich fühlen können, dass jegliche Trägheit verschwunden war. »Ich bin wach! Ich bin hellwach!«, beteuerte Rowarn eifrig. Solange hatte er sie entbehrt, in den letzten Tagen ständig ihre Nähe gefühlt, doch in Anwesenheit der anderen nicht einmal einen scheuen, heimlichen Kuss gewagt. Nun hatten sie Ruhe, ein Bett nur für sie beide und waren in Sicherheit ... nein, da würde er gewiss nicht einschlafen, auf gar keinen Fall!

Arlyn zog ihre Hand zurück. Während die Gäste immer noch abgelenkt waren, erhob sie sich, neigte sich anmutig zu Baron Solvan und bat ihn, sie zu entschuldigen.

Er wirkte überrascht und ein wenig enttäuscht, stand aber auf, lächelte freundlich und wünschte ihr mit einem Handkuss und artigen Komplimenten eine gute Nacht. Ebenso erhoben sich alle Gäste in der Nähe und verneigten sich höflich mit einer Geste des Bedauerns.

Rowarn konnte nun getrost aufstehen, ohne sich auf derbe Scherze und Zoten gefasst machen zu müssen, denn der Anstand gebot es, dass er seine Frau zum Gemach begleitete.

»Aber du kommst doch wieder?«, bat Solvan. »Die Nacht ist jung, und es gibt noch viel Spaß!«

»Gewiss kehre ich umgehend zurück«, log Rowarn, ohne eine Miene zu verziehen, und grüßte in die Runde. Er legte Arlyns Hand auf die seine und führte sie aus der Halle, angeführt von einem Diener, der ihnen den Weg zum Gastzimmer zeigte.

Rowarn schickte den Diener fort, verriegelte die Tür und zog Arlyn in seine Arme. Für einen langen Augenblick stand er nur da und hielt sie fest, so glücklich, dass er nicht einmal Worte fand.

Arlyn hingegen schon. »Küss mich, Dämon«, flüsterte sie nah an seinen Lippen.



Rowarn erwachte frühzeitig und war gerade beim Ankleiden, als Arlyn die Augen aufschlug. »Willst du mich wieder heimlich verlassen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nie wieder.« In stiller Freude strahlte er sie an.

»Worauf wartest du?«, fragte sie verwundert, weil er sich überhaupt nicht rührte.

»Dass du aufstehst«, grinste er.

»Oh. Schlimmer Mann.« Doch sie tat ihm den Gefallen und verließ das Bett, trat auf ihn zu und legte die Arme um seinen Nacken. Ihre Haut fühlte sich warm und seidig in seinen Händen an, als er über ihren straffen Rücken strich. »Ich bin gleich fertig.« Ihre Lippen berührten kurz seinen Mund.

»Keine Eile«, murmelte er und entschied, dass er sich zu früh angezogen hatte.

Als das junge Paar kurz nach Anbruch der Ersten Stunde nach unten in die Halle kam, war Angmor bereits dort, und zu dieser frühen Zeit allein. Er stand vor dem großen seidenen Wandteppich neben dem Kamin, dem Rowarn bisher nie so recht Beachtung geschenkt hatte, weil er im Halbschatten lag. Nun erst fiel ihm überrascht auf, dass seine Muhmen im Zentrum des Bildes waren! Die beiden Velerii standen an einem Bachlauf, mitten in einer lieblichen Aue, umgeben von Angehörigen der Alten – bocksfüßige Runi, ätherische Blumenvisu, die falkenköpfigen Pheren, die geflügelten Daranil und andere. Einige von ihnen waren auch draußen als Statuen verewigt, dazu kamen die Fuchsgeister, verschiedene Baumhüter und Sentrii.

»Baron Solvans Vorfahren müssen eine besondere Vorliebe für die Alten Völker gehabt haben. Vor allem aber erstaunt mich, dass meine Muhmen sich selbst verewigt haben«, bemerkte Rowarn. Andächtig berührte er den Teppich. »Was für eine wundervolle Arbeit. Als ob sie lebendig wären.«

»Das sind sie, Junge, genau das ist es ja«, erwiderte sein Vater rätselhaft. »Tretet ein wenig zurück, ihr beiden.«

Arlyn und Rowarn gehorchten mit neugierigen Gesichtern. Der Visionenritter trat vor das große Gemälde und hob die Hände.

