Kapitel 34

Im Antasa-Tal


Sie sahen Aschteufel und dem im Sattel kauernden Olrig nach, bis beide zwischen den Bäumen verschwunden waren.

Dann befahl Angmor: »Aufsitzen.«

Er übernahm wie zuvor die Führung, danach kamen Rowarn und Arlyn, weiter hinten Tamron und Ragon und zuletzt als Nachhut die vier Ritter. Graum lief auf und ab, meistens ein gutes Stück voraus.

Hinter sich ließen sie ein Schlachtfeld voll Leichen, die sich die Aasfresser holen sollten. Und das war noch das Beste für sie.

Nun siehst du, meldete sich eine boshafte Stimme in Rowarn. Es braucht gar keinen Verräter. Der Erste von euch ist erledigt.

Heriodon war tot. Tracharh ausgeschaltet. Ein wichtiger Fortschritt. Aber zu einem hohen Preis ...

Im Augenblick interessierte Rowarn sich nicht für den Verräter. Er spielte keine Rolle mehr. Wenn er nicht unter ihnen war, wusste er nichts von diesem alles verändernden Ereignis. Wenn er es war, konnte er sein Wissen derzeit nicht weitergeben.

Was an diesem abgelegenen Ort geschehen war, würde Femris nicht so schnell zu Ohren kommen, und ebenso wenig den Heerführern auf beiden Seiten. Es würde eine Weile dauern, bis man nach Heriodon suchte. Im Augenblick waren sie also im Vorteil, zumindest für ein paar Tage, und sie würden ihn nutzen. Dubhan war nicht mehr weit entfernt.

Rowarn war wie taub. Er wollte sich keine Gedanken darum machen, was dort in der lichtlosen Burg geschehen mochte. Ob sie Femris wirklich nahe kamen. Erst musste er damit fertig werden, dass sie Noïrun und Olrig als Kampfgefährten verloren hatten. Das hätte er sich niemals vorstellen können – jeden anderen, aber nicht diese beiden.

Leise sagte er zu Angmor: »Was kannst du für Noïrun sehen?«

»Nichts«, antwortete sein Vater.

Rowarns Unterlippe fing an zu zittern. »Weil ...?«

»Ich brauche meine Gabe dafür nicht einzusetzen, Rowarn«, antwortete Angmor nüchtern. »Noïrun lag im Sterben. Nicht einmal Arlyn kann ihm noch helfen. Wenn du etwas für ihn tun willst, dann bete darum, dass er nicht zu lange leiden muss.«

»Er wird nicht aufgeben«, flüsterte der junge König. »Und ich auch nicht.« Er sah die Herrin von Farnheim an. »Hast du es wirklich getan? Ihn aufgegeben?«

In den schwarzblauen Augen der Heilerin lag dunkle Trauer, das Gold ihrer Pupillen war verblasst. Sie blickte aufs Land hinaus, das sich unschuldig im Sonnenlicht ausbreitete. Der Wald war nicht mehr fern, dunkle Bäume warfen ihre Schatten voraus, als die Sonne weiter Richtung Westen wanderte.

Arlyn sang:


»Wenn der Himmel zerbricht

Wenn die Sonne erlischt

Wenn die Blumen Trauer tragen

Weine nicht um mich, mein Lieb

Eine Reise ist es nur

Die ich nun unternehm

Sieh, dort schreite ich dahin

Meine Spuren erstarren im Marmor

So wandle ich durch den Großen Bogen

Gehe hin zum Rand der Welt

Dort breite ich die Flügel aus

Und siehe, ich fliege schon

Sieh hin, dort öffnet sich der Himmel

Und dahinter erblüht die Rose.«


Rowarn weinte daraufhin.

Doch als er damit fertig war, wiederholte er gegenüber Arlyn und Angmor: »Ihr habt ihn aufgegeben, ich aber nicht. Und darum wird er leben.« Und dann sprach er nicht mehr über Noïrun, und niemand wagte es, den Fürsten jemals wieder in seiner Gegenwart zu erwähnen.



Weiter ging es durch den Wald, doch laut Angmors Ankündigung waren es nur noch die letzten Ausläufer. Und es stimmte. Bereits am nächsten Tag öffnete sich endgültig das Land, als sie den Waldsaum ein letztes Mal hinter sich ließen.

Das Antasa-Tal lag vor ihnen, eine langgezogene, trockene, raue Steppe, durchfurcht von Gräben und Flussläufen wie das Gesicht eines alten Mannes, der viel erlebt hatte. Keinen Baum gab es hier mehr, nur noch mächtige Sträucher, teils stachelbewehrt. Große Disteln blühten in herbstlichem Weiß und Blau, und überall erhoben sich in der Sommerhitze erstarrte Lehmbauten, trutzige Türme und skurrile, kegelförmige Gebilde, die durch Stege und Bögen miteinander verbunden waren. Teils erschienen sie dick und undurchdringlich wie Wehrmauern, teils aber auch waren sie durchlöchert wie ein Sieb, zeigten verkleinerte Fenster und Eingänge, Plattformen und sogar Falltüren. 

So sah Rowarn es jedenfalls in seiner Phantasie und spielte damit. Er stellte sich winzige Städte in diesen Gebilden vor, während sie daran vorüberritten. Er malte sich aus, wie fingernagelgroße Geschöpfe dort ein- und ausgingen, Handel trieben, über die täglichen Widrigkeiten des Lebens klatschten und den Fortgang der Saat beobachteten. Und er fragte sich, welche Tiere diese Gebilde wohl bauten. Vielleicht eine Art der Blutschnabel-Lehmvögel, die bekannt waren für ihre kunstvollen Nestbauten, ähnlich wie Bienenwaben Nest an Nest an Steilwände gereiht? Sie modellierten die Brutsiedlungen wie ein Töpfer den Ton und ließen sie von der Sonne hart backen. Diese Gebilde trotzten dann sogar Unwettern, so gut wie gestampfte und nach langer Trocknung ausgehärtete und zusätzlich im Ofen gebrannte Ziegel.

Die Trichter- und Kegelbauten, Türme und Nadelspitzen verteilten sich, so weit das Auge reichte. Seen unterbrachen das Muster, von stillen, flachen Sandufern gesäumt. Wo die sanften Wellen ausliefen, bildeten sich Salzkrusten in einzigartigen Strukturen, glitzernd wie Schnee im Sonnenlicht.

In den seichten Gewässern wateten Vögel in Purpur und Violett, die mit den gekrümmten Schnäbeln unentwegt das Wasser durchsiebten, und weiter draußen kreuzten fliegende Fische in Schwärmen. Sie erhoben sich in perfekter Eintracht wie ein einziger Flügel aus dem Wasser, schnappten nach den Myriaden knapp über dem Wasser flatternder Insekten, schlugen einen Bogen und tauchten wieder in einer dampfenden Fontäne ein.

Doch manche bezahlten dafür auch mit dem Leben. Rowarn sah plötzlich ein Glitzern knapp unter der Wasseroberfläche, einen schmalen Schatten. Plötzlich fuhr ein langer, zahnbewehrter Rachen aus dem Wasser. Der Jäger schnappte blitzschnell zu und war gleich darauf wieder im Zwielicht verschwunden.

Rowarn sah am anderen Ende des Sees die Ruinen eines großen, alten Schlosses mit vielen Nebengebäuden und einem mächtigen Mauerring.

»Das ist lange vergangen«, sagte Angmor. »Ein Herrscher der Alten, die Valia verließen.«

»Nicht alle«, widersprach Arlyn.

Als Rowarn sie fragend anschaute, erklärte sie: »Mein Vater blieb.«

Er war überrascht. »Und deine Mutter ...?«

»Sie kehrte zurück zu meinem Vater.« Arlyn lächelte. »Eine sehr romantische Liebesgeschichte, wenn man meinen Eltern glauben will.«

»Ich glaube es«, brummte der Visionenritter. »Loghir war völlig verrückt nach deiner Mutter, und sie nach ihm. Den ganzen Tag steckten sie zusammen, wenn er einmal im Ordenshaus weilte.«

Arlyn lachte. »Willst du behaupten, mit dir und Ylwa hätte es sich nicht so verhalten?«

»Das war etwas anderes.«

»Und was? Ich bin ganz Ohr.«

»Ich ...« Angmors Blick ging in die Ferne. Dann sah er kurz Rowarn an, und ein seltsam weicher Ausdruck huschte dabei flüchtig über sein Gesicht. »Nein. Nichts anderes war es. Und ich schätze mich glücklich deswegen, genau wie dein Vater auch.« Mit strengem Ausdruck kehrte sein Blick zu Arlyn zurück. »Du bist respektlos, junge Dame, und ich muss dich dafür nicht zum ersten Mal rügen.« Und er trieb Noïruns Wallach an, mit dem er vorlieb nehmen musste, seit er sich von Aschteufel getrennt hatte. Das Pferd war ein typisches Schlachtross, für einen Ritter in Rüstung gezüchtet, schwer und gedrungen, doch litt es offensichtlich unter dem Gewicht des Visionenritters, und Rowarn wartete jeden Moment darauf, dass es unter ihm zusammenbrach.

Vergnügt grinste Rowarn Arlyn an. »Niemand wagt das, außer dir.«

Sie blieb jedoch erstaunlich ernst. »Rowarn, er kennt mich seit meiner Geburt, und ich ihn, solange ich zurückdenken kann. Er hat mich auf seinen Knien gewiegt, wenn niemand zugesehen hat. Für einen Dämon ist er ebenso außerordentlich gefährlich wie außerordentlich gefühlvoll. Ich glaube, es gibt keinen wie ihn.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Warum haderst du mit ihm?«

»Aus vielen Gründen«, antwortete er. »Der erste mag inzwischen Eifersucht sein, weil er zwanzig Jahre mit dir und nicht mit mir verbrachte.«

»Es tut mir leid.«

»Nein! Nein ... das sollte es nicht. So habe ich das nicht gemeint. Ich habe keine solche Tragödie durchleben müssen wie du. Ich bin froh, dass er bei dir war und dir helfen konnte. Das war das Beste für dich, Arlyn.«

»Das Gute mag sich ins Schlechte verkehren«, sagte sie sinnend. »Doch aus Schlechtem wiederum erwächst Gutes.«

»Was meinst du damit?«, fragte er unruhig.

»Ich meine damit, dass weder Regenbogen noch Finsternis das Recht haben, den Krieg für sich zu entscheiden, weil es so niemals von Ishtru gedacht war, und weil wir so auch nie wieder zu Harmonie und Gleichgewicht zurückkehren können. Und ich glaube, Rowarn, dass hier auf Waldsee, einer der ältesten und größten Welten des Universums, auf die die anderen Welten ehrfürchtig schauen, ein Zeichen gesetzt werden soll. Mit dem Tabernakel, und es liegt an uns.«

»Du und ich?«, flüsterte er.

»Du und ich«, bestätigte sie.

»Oje«, war alles, was ihm dazu einfiel.



Ragon sicherte nach allen Seiten. »Ich hoffe nur, wir treffen auf keine weitere Patrouille«, bemerkte er. »Wir präsentieren uns hier weithin sichtbar.«

»Keine Gefahr«, versicherte Angmor. »Hier herrschen seit einigen Jahrhunderten die Antasi. Sie halten alles auf, was sich anschleichen und Böses will.«

»Also deshalb nehmen wir den direkten Weg?«

»Entschuldigt die Zwischenfrage«, warf da Laradim ein. »Aber hört ihr das auch?«

Rowarn lauschte, dann nickte er. Rings um sie, im dürren Steppengras, wuselte das Leben, es schnarrte und scharrte, zirpte und rasselte. »Ja, das sind Zirpsen«, sagte er.

Reeb schüttelte es. »Keine Heuschrecken? Ich kenne Heuschrecken. Ein einziger Schwarm besteht aus Millionen, und sie ... wenn sie über ein Gebiet herfallen ...«

»Nein«, beruhigte Rowarn ihn. »Es sind nur Zirpsen, grüne und braune, die großen und die ganz kleinen, sieh doch nur.« Er deutete nach unten, und tatsächlich hüpfte in diesem Moment ein langbeiniges Insekt aus dem Gras, schlug einen hohen Bogen und landete neben einem anderen, das sirrend die Hinterbeine aneinanderrieb. »Sie feiern zu dieser Zeit Hochzeit, legen Eier, und dann sterben sie.«

»Sie sind gute Wächter«, fügte Angmor hinzu. »Wenn sie verstummen, ist jemand auf der Jagd. Dann wissen wir, dass wir verfolgt werden.«

»Entschuldigt«, wiederholte Laradim, nun deutlich ungehalten. »Aber das habe ich nicht gemeint. Das ist ein anderer Klang, viel stärker.«

»Ja, das sind die Antasi«, bestätigte der Visionenritter.

Oïsin sagte düster: »Das gefällt mir nicht.«

Doch es war schon zu spät. Rowarn hörte es plötzlich, ein dumpfes Brummen, das schlagartig anschwoll. Windstürmer wurde nervös, schnaubte und scheute. Rowarn zog das Schwert.

»Gegen wen willst du kämpfen?«, fragte Graum verwundert, der gerade von einem Spähdienst zurückkam. Fashirh war ein gutes Stück weiter vorn zu sehen und signalisierte, dass alles in Ordnung sei. Der Rote Dämon bewegte seinen mächtigen Körper so schnell wie ein Pferd, wenn es sein musste.

»Sag du es mir«, antwortete Rowarn. »Wer sind die Antasi?«

»Niemand, den wir fürchten müssen«, behauptete Angmor.

»Ich glaube, da täuschst du dich«, sagte Tamron und deutete auf einen besonders hohen Lehmbau auf der linken Seite vor ihnen. Es stimmte, von dort kam das mächtige Brausen, das jetzt zu einem alles übertönenden Dröhnen anschwoll.

Und dann quollen sie heraus. Fingerlange, ameisenartige Insekten mit kupferfarben glänzenden Leibern, mächtigen Köpfen mit großen Facettenaugen und gewaltigen Kieferzangen. Hunderte, Tausende, ihre Zahl war bald unüberschaubar. Wie Lava aus einem explodierten Vulkan flossen sie aus Löchern und Ritzen des Lehmbaus, sprudelten wie eine Springquelle aus der obersten Kaminöffnung. Nebeneinander, übereinander, eine einzige wimmelnde und wuselnde Masse. Die langen Antennenfühler erzeugten ein schrilles Sirren, sobald sie sich aneinander rieben, und so schienen sie sich untereinander auszutauschen, denn sie änderten wie auf Kommando abrupt die Richtung.

Arlyn hielt sich die Ohren zu, und Tamron rief: »Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen!«

Derselben Meinung waren auch Rowarn und vor allem Windstürmer, der bereits bockspringend losjagte.

Die Antasi aber hatten sie bemerkt. Und sie breiteten grellgelbe, große Flügel aus und erhoben sich schwirrend in die Luft. Einer nach dem anderen, bis sich eine gewaltige rotgelbe Wolke bildete. Brummend und schwirrend, schrill pfeifend folgte diese den Gefährten, die ihre Pferde anspornten. Angmor sah keinen Grund zur Eile, hatte jedoch keine Wahl, als sein Wallach durchging.

»Was habt ihr?«, rief Graum. »Sie tun euch nichts!«

»Sie sind Fleischfresser, du Narr!«, gab der Unsterbliche zurück. »Zum Wasser, das ist unsere einzige Chance! Sie können nicht schwimmen!«

»Verdammt!«, rief Angmor. »Ihr seid Warmblüter, das habe ich vergessen! Graum, versuch sie aufzuhalten!«

»Wie denn, Herr?«, schrie der Schattenluchs verzweifelt, während er umhersprang, nach den wimmelnden Insekten schlug und schnappte. »Es sind einfach zu viele!«

Windstürmer bog gerade noch vor einem Lehmkamin ab und hielt auf eine glitzernde Fläche zu, an deren Ufern große, weiße Kristalle lagen, gleißend im Sonnenlicht.