»Vor zweitausend Jahren wurde ein Bündnis geschlossen«, sprach er mit getragener Stimme. »Zum Endkampf wollen wir alle füreinander einstehen und uns rüsten, um Seite an Seite gegen die Finsternis zu kämpfen. Die Zeit ist gekommen, und ich rufe euch zusammen, als der Letzte des Ordens der Visionenritter, im Namen des Tabernakels, an das ich gebunden bin, und im Namen des Schlosses von Ardig Hall, dem meine Pflicht und Treue gilt.« Dann rief er noch einige Worte, die Rowarn nicht verstand, aber als tain erkannte; es musste eine magische Formel sein.

Ein leichtes Beben folgte daraufhin, der Boden erzitterte, und das von draußen hereinfallende Sonnenlicht verdunkelte sich plötzlich, als habe sich eine Wolke davorgeschoben.

Der Teppich hingegen erglühte und strahlte auf, als würde er in Flammen aufgehen. Rowarn kniff blinzelnd die Augen zusammen, so grell leuchtete das Bild. In dem Licht sah er Konturen und Schemen, die sich bewegten – und dann traten seine Muhmen aus dem Stoffbild heraus!



Und nicht nur die Velerii verließen den Teppich, auch alle anderen abgebildeten Gestalten, und von draußen rannte plötzlich ein Knecht panisch in die Halle und schrie: »Herr Baron! Herr Baron! Die Statuen! Sie ... sie laufen weg!« Er wollte sich gar nicht beruhigen.

Solvan erschien im Morgenmantel und mit Nachtmütze auf der Galerie und rief: »Was faselst du da wirres Zeug, Mann?«

»Aber sie bewegen sich, Herr, kommt doch und überzeugt Euch selbst ...«

Da, endlich, bemerkte der Knecht das Aufgebot an Alten Wesen in der Halle, die sich verdutzt und ein wenig schläfrig umsahen, verstummte und fiel in Ohnmacht.

Auch Solvan rieb sich die Augen. »Potzdonner!«, rief er dann. »Das also hat mir mein Vater immer mitteilen wollen! Na, das erklärt einiges.«

Als würden sich in der Halle nicht schon die vielfältigsten Wesen tummeln, kamen auch noch die ehemaligen Statuen von draußen herein, und das lärmende Gedränge und Durcheinander wuchs an, je mehr von ihnen zu sich kamen und einander begrüßten. 

Selbst der stimmgewaltige Angmor brauchte eine ganze Weile, bevor er sich Gehör verschaffen konnte und bat dann alle nach draußen, wo er ihnen gleich Aufklärung bieten würde, außerdem würden sie bewirtet werden ...

»Oho!«, rief Solvan von oben, aber er lachte. »Ich erledige das sofort, solange meine Halle noch steht.« Und verschwand eilig.

Rowarn stand der Mund immer noch offen, er war zu keiner Regung fähig.

Während die anderen, von Angmor vor sich hergetrieben, die Halle verließen, sahen sich die beiden Velerii um; sie schienen noch nicht ganz bei sich zu sein. Dann fiel ihr Blick auf Rowarn, und ihre Gesichter leuchteten auf. Der Boden in der Halle dröhnte, als die Pferdmenschen auf ihren Ziehsohn zuliefen und ihn nacheinander in die Arme schlossen und mit Fragen überschütteten. Arlyn zog sich unauffällig zurück und ging ebenfalls nach draußen.

»Das also hat Angmor die ganze Zeit gemeint«, lachte Rowarn. »Unerwartete Verbündete ... und so viele Mächtige! Nun kann ich getrost nach Dubhan ziehen.«

»Ja, das konnten wir dir nicht schreiben«, sagte Schattenläufer. »Niemand außer den Beteiligten wusste bis jetzt von diesem geheimen Bund. Dafür haben wir beide, Schneemond und ich, die magischen Statuen und Teppiche geschaffen, um alle im selben Moment am richtigen Ort zu sein und den Schwur zu erfüllen.«

»Aber wenn sie von hier fortgekommen wären?«

»Ein Bann lag darüber, der das verhinderte. Und bevor diese Burg gebaut wurde, befanden sie sich in Sicherheit in einer anderen. Wir haben immer gewusst, wo unsere Werke sind und dafür gesorgt, dass sie ausschließlich von Menschenhand zu Menschenhand gingen. Die Kurzlebigen vergessen schnell, so verblassten die Mythen um diese Schätze, und niemand stellte zu viele Fragen. Femris hat es nie geahnt.« Schattenläufer wies auf den Teppich, der nun wieder wie zuvor aussah. Vielleicht hatte er ein wenig von seinem lebendigen Glanz verloren. »Wir haben auf den Ruf gewartet, doch der Übergang war trotzdem unerwartet und verwirrend. Nun aber ist die Magie aufgebraucht, denn sie war nur für diesen einen Zweck gedacht, und die Teppiche und Statuen sind ab jetzt genau das, wonach sie aussehen – einfache Kunstwerke.«