»Wir schaffen es nicht!«, rief Arlyn und schrie im nächsten Moment auf.

Die gelbglühende, dröhnende Wolke senkte sich auf die Gefährten herab, und auch Rowarn schrie auf, als die ersten der fingerlangen Tiere auf Gesicht und Hals landeten und ihn mit ihren scharfen Zangen bissen. Gleichzeitig sonderten sie eine Flüssigkeit ab, die brannte und ihm das Gefühl gab, als würde seine Haut aufgelöst. Gierig bohrten die geflügelten Insekten die Kieferklauen in seine Haut und rissen Fleischfasern aus ihm. 

Rowarn schlug um sich, packte die harten Insekten, zerquetschte sie mit den behandschuhten Händen und schleuderte sie zu Boden. Doch bald bissen sie sich durch die Handschuhe, lösten das Leder mit ihrer Säure auf, krochen in die Öffnungen seiner Kleidung, krabbelten über seine Haut und bissen ihn in Brust und Bauch. Brüllend schlug Rowarn auf sich selbst ein, hörte es knacken, spürte widerlichen Schleim an sich hinunterlaufen, und das Brennen wurde immer schlimmer. Nur noch mit Mühe konnte er sich im Sattel halten, weil Windstürmer ähnlich gequält wurde. Selbst der treue Falbe ging jetzt durch, buckelte und sprang herum, schnappte nach den Antasi und wieherte grell. 

Rowarn versuchte, ihn in die richtige Richtung zu lenken, denn das panische Pferd fing an, im Kreis zu rennen, kopflos irgendwohin, nur weg von den Peinigern. Blut und Schleim rannen an ihnen beiden hinab, und das machte die Raubinsekten erst recht gierig und mordlüstern. Mit glitzernden Augen und sirrenden Fühlern stürzten sie sich in immer größerer Zahl aus der surrenden Wolke auf die Gefährten, fielen auch über sterbende und halb zerquetschte Artgenossen her.

Einzelne Worte waren in dem Geschrei und brausenden Lärm nicht mehr zu verstehen. Rowarn versuchte, den Überblick zu behalten, aber er konnte nicht mehr sagen, wer noch im Sattel saß und wer bereits abgeworfen war. Er drosch mit den Zügelenden auf Windstürmers Kruppe und schlug ihm die Fersen in den Bauch, damit der Wallach endlich geradeaus lief, auf die Rettung zu. 

Rowarns Augen waren verklebt, und er konnte nicht mehr viel erkennen, doch er glaubte, dass der See schon näher gerückt war. Das Gift der Antasi kreiste inzwischen in seinen Adern, wahrscheinlich mehr davon als Blut. Ihm wurde schwindlig und übel, er fühlte sich benommen, und der Drang wurde immer stärker, einfach aufzugeben, sich von Windstürmer fallen zu lassen und sich den Antasi zu opfern. Das pausenlose schrille Surren und Summen hämmerte in seinem Kopf und lähmte die Gedanken, und bald sah er nur noch die Antasi vor sich, abgehoben von der Steppe, die ihn aufforderten, mit ihnen zu kommen; in ihnen aufzugehen, aufgeteilt auf hunderttausend oder mehr der Insekten, die ihn aufsaugten, in sich aufnahmen, sein Fleisch und seine Seele mit sich nahmen als ewige Erinnerung. Er würde vieltausendfach fortleben, mit der Königin Nachkommen zeugen und Gründer eines neuen Volks der Antasi sein, noch stärker, noch mächtiger als zuvor ...

Etwas rammte ihn seitlich, und er wäre beinahe aus dem Sattel gestürzt. Nur mit Mühe konnte er sich oben halten. Instinktiv, weil er schon seit frühester Kindheit auf dem Pferderücken saß, hielt er sich fest. Seinen bewussten Sinnen hingegen wäre es sehr willkommen gewesen, die Entscheidung abgenommen zu bekommen und sich einfach zu ergeben.

Sein Kopf wurde von etwas mit Wucht getroffen, und er schüttelte ein wenig die Benommenheit ab. Endlich erkannte er Tamron, der neben ihm galoppierte und mit einer Peitsche auf ihn eingeschlagen hatte.

»Komm endlich zu dir!«, schrie der Unsterbliche ihn an. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er war bleich. Blut strömte an ihm herab. »Wenn du jetzt nachgibst, ist es aus!«

Rowarn riss sich zusammen, übernahm wieder die Zügelführung, und dann gehorchte Windstürmer endlich und hielt auf den See zu, der schon ganz nahe war. Der junge König war immer noch geistesgegenwärtig genug, die Ausrüstung vom Sattel zu lösen und abzuwerfen, und er sah, wie Tamron durch die Reihen der Gefährten raste und dasselbe tat. Wie er es schaffte, das Pferd noch so zu lenken, war bewundernswert.

Nicht abschweifen! Rowarn schrak zusammen, und dann tauchten die Hufe endlich ins Wasser. Ein Glück, dass Windstürmer jetzt nicht zurückschreckte. Im vollen Galopp raste er weiter, in einer gewaltigen Fontäne ins Wasser hinein. Rowarn ließ sich von ihm herabgleiten und tauchte unter; und dann merkte er endlich, wie die scheußlichen Kreaturen von ihm abließen und ertranken. Jede von ihnen stieß eine Luftblase aus, zappelte noch einmal kurz und trieb dann nach oben, während Rowarn weitertauchte und sich die Kleidung vom Leib riss. Die Wunden brannten in dem salzigen Wasser wie Feuer, aber gleichzeitig wurde er davon gut getragen, und er musste nicht viel tun, um sich zu halten.

Als er wieder auftauchte, war die Oberfläche um ihn von einer riesigen Masse Antasi bedeckt. Der Großteil der Wolke musste sich voller Gier in den Tod gestürzt haben, bevor die Letzten endlich abdrehten. Manche der Insekten schlugen noch schwach mit den Flügeln und zappelten leicht. Doch da kamen schon die Fische und hielten einen Festschmaus. Das Wasser um Rowarn herum kochte, und er fühlte die schuppigen, wimmelnden Leiber um sich, zahnbewehrte Lippen zupften an ihm. Es war jedoch nicht unangenehm, sondern eher erlösend, wie eine Reinigung.

»Arlyn!«, rief er.

»Ich bin hier«, hörte er eine erschöpfte Stimme, und er drehte sich zu ihr. Sie stand bis zur Hüfte im Wasser und bot einen fürchterlichen Anblick, bei dem Rowarn sich vorstellen konnte, wie er selbst aussah. Bleich, erschöpft, aus vielen kleinen Wunden blutend, und triefnass. In der Nähe strampelten die Pferde durchs Wasser, prustend und schnaubend, und schüttelten erleichtert die Köpfe.

Angmor, Fashirh und Graum hatten das Ufer inzwischen auch erreicht. »Ist alles in Ordnung?«, rief der Visionenritter.

»Angmor, verdammt nochmal!«, brüllte Tamron außer sich vor Zorn. So hatte Rowarn den Unsterblichen noch nie erlebt. Er schlug aufs Wasser und scheuchte die um ihn zappelnden Fische weg. »Bist du von allen Göttern verlassen? Was sollte das? Du hast uns beinahe umgebracht!«

»Das war nicht beabsichtigt«, sagte der Visionenritter. »Für uns stellten die Antasi nie eine Gefahr dar. Ich habe nicht daran gedacht.«

»Natürlich nicht!«, schrie Tamron. »Weil sie nicht durch eure Dämonenhaut beißen können, und weil kein warmes Blut durch eure Adern fließt! Das hätte dir doch klar sein müssen, bei allen feuerspeienden Drachen! Wie lange reist und kämpfst du schon mit Warmblütern? Glaubst du, die Antasi machen einen Unterschied, ob wir zu Regenbogen oder Finsternis gehören?«

»Ich sagte bereits, dieser Fehler ist mir zu spät bewusst geworden. Es liegt an eurer Aura ...«, versuchte Angmor zu erklären. 

»Nein, es ist der Geruch! Unsere Wärme! Verdammter Narr, du hättest uns warnen müssen!« Kopfschüttelnd wandte Tamron sich ab und versuchte, sein Pferd einzufangen. Windstürmer war bereits auf dem Weg zum Ufer, und die anderen folgten ihm.

Nun, nachdem die Gefahr vorüber war, erholten sie sich allesamt schnell, und Tamrons Zorn griff auch auf die anderen über. Schimpfend und fluchend kämpften sie sich durchs Wasser und sammelten ihre Habseligkeiten ein.

Selbst Arlyns Augen funkelten wie ein schwarzes Leuchtfeuer. Über ihrem nassen Haar lag ein rötlicher Schimmer, wie die Aura einer fernen Sonne. Das Gewand klebte wie eine zweite Haut an ihr.

Nur Rowarn blieb ruhig. Er war viel zu erleichtert, dass dieses Abenteuer gerade noch gut überstanden war, und er sah an Graums schuldbewusster Miene, dass die Dämonen es wirklich nicht als Gefahr verstanden hatten. Sie hatten die Gefährten vor möglichen Verfolgern in Sicherheit bringen wollen und dabei tatsächlich nicht in Erwägung gezogen, dass die Antasi sich auf jedes warme, weiche Fleisch stürzen würden. Die Ameisen waren keine magischen Geschöpfe, und ihr Denken, soweit vorhanden, nur auf Nahrungsbeschaffung und Fortpflanzung ausgerichtet. Sie erschufen kunstvolle Bauten, doch nicht um Eindruck zu schinden oder sich an Schönheit zu erfreuen, sondern weil sie es konnten. Weil sie damit am besten überlebten.

Immer noch schrien alle durcheinander und überhäuften die Dämonen mit Vorwürfen, bis Rowarn die Hand hob und eindringlich rief: »Ruhe! Beruhigt euch! Seid still!«

Endlich hielten sie inne und wandten sich ihm zu. »Sie können nichts dafür«, fuhr Rowarn ruhig fort. »Sie sind Dämonen, und aus ihrer Sicht war es ein guter Weg. Wir haben es überlebt, und so schnell wird sich niemand an unsere Fersen heften.« Er deutete zum südlichen Ufer des Sees, an dem hohes Schilf wuchs und Vögel in großer Zahl im seichten Wasser wateten. »Wie sieht es dort aus? Besteht irgendeine Gefahr durch einen weiteren Angriff der Antasi?«

»Nein«, antwortete Fashirh. »Dort hinten beginnt Lakat-Land, dorthin fliegen die Antasi nicht. Ich glaube, sie mögen den Geruch nicht.«

»Gut«, sagte Rowarn zufrieden. »Heute können wir nicht mehr weiter, unsere Sachen und Sättel müssen erst trocknen. Ich nehme an, unsere Wunden schließen sich von selbst durch das Salzwasser?« Er sah Arlyn an.

Sie nickte. »Aber ich muss uns allen ein Mittel gegen das Gift geben. Ihr merkt es jetzt noch nicht, aber über Nacht würden sich eure Glieder und Muskeln so versteifen, dass ihr euch morgen nicht mehr rühren könnt.«

»Dann entkommt den Antasi wirklich nichts.« Rowarn war im Nachhinein beeindruckt. Er wandte sich an die Dämonen: »Fashirh, Graum, ihr nehmt die Ausrüstung und die Pferde und geht um den See. Zu den Vögeln dort drüben. Sucht einen guten Lagerplatz und stellt Stangen auf, irgendetwas, damit die Sachen trocknen können.« Er wandte sich an Arlyn und Laradim. »Könnt ihr beide dorthin schwimmen?«

Arlyn nickte, und Laradim sagte: »Selbstverständlich.«

»Dann macht euch auf den Weg, reinigt euch dort und lasst euch neue Kleidung geben. Wir bleiben so lange hier und sehen zu, dass wir ebenfalls den ganzen Schleim und Dreck loswerden.« Rowarn merkte erst jetzt, dass er bereits bis auf den Lendenschurz nackt war. Der stille Norem hatte seine umhertreibenden Sachen eingesammelt und bereits ans Ufer getragen. »Dann schwimmen wir ebenfalls hinüber und werden rasten. Wer sorgt für das Essen?«

»Ich fange Fische«, erklärte sich Fashirh bereit.

»Lara und ich werden uns um die Beilagen kümmern«, sagte Arlyn. »Ich weiß, wo wir suchen müssen.«

Die Ritterin nickte. »Ja, das ist kein Problem für uns. Lasst euch Zeit.«



Die Männer brauchten eine ganze Weile, bis auch die letzten Spuren beseitigt waren; es war vor allem knifflig, die hängengebliebenen Kieferzangen aus der Haut zu bekommen. Aber schließlich entschied Rowarn, dass er den Frauen genug Zeit gegeben hatte, und sie schwammen gemeinsam zum anderen Ufer.

Am Abend waren sie bereits wieder guter Dinge und konnten über das Abenteuer sogar schon vorsichtig lachen. Fashirh und Graum hatten sich redliche Mühe gegeben, die Gefährten zu versöhnen: Es gab eine gute Mahlzeit, die Pferde waren versorgt, und keiner der Geschundenen brauchte sich um die Nachtwache zu kümmern.

Rowarn hielt sich abseits. Still saß er am sandigen Ufer des Sees, betrachtete die im Mondlicht aufblühenden großen Salzfiguren und Kristalle und lauschte dem Quaken und Zirpen der Nachttiere. Er blickte auf, als Angmor sich näherte. Die eisglühenden Augen des Dämons leuchteten durch die Dunkelheit, und Rowarn wusste endlich, wie er selbst auf andere wirken musste. Natürlich waren seine eigenen Augen nicht so kalt, und da war auch noch der Perlmuttschimmer um ihn, wo es bei Angmor nur Finsternis gab. Aber trotzdem ließ sich seine Abstammung nicht leugnen.

»Es tut mir leid«, sagte Angmor.

Rowarn legte das Kinn wieder auf die angezogenen Knie und richtete den Blick auf das in kleinen Wellen herangleitende Wasser. Kurz bevor es seine Füße erreichte, zog es sich zurück, als wagte es nicht, ihn zu berühren. Eine Mondnatter ringelte sich nahebei durch den Sand, der Leib schimmerte wie flüssiges Silber. Kurz darauf tauchte sie ins Wasser ein. 

»Weißt du, was der Unterschied zwischen uns ist?«, fragte Rowarn und fuhr ohne Pause fort, weil er keine Antwort darauf erwartete: »Ich bin von Velerii aufgezogen worden, aber trotzdem unter Menschen aufgewachsen. Die wenigsten behandelten mich als einen der Ihren, und mir wurde immer deutlich gemacht, dass ich nie zur Gemeinschaft gehören würde. Weil ich fremd war, und die Menschen das Fremde in mir nicht verstanden und sich davor fürchteten. Trotzdem habe ich sie beobachtet. Ihre Verhaltensweisen. Ihre Ängste. Ich wollte wissen, ob sie mir ebenso fremd waren wie ich ihnen. Ich wollte die Unterschiede feststellen, um sie besser verstehen zu lernen.«

Angmor stellte sich neben ihn, eine hoch aufragende schwarze Statue gegen den Sternenhimmel.