»Ich bin so froh, dass ihr hier seid. Ich hätte nie gedacht ...« Rowarn winkte ab. »Lasst uns nach draußen gehen, zu den anderen, und alles besprechen. Wir sollten sobald wie möglich aufbrechen.«

»Du siehst gut aus«, sagte Schneemond beim Hinausgehen. »Nach all dem, was du durchlitten hast, hätte ich das nicht erwartet.«

»Die beste Heilerin ist an seiner Seite«, schmunzelte Schattenläufer. »Wir müssen Arlyn noch begrüßen, Liebste, sie ist vorhin zu kurz gekommen. Aber ich habe bemerkt, dass sie strahlender denn je aussieht.«

Draußen im Sonnenschein erwartete sie ein voller Hof, mindestens zweihundert Zauberwesen schnatterten durcheinander. Solvans Diener liefen verwirrt und verzweifelt dazwischen herum, brachten Speisen und Getränke und versuchten, diverse andere Wünsche zu erfüllen. Auf den Mauerzinnen drängelten sich die Wachen und gafften. Solvan hatte die innere Zugbrücke hochziehen lassen, damit nicht auch noch neugieriges Volk herbeiströmte, das Durcheinander war groß genug.

Schneemond trennte sich von Rowarn und näherte sich mit schweren Schritten Angmor, der allein am Rand stand. Ihre Mähne flatterte im Wind, und hoch aufgerichtet blickte sie auf den Dämon herab.

»Ich bin Lichtsängers Tochter«, zischte sie so scharf, dass Rowarn zusammenzuckte. Diese Stimme hatte er bei ihr noch nie gehört. Und ihre Worte ... Unwillkürlich griff Rowarn nach dem Schwertknauf.

Angmor richtete seine eisglühenden Augen auf sie. »Ich grüße Euch.«

Schattenläufer kam an Schneemonds Seite und machte durch seine Haltung deutlich, dass er zu seiner Gemahlin stand, was immer jetzt geschehen mochte. Die Luft zwischen den Velerii und dem Dämon knisterte.

»Nur dem Umstand, dass Ihr der Visionenritter seid, habt Ihr meine Zurückhaltung zu verdanken«, fuhr Schneemond mit klirrender Stimme fort.

»Ich verstehe«, sagte Angmor ruhig. »Aber lasst mich sagen, ich erinnere mich gern an die Lieder Eures Vaters. Und es ist mir eine Ehre, Euch zu begegnen, Schneemond, Lichtsängers edle Tochter. Königin Ylwa hat oft von Euch gesprochen – auch von Euch, geehrter Schattenläufer, als ihren besten Freunden. Sie hat Euch geliebt.«

Schneemond rang nach Luft. »Aber wie ... konnte sie ... Euch lieben?«, stieß sie mühsam hervor.

»Weil andere Zeiten kommen«, antwortete Angmor. »Und weil darum manches verblasst und in Vergessenheit geraten muss.«

Die Velerii ballte die Faust. »Ich nicht«, sagte sie leise. »Ich werde niemals vergessen. Ich habe es versucht, aber ich kann es nicht.«

»Gewiss«, sagte Angmor. »Ich stehe Euch zur Verfügung, wenn der Krieg um das Tabernakel beendet ist. Aber bis dahin lasst uns auf derselben Seite kämpfen.« Er verneigte sich leicht, drehte sich um und ging.

Rowarn lief Schneemond nach, als sie aufgebracht die andere Richtung einschlug. »Er ist mein Vater«, stieß er atemlos hervor.

»Du weißt nicht, wer er ist«, erwiderte Schneemond.

»Doch, das tue ich. Zumindest zum Teil, und den Rest ahne ich.« Rowarn ergriff sie am Handgelenk und hielt sie fest. »Ehrwürdige Mutter, bitte, ich will nicht zwischen euch stehen, und ich will nicht wählen müssen. Ihr seid alle in meinem Herzen. Ich bin auf der Welt, weil meine Mutter ihn liebte. Sie würde sich deswegen nicht vor euch rechtfertigen. Niemand braucht sich seiner Liebe wegen zu schämen oder zu verteidigen. Und Angmor ...« Rowarn fuhr sich durch die Haare und sah kurz seinem Vater nach, der auf den Baron zusteuerte. »Er bezahlt bereits einen hohen Preis.«

»Wird das genügen?«, fragte Schneemond dumpf.