»Du aber interessierst dich nicht dafür. Du lebst nicht unter uns, sondern außerhalb. Du teilst nichts mit uns, keinen Gedanken, keine Gefühle. Du bist kein Teil unserer oder überhaupt einer Gemeinschaft und wirst es nie sein.« Rowarn ließ die Finger durch den Sand gleiten und stieß auf Widerstand. Er griff zu und zog eine leere Muschel heraus, deren Schale weiß schimmerte. 

»Fashirh und Graum sind Dämonen, doch sie sind anders als du. Wir werden uns immer fremd sein, trotzdem sind sie Teil unserer Gemeinschaft, sie laufen und essen, jagen und kämpfen mit uns. Sie teilen so manchen ihrer Gedanken mit uns und amüsieren sich über unsere Unbeholfenheit und unsere Gefühle. Sie schlafen an unserer Seite und machen sich darüber Gedanken, wie sie uns schützen können. Denn ihr Dämonen seid uns unendlich weit überlegen, daran gibt es keinen Zweifel.« 

Langsam drehte er die Muschel zwischen den Händen. »Die einzige Verbindung, die du jemals zur Welt hattest, war die zu Ylwa. Als sie starb, war auch das Band gekappt, das ihr achthundert Jahre vorher geflochten habt. Ich glaube, das war der Grund, warum Loghir dein Freund wurde, und warum du Arlyn aufgezogen hast. Du hast es in Ylwas Sinn getan, für sie. Sie hätte es nie von dir verlangt, aber du wusstest, was sie gewollt hätte. Meine Mutter war das einzige Wesen, von dem du jemals wusstest, wie es dachte und fühlte, und bei dem dich das interessiert hat.« 

Er stand auf, straffte die Schultern und blickte seinem Vater ruhig ins Gesicht. »Zwischen uns wird eine solche Verbindung niemals bestehen.« 

Ohne zu verweilen, machte er sich auf den Weg zu seiner Schlafstätte, dann drehte er sich noch einmal um. »Loghir wollte dir einen Beinamen geben, der dir gerecht wird. Aber ich glaube, einen solchen gibt es nicht.« Damit ging er endgültig.



Rowarn war bereits eingeschlummert, als Graum zu ihm geschlichen kam und ihn weckte. »Wir haben nicht daran gedacht«, maunzte er leise.

»Natürlich nicht. Wie solltet ihr auch.« Rowarn ließ die Finger durch das seidige Fell gleiten, als der Schattenluchs sich schnurrend an ihn schmiegte. »Es war mein Fehler, dass ich nicht nachgehakt habe. Aber das ist vorbei, Graum. Wir haben es überstanden und weitaus Wichtigeres vor uns.«

»Er liebt dich«, fuhr der Schattenluchs nach einer Weile fort.

Rowarn lächelte still. »Es ehrt dich, wie du deinen Herrn verteidigst.«

»Ich meine es ernst, Rowarn. Du bedeutest deinem Vater alles. Mach ihm nicht zum Vorwurf, dass er es dir nicht zeigen kann und nicht über sich sprechen will. Es schmälert nicht seine Gefühle. Wenn es erforderlich wäre, würde er für dich sterben.«

»Schon gut, Graum. Danke.«

»Darf ich bei dir liegen bleiben? Ich habe Angst, in ein tiefes Loch zu fallen, wenn ich Seiner Herrschaftlichen Finsternis zu nahe komme. Heute ist er wieder besonders grimmig ...«

Rowarn lachte leise. »Ich wusste gar nicht, dass sich das steigern kann.« Auf einmal fühlte er sich sogar versöhnt. Er gähnte und schlief weiter. Die Reise näherte sich dem Ende, und umso ruhiger wurde er.



Am Morgen scheuchte Angmor sie früh auf. »Wir haben genug Zeit vergeudet«, sagte er.

Es war allerdings nicht so einfach, denn bei dem vierschrötigen Norem hatte Arlyns Mittel anscheinend nicht richtig gewirkt, er konnte sich kaum bewegen. Seine Muskeln waren völlig verkrampft, und er konnte Arme und Beine nicht abwinkeln. Und bei Oïsin war eine Wunde an der Hüfte aufgebrochen, die er den Gefährten verheimlicht hatte, weil er sie für nicht weiter schlimm gehalten hatte. Aber sie hatte sich durch das Antasi-Gift entzündet und Fieber verursacht. Das Salzwasser hatte einerseits reinigende Wirkung gehabt, andererseits schwächte es ihn, und er konnte ebenfalls nicht laufen.

Wenn der Visionenritter darüber ungehalten war, so sagte er es immerhin nicht.

»Die beiden können unmöglich weiter«, verkündete Arlyn nach Beendigung ihrer Untersuchung. »Drei bis vier Tage, dann sind sie wieder einsatzbereit.«

»So lange können wir nicht warten«, bemerkte Rowarn.

Die beiden Ritter machten unglückliche Gesichter. »Wir haben versagt«, murmelte Oïsin tief beschämt, und Norem nickte.

»Was schlägst du vor?«, wollte Angmor von seinem Sohn wissen.

Rowarn war für einen Moment überrascht, dass der Visionenritter nicht einfach selbst bestimmte. Dann wandte er sich dem Roten Dämon zu. »Fashirh, du wartest hier bis morgen. Ich denke, dann kannst du Oïsin und Norem auf den Pferden festbinden. Bring die beiden zu unserem Heerlager und setz Felhir in Kenntnis, was geschehen ist.« Ihm fiel auf, wie sehr er es vermied, Noïruns Namen auszusprechen. »Es wird sowieso bald bekannt, und dann werdet ihr viel tun müssen, um die Auflösung des Heeres zu verhindern.«

»Was soll Felhir tun?«, fragte Fashirh.

»Ihr müsst alle zusammenstehen«, sagte Rowarn ernst. »Zeigt den Völkern, dass uns das nicht zurückwirft. Und streut Gerüchte, die besagen, dass der Heermeister noch lebt und ... hm ... du ... du weißt, was ich meine.« Er schluckte. »Macht es nicht öffentlich, sondern hinter vorgehaltener Hand, umso mehr werden es die Leute glauben. Felhir wird schon etwas einfallen.«

»Mir auch«, sagte Ragon. »Wenn du erlaubst, werde ich das übernehmen. Ich weiß, wo ich hingehen muss, um Gerüchte zu verbreiten.«

Rowarn überlegte. Dann nickte er. »Einverstanden, geh mit zurück. Felhir wird dein Wissen und deine Erfahrung brauchen. Wir müssen jetzt alles darauf konzentrieren, das Heerlager zu befestigen und zu vergrößern. Die Dubhani müssen sehen, dass wir uns auf den Angriff vorbereiten, egal, was geschieht. Vor allem du, Fashirh, bist jetzt wichtig als Symbol der Stärke und dafür, dass wir uns immer noch auf die Unterstützung der Dämonen verlassen können. Ardig Hall ist heute stärker denn je, das müssen wir allen vermitteln.«

Er blickte zu Tamron, dann zu Angmor. »Wir gehen weiter. Reeb, Laradim, ihr seid verantwortlich für Arlyns Schutz.«

Fashirhs Bartfäden bewegten sich und verrieten die Anspannung, unter der er stand. »Alles wird geschehen, wie du es wünschst«, sagte er.

»Wenn das so weitergeht, bist bald nur noch du übrig«, merkte Arlyn an.

»Ich bin aus der Splitterkrone rausgekommen, ich werde nach Dubhan hineinkommen, und sei es auf allen vieren«, knurrte Rowarn. »Ja, wenn es sein muss, gehe ich allein. Ich werde nicht mehr länger warten.« Er machte eine auffordernde Geste. »Also los, worauf warten wir?«

Windstürmer scharrte schon ungeduldig. Er mochte die dürre Steppe nicht und wollte weiter. Rowarn nickte den beiden Rittern zu. »Alles Gute. Sorgt dafür, dass die Garde die Fahne hochhält und Stärke beweist, dem ganzen Land Valia. Zeigt euch. Macht allen klar, wofür ihr kämpft.«

»Und für wen«, sagte Norem. »Auf ein baldiges Wiedersehen, edler König.«

Oïsin neigte den Kopf. »Die Sonne möge den Pfad des Königs von Ardig Hall beleuchten.«

Ragon nickte ihm nur zu, doch seine Miene war besorgt.

Rowarn winkte ab. Das war jetzt alles unwichtig. Er trieb den Falben an, weiter Richtung Süden.

»Wie weit ist es noch bis Dubhan?«, fragte er seinen Vater unterwegs, als sie auf einem ausgetretenen Pfad entlangritten.

»Wir werden morgen das Ufer des Sees erreichen«, antwortete Angmor. »Mit dem Weg durch das Antasa-Tal haben wir viel Zeit eingespart.«

Rowarn merkte, dass der Visionenritter ein wenig zusammengesunken im Sattel saß und den Helm aufgesetzt hatte. »Du hast nach einer Vision gesucht?«

Angmor nickte. »Doch es ist ... schwierig«, antwortete er. »Verschwommen, schemenhaft. Als ob ein Bann darüber läge. Femris ist ... nicht richtig greifbar. Ich verstehe das nicht. Wir sind ihm schon so nahe, und hier ist der Einfluss Dubhans bereits zu spüren. Ich müsste leichter eine Verbindung aufbauen können.«

»Wir wissen also nicht, ob er von unserem Nahen Kenntnis hat oder nicht.«

»Ich kann es nicht feststellen. Aber ich habe die Splitter gesehen. Sie sind dort, Rowarn. Zumindest sind wir auf dem richtigen Weg.«

Steppenadler und Geier kreisten hoch über ihnen. Im Land rührte sich nichts. Ab und zu entdeckte Rowarn kleine dünne, huschende Felltiere, die in Erdbauten lebten. Lediglich einmal in weiter Ferne zog eine große Herde Pflanzenfresser vorüber, grau und gestreift, mit langen Hälsen, die immer wieder mit der Landschaft verschmolzen.

»Alles bereitet sich auf den Winter vor«, äußerte Arlyn, als sie zu Rowarn aufholte. »Und es kommt mir so vor, als wäre erst vor kurzem etwas hindurchgezogen, das alle Tiere tief verstört hat. Deswegen verstecken sie sich.« Sie deutete auf Angmor, der ein Stück vorausritt. »Er hat es gesehen, aber er will dich nicht beunruhigen.«

»Er wird es nie lernen«, seufzte Rowarn. »Wie fühlst du dich eigentlich? Vermisst du Farnheim sehr? Ist die Welt so, wie du sie dir vorgestellt hast?«

»Offen gestanden, ich mache mir keine besonderen Gedanken«, gestand sie. »Einerseits ist alles fremd, andererseits vertraut. Wie ist das für dich?«

»Ich kenne das Land hier nicht, und jede Reise ist für mich ein neues, aufregendes Abenteuer. Ich habe wie du bisher kaum etwas von der Welt gesehen, weil ich abgeschieden in Inniu aufgewachsen bin.«

Gegen Mittag erreichten sie eine Kante und erkannten, dass sie den richtigen Talgrund noch gar nicht erreicht hatten. Nun ging es in eine Schlucht hinunter, die dicht bewachsen war und aus der viele verschiedene Tierstimmen heraufschallten. Der Weg abwärts war für die Pferde gut zu begehen, und Rowarn tauchte in eine alte Welt ein, die feucht war und warm, der Boden sumpfig. Riesige Schachtelhalme, so groß wie Bäume, erhoben sich zwischen Felsklüften. Mannsgroße Pilze von verschiedener Form und Farbe bildeten hier bunte Wälder. Uralte Farne und schwammig wirkende Polypenbäume tasteten mit sich ausrollenden und beweglichen Astwedeln und fingerartigen Auswüchsen nach der Sonne. Dazu kamen ausgedehnte Flächen, die mit gelben und hellgrünen Stämmen bewachsen waren, die völlig glatt und sehr hart waren. In bestimmten Abständen wiesen sie ringförmige Ausbuchtungen auf, besetzt mit kleinen rosa Blüten, aus denen wiederum lange klebrige, dünne Stängel kamen, die nach vorbeifliegenden Insekten schnappten. Erst ganz oben bildeten sich lange Zweige, ausgestreckt wie ein Dach, mit großen rotbraunen Blättern und eiförmigen, dunkelroten Fruchtständen.

Rowarn fiel jetzt erst der Geruch auf, der schon draußen in der Steppe begonnen hatte, aber hier sehr viel auffälliger und intensiver war. Er konnte nicht sagen, ob der Geruch angenehm war oder nicht, er war süßlich, aber auch irgendwie faulend, und noch einiges dazwischen. »Das ist Lakat-Land?«

Angmor nickte. »Was du hier riechst, ist die Ausdünstung der Lakat-Schösslinge, bevor sie erstarren.« Er deutete auf die Rohrstämme. »Du wirst es gleich sehen.«

Und tatsächlich, gleich darauf schoss zwischen den glatten Stämmen etwas empor, das nach einer mehrfingrigen Schlingpflanze aussah, und schlug peitschend um sich. An den Fingerenden bildeten sich Knospen, dann Blüten und Blätter, und der Geruch wurde zum Gestank. Rowarn und die anderen mussten niesen, und sie banden sich Tücher vor Mund und Nase, weil sie es nicht aushalten konnten. Kein Wunder, dass die Antasi sich von hier fernhielten. Immer noch schlug der Schössling gegen die Stämme der Lakat, und plötzlich regnete es Vögel von oben herab – kleine bunte Tauvögel, die das Bewusstsein verloren hatten. Blitzschnell sammelten die Fingerknospen die Tiere ein, dann verschwand der Schössling wieder unter der Erde.

»Schauerlich!«, stieß Rowarn angewidert hervor. »Das sind gar keine Pflanzen?«

»Mehr so etwas wie Pilze, in dieser frühen Form. Sie können gezielt jagen.«

Sie zogen eilig weiter. Die Stimmen um sie her ertönten ungebrochen, die Tragödie des Vogelschwarms wurde nicht weiter zur Kenntnis genommen. Sehen konnte Rowarn die Verursacher des Lärms allerdings nicht, wobei hier Pflanze und Tier ohnehin kaum voneinander zu unterscheiden waren. Er sah zusammengerolltes Blattwerk, das sich beim Entringeln als seltsames Insektenwesen mit langen Greifarmen erwies, und ein Tier, das sich so langsam bewegte wie der müde Wind in den dichten Baumkronen.

Die Luft war stickig und schwül, der Himmel kaum zu sehen. Graum war der Einzige, der sich wohlzufühlen schien, was auf die Tiere des Tals eher die gegenteilige Wirkung hatte. Rowarn hörte ab und zu Geschrei und Fluchtgeräusche, und dann nicht selten das dumpfe Husten des Schattenluchses, oder er sah ihn selbst, wie ein Schattenriss durch die Luft springend.

Stechfliegen umschwirrten sie, angezogen von den kaum verheilten Wunden der Antasi.

»Hätte es einen besseren Weg gegeben?«, rief irgendwann Laradim nach vorn, während sie sich mit Handschuhen und Helm bedeckte und zusätzlich die Kapuze des Umhangs über sich zog. Dadurch lief ihr der Schweiß in Bächen herab, was die Blutsauger erst recht anzog.

»Ja, durchaus«, antwortete Angmor. »Aber er hätte sehr viel länger gedauert, und die Gefahr der Entdeckung wäre zu groß gewesen.«

Da musste Rowarn lachen. »Natürlich, so einen Weg nehmen nur Dämonen freiwillig!« Das stimmte, der Visionenritter bewegte sich völlig ungerührt von Blutsaugern zwischen angreifenden Schlingpflanzen hindurch; auch der Gestank machte ihm nichts aus. Zudem fand er sich mühelos in diesem Labyrinth zurecht, was vermutlich keinem anderen von ihnen gelungen wäre.

»Wir sind bald durch«, setzte Angmor hinzu.

Und tatsächlich, am Nachmittag nahm die Schlucht ein Ende, und es ging wieder aufwärts. Die Pferde wirkten müde und abgekämpft, ihr Fell war dunkel von Schweiß, an den Flanken und zwischen den Hinterbeinen flockte Schaum. Trotzdem kämpften sie sich tapfer nach oben, der frischeren und kühleren Luft entgegen und weg von allen Blutsaugern.

»Gehörte dies alles zum Reich deiner Vorfahren?«, fragte Rowarn Arlyn, und sie nickte lachend. 

»Wundert es dich, dass sie fortgingen und den Antasi den Platz räumten? Dieses Land ist zu wild und duldet keine Wesen wie uns.«

»Der Name Antasa ... ist das der Name deines Volkes?«

»Ja und nein. Es war unser Familienname, bevor mein Vater Visionenritter wurde. Unser Volk sind die Antahera’andu. Wir stammen von einer Insel, etwa fünf Segeltage von der Küste Dahandirs entfernt, dem glorreichen Land.«

»Und hier sind die letzten Ausläufer des Antasa-Tals«, erläuterte der Visionenritter. »Und dort«, er wies nach vorne, »wo es grün wird, beginnt Dubhan. Die Burg ist morgen Nachmittag erreicht. Wir müssen einen kleinen Umweg durch Felswald nehmen, um keiner Patrouille zu begegnen.«

Eine weite Senke erstreckte sich vor ihnen, Steppenland, durchsetzt von hohen, schlanken Bäumen mit breiten Kronen, die Früchte oder Nüsse trugen. In ihrem Schatten wuchsen zähe, dornige Sträucher. Gruppen unterschiedlicher Pflanzenfresser, die sich gegenseitig Schutz gaben, zogen über die Steppe, gefolgt von Rudeln Katzen und Hyänen.

Als sie die ersten Bäume erreichten, stieß Arlyn plötzlich einen kurzen Ruf aus. »Was war das?«

Rowarn spähte sofort, doch er konnte nichts entdecken.

»Aber da hat sich etwas bewegt!«, beharrte Arlyn. »Es sah aus wie ein Tentakel oder so etwas.«

»Das sind Gandarië«, erklärte Angmor.

Rowarn war augenblicklich alarmiert. »Und welche Gefahr droht uns von denen?«

»Keine«, antwortete sein Vater. Und fügte hinzu: »Wirklich nicht. Sie fressen das Laub der Bäume, die Früchte und die Nüsse. Sie sind neugierig, aber nicht gefährlich für uns.«

»Wenn du meinst ...« Der junge König war misstrauisch, und anscheinend gab es auch allen Grund dazu, als der erste Gandarië ins helle Sonnenlicht kam. Ein Geschöpf, so hoch wie ein mehrstöckiges Haus, mit langen Vorderbeinen und kürzeren, stämmigen Hinterbeinen. Es hatte ein langes, seidig glänzendes Fell, das sich je nach Lichteinfall veränderte und so selbst dieses Riesenwesen nahezu unsichtbar werden ließ. Zwischen den Schultern wuchs ein langer Hals empor, auf dem ein verhältnismäßig kleiner Kopf saß, mit großen Löffelohren, lang bewimperten Augen und zwei langen Dolchzähnen, die aus dem Unterkiefer nach vorn ragten. Das Auffallendste aber war die zu einem langen, beweglichen Rüssel verformte Nase, die mit drei fingerartigen Fortsätzen geschickt jede noch so kleine Nuss vom Baum zupften.

Rowarn schenkte seinem Vater allmählich Glauben, denn die Pferde zockelten ungerührt weiter, ohne auf das Riesenwesen zu achten. Als es einen Schritt machte, war die Distanz plötzlich halbiert. Es stieß einen hohen, quäkenden Laut aus, und dann senkte es plötzlich den Hals und streckte den Rüssel aus.

Arlyn hielt sofort an, als sich ihr der Rüssel näherte. Ihr Gesicht zeigte keine Furcht, im Gegenteil, sie lachte, als ihr Haar durch einen prustenden Atemstoß nach hinten geweht wurde. Sie hob die Hand, berührte die Fingerfortsätze des Rüssels, die spielerisch über sie tasteten. Der kleine Kopf senkte sich so tief wie möglich, und die großen, sanften dunklen Augen musterten die junge Frau neugierig. Sie hätte sich quer über die nach oben gebogenen Zähne legen können, das Riesentier hätte das Gewicht vermutlich nicht einmal gespürt. Liebevoll tätschelte es Arlyn mit seinem Rüssel.

Bald kamen noch mehr der Gandarië heran, prustend und schnaufend und mit diesen seltsamen, überhaupt nicht zur Größe passenden Quietschlauten.

Auch Rowarn wurde beschnüffelt, und er berührte sacht den Rüssel. Im Vorbeireiten riss er einen Zweig ab und bot ihn an. Er wurde überaus vorsichtig angenommen, ins Maul gesteckt und geräuschvoll verzehrt.

Als sie weiterritten, verloren die Riesenwesen schließlich das Interesse an ihnen und wandten sich wieder der Nahrungssuche zu.

Das Gelände war offen, sie konnten nun die Zügel freigeben und kamen schnell voran. Das grüne Band Dubhans rückte näher, und Rowarn verspürte Aufregung. Angmor schlug einen Bogen Richtung Westen, auf ein Waldgebiet zu, das bessere Deckung bieten würde. Eine Rast noch, und dann hatten sie das Ziel erreicht.

Doch da scheute Angmors Pferd plötzlich und warf den Visionenritter beinahe ab. Wiehernd stieg es und weigerte sich, weiterzugehen.

Rowarn beschleunigte Windstürmer sofort, der unruhig wurde, aber immerhin gehorchte. Dann verschlug es ihm den Atem.

»Zurück!«, rief Angmor und versuchte, sein Pferd zu wenden. »Schnell, bevor Arlyn es sieht! Hier können wir nichts mehr tun.«

Aber die Heilerin war bereits heran, bevor Rowarn sie aufhalten konnte. Schweigend verharrte sie. Auch die Übrigen waren angekommen und zeigten betroffene Gesichter.

Graum kam in seiner Dämonengestalt von dem Feld zurück, auf dem ein unglaubliches Massaker stattgefunden hatte.

»Es waren Siedler«, berichtete er. »Menschen. Ich nehme an, sie waren auf der Suche nach einem besseren Leben, ihrer ärmlichen Bekleidung nach zu urteilen. Die Karren waren irgendwie aus Resten zusammengezimmert, die Pferde abgemagert. Die Täter haben keinen am Leben gelassen, nicht einmal die ... ganz Kleinen. Diese und die Halbwüchsigen nehmen sie normalerweise mit, um sie zu Ihresgleichen heranzubilden. Aber das sieht hier nicht danach aus.«

»Bist du ...«, begann Arlyn mit brüchiger Stimme und räusperte sich. »Bist du sicher, dass keiner mehr ...?«

Der Schattenluchs nickte, seine langen Pinselohren waren seitlich abgestellt. Rowarn kannte ihn gut genug, um das als Zeichen dafür zu erkennen, wie sehr der Anblick selbst ihn, einen Dämon, erschütterte.

»Ich verstehe es nicht«, sagte Graum. »Es gab nichts zu rauben, sie haben nicht einmal Sklaven genommen. Es ist so ... sinnlos ...«

»Sie hatten einfach Spaß daran ...«, bemerkte Reeb. »Ich sehe so etwas nicht zum ersten Mal.«

Rowarn schwieg. Wie es schien, hatte Heriodon für andere ebenfalls einen guten Lehrmeister abgegeben, auch wenn er sich nicht um jeden Einzelnen so intensiv gekümmert hatte wie um Rowarn. Doch das hier wäre ganz nach seinem Geschmack gewesen.

»Sie sind nicht im offenen Krieg«, meinte Tamron. »Derzeit herrscht ein unruhiger Friede. Ihnen ist langweilig geworden, also ziehen sie durch die Lande, rauben und morden, was sie finden können. Um zu zeigen, dass sie noch hier sind und die Macht für sich beanspruchen.«

»Du glaubst, dass es Dubhani waren?«

»Ja. Normale Räuber morden nicht derart sinnlos und so grausam.«

»Weiter. Wir schlagen unser Lager im Wald auf«, befahl Angmor und lenkte den Wallach fort, der nur zu erleichtert gehorchte.

»Aber ...«, setzte Rowarn an. »Diese ... Menschen. Es ist unwürdig, sie ...«

Angmor hielt an. Er wendete den Wallach und setzte den Helm ab, damit Rowarn seine Augen sehen konnte. Kalt und eisglühend in voller Stärke, und seine Stimme klang unvermindert ruhig und tief, als er sagte: »Rowarn. Wir können sie nicht begraben, es sind einfach zu viele. Auch ein Feuer ist unmöglich. Wer weiß, wie nah die Marodeure noch sind. Wir dürfen es nicht riskieren, dass die Dubhani vorzeitig auf uns aufmerksam werden. Und wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich habe es bereits gesagt: Wir können nichts mehr für sie tun.«

»Das ist nicht dein Ernst«, stieß Rowarn hervor.

»Und ob es das ist«, versetzte der Visionenritter. »Wir reiten jetzt weiter bis zum Einbruch der Dunkelheit, dann lagern wir, und morgen erreichen wir im späteren Tageslicht Dubhan. Das ist ein Befehl, dem sich keiner von euch widersetzen wird.« Der Reihe nach sah er die Gefährten an, und sie wichen seinem Blick aus. Er wendete erneut und beschleunigte zum Galopp.

Rowarn schloss bebend die Hand. Die anderen verharrten und sahen ihn an. »Ihr habt ihn gehört!«, sagte er mit zitternder Stimme. »Also, weiter.« Er trieb Windstürmer an und jagte seinem Vater nach.



Am Abend war es still im Lager. Vermutlich ging keinem das schreckliche Bild von dem Massaker aus dem Kopf, genau wie Rowarn es nicht abschütteln konnte. Obwohl er nicht so genau hingesehen hatte, um nicht zu viele Einzelheiten des Schreckensbildes in sich aufzunehmen, sah er immer wieder tote Gesichter vor sich, in Schmerz und Angst erstarrt. Und was die Dubhani mit ihnen gemacht hatten ...

Es muss aufhören, dachte er. Dieser Krieg muss beendet werden, denn das hier hat nichts mehr mit dem Tabernakel zu tun, oder mit der Ehre auf dem Schlachtfeld. Ich werde es nicht zulassen, dass Valia von solchen Schrecken heimgesucht wird. Das ist noch schlimmer als die Grimwari in Inniu; sie haben um das Überleben ihres Volkes gekämpft. Aber diese hier ... haben einfach getötet, weil es ihnen gefiel. Waren es Warinen? Oder gar ehemalige Soldaten von Ardig Hall, die zu Dubhani wurden? Wie kann ich das je ... wiedergutmachen?

Als Rowarn zu Arlyn blickte, sah er, dass sie weinte. Sein Herz krampfte sich augenblicklich zusammen. Sie so zu sehen, war kaum zu ertragen. Er verließ seinen Platz, nahm die Decke mit und ging zu ihr. Es war kühl, doch sie konnten es nicht riskieren, ein Feuer zu entfachen. 

Behutsam legte Rowarn Arlyn die Decke um die schmalen Schultern und setzte sich neben sie.

»Muss ich mich schämen, dass ich am Leben bin?«, flüsterte sie.

»Nein«, sagte er. »Darüber solltest du glücklich sein. Dein Tod nützt niemandem, aber dein Leben.«

Sie wischte sich die Tränen von der Wange. »Ich habe so etwas noch nie gesehen ... Es ist eine Sache, Wunden zu behandeln, aber eine andere, dabei zu sein. Zuerst Noïrun, und jetzt diese armen, unschuldigen Geschöpfe ...« Ihre Schultern zuckten, und sie konnte es nicht verhindern, dass weitere Tränen aus ihren Augen stürzten.

Rowarn nahm sie in die Arme und lehnte sie an sich. »Das war einer der Gründe, weswegen ich nicht wollte, dass du mitkommst«, wisperte er sanft. »Du solltest dir das nicht antun, Arlyn. Das ist nicht notwendig.« Behutsam rieb er ihren Rücken. 

Auch wenn der Moment dafür denkbar ungeeignet war, er war glücklich, sie einmal so dicht bei sich zu spüren. Sein Herz war erfüllt mit Zärtlichkeit und Dankbarkeit, weil er ihr nun etwas zurückgeben durfte von dem, was sie ihm geschenkt hatte. Er streichelte sie, wagte es für einen winzigen Moment, die Lippen in ihr schwarzes Haar zu tauchen und ihren Duft einzuatmen.

»Dein Vater ist grausam«, stieß sie bitter hervor.

»Nein«, erklang Tamrons Stimme in diesem Moment, und er kam hinzu, setzte sich neben Arlyn. »Seine Entscheidung war völlig richtig. Wir dürfen unsere Mission nicht gefährden. Nicht einmal durch einen Akt der Güte. Wir hatten keine Möglichkeit, sie in Würde zu bestatten, wir hätten nicht einmal dort sein dürfen, denn man könnte unsere Spuren finden.« Er seufzte traurig. »Manchmal muss man auch harte Entscheidungen fällen.« 

Ja, dachte Rowarn bei sich, vor allem angesichts der Kinder, die ebenso gnadenlos wie die Eltern niedergemetzelt wurden. Er schob das Bild von sich; es war vorbei, das musste er sich bewusst machen. Im Lauf seines Lebens würden noch weitere solcher Schreckensbilder hinzukommen, und Entscheidungen, die schwer wogen und Schatten über seine Seele warfen. Aber das hatte er so gewählt, als er sich entschied, das Erbe seiner Mutter anzutreten. »Es ist trotzdem hart«, sagte er leise.

»Gewiss«, stimmte Tamron zu und fuhr fort: »Wir mögen es als Ungerechtigkeit ansehen, aber unser Blick ist sehr kurz. Nichts geschieht umsonst im Traum, und nichts geht verloren. Vielleicht ist diesen armen Kreaturen dadurch sogar ein weitaus schlimmeres Schicksal erspart geblieben. Eine Ungerechtigkeit wird anderswo durch eine Gerechtigkeit ausgeglichen. 

Einstmals, als es noch die EINHEIT gab, geschah so etwas nicht, denn es war alles eins. Doch nun leben wir im Schatten der GETEILTEN, und so gibt es nunmehr zwei Seiten, zwei Hälften, getrennt voneinander. Aber es ist immer noch dasselbe Gefüge. In unserer Wahrnehmung, deiner und meiner, mag der Bruch endgültig sein, die Entfernung zwischen den Seiten gewaltig und unüberbrückbar. Aber in Wirklichkeit hat sich nichts verändert, es ist nichts fort, und nichts hinzugekommen. Es ist alles noch da, genau wie vorher, nur neu angeordnet. Wenn man das gesamte Bild von außen betrachtet, sind wir immer noch alle eins.«

»Dann soll man keinen Schmerz empfinden?«, wisperte Arlyn.

»Doch«, antwortete der Unsterbliche sanft. »Das Mitgefühl lehrt uns die Achtung vor dem Leben, und die Liebe schenkt uns die Freude daran.«

Die Lady hob den Kopf und sah Tamron an, ihre Augen waren groß und dunkel, und goldene Flammen tanzten in ihnen. »Das hat einstmals mein Vater zu mir gesagt. Danke, dass du mir diese Worte wieder ins Gedächtnis gerufen