»Du hast nicht das Recht, den Preis festzusetzen!«, sagte Rowarn heftig. »Oder Angmor zu verurteilen. Er ist nicht mehr der, der er einst war. Er war es schon nicht mehr, als er Ylwa begegnete. Seit er ein Visionenritter ist, hat er so viel Gutes getan. Zuletzt hat er Noïrun das Leben zurückgeschenkt! Und die ganze Zeit über, seit unserer ersten Begegnung, war er für mich da und beschützte mich. Er ist jetzt auf unserer Seite, und das ist das Einzige, was zählt.«

Schattenläufer legte eine Hand auf Schneemonds Schulter. »Lass es gut sein, Liebste«, bat er. »Um Rowarns willen.«

Schneemond ließ den Kopf sinken und atmete tief durch. »Ich werde Frieden halten«, sagte sie schließlich. »Über das andere lasst mich erst nachdenken.«

»So wie ich es werde«, versetzte Rowarn. »Darüber, dass ihr mich belogen habt, als ihr damals vorgabt, Nachtfeuer nicht zu kennen.«

»Jeder aus der alten Zeit kennt ihn, Rowarn! Du ahnst nicht, was er getan hat. Was mein Vater durch ihn erleiden musste! Darum haben wir den Namen und den Dämon aus unserem Gedächtnis verbannt, um niemals mehr daran erinnert zu werden.« Schneemond fiel es schwer, dies einzugestehen.

Schattenläufer fügte hinzu: »Törichterweise versuchten wir zu leugnen, dass es ihn gibt, dass wir jemals mit ihm in Berührung gekommen sind. Als ob das alles austilgen würde ...«

»Deshalb also hast du nicht eindringlicher versucht, mir meine Rache auszureden, Ehrwürdige Mutter«, stellte Rowarn leise fest.

Schneemond wandte das Gesicht zum Himmel. Ihre Augen glänzten feucht. »Es war falsch«, flüsterte sie. »Ich habe mir schon lange deswegen Vorwürfe gemacht. Erst recht, nachdem du uns geschrieben hast, dass er dein Vater ist. Aber ich kann ... ich kann ihm nicht vergeben.«

Rowarn nickte. »Das verstehe ich und würde es auch nie von dir verlangen. Ich bitte dich nur, nicht Gleiches mit Gleichem vergelten zu wollen. Nicht jetzt, da so viel Zeit vergangen ist und sich alles verändert hat.«

Schattenläufer strich über die weiße Rückenmähne seiner Gemahlin. »Unser Kind soll in eine Zeit des Friedens geboren werden, in der Hass nur eine ferne Erinnerung ist«, sagte er sanft zu ihr. »So lange schon quälst du dich damit. Befreie dich davon und richte den Blick nach vorn.«

»Ich werde ihn beobachten«, rang Schneemond sich zu einer Entscheidung durch. »Und ich werde versuchen, gerecht zu sein.«

Rowarn war erleichtert. »Danke. Jetzt sollten wir uns der Aufgabe zuwenden, die noch vor uns liegt.«

»Richtig«, stimmte Schattenläufer ernst zu. »Komm mit, Ziehsohn. Berichte uns von deiner Fahrt.«



Sie gingen um die Burg herum, in den Garten, wo sie einigermaßen für sich waren. Rowarn berichtete in verkürzter Form, was ihm widerfahren war, und von dem, was Arlyn zuletzt gesagt hatte.

»Ich stimme ihr zu«, sagte Schneemond, »dass der siebte Splitter erst dann gefunden werden kann, wenn die sechs Teile zusammengefügt wurden. Das Tabernakel muss sich selbst heilen, anders ist es nicht möglich, sonst wäre dieses Bruchstück nie verloren gegangen. Der siebte Splitter ist der innere Kreis, der alle anderen Teile miteinander verbindet.«

»Aber was meinte Arlyn damit, dass der sechste Splitter zu mir kommen würde?«, fragte Rowarn ratlos. »Wie kommt sie darauf?«

»Weil er schon unterwegs zu dir war«, antwortete Schneemond lächelnd. »Arlyn zog den richtigen Schluss aus dem versperrten Weg im Freien Haus.«

»Ich verstehe nicht ...«

»Gleich wirst du es.«

Schneemond griff in ihren Nacken. Rowarn war nie aufgefallen, selbst bei starkem Wind nicht, dass ganz dicht an der Haut ein Stück der Mähne geflochten war. Die Velerii löste den Zopf, glitt mit den Fingern hindurch und hielt dem Ziehsohn die Faust hin. Dann drehte sie die Hand nach oben und öffnete sie.

Darauf lag der sechste Splitter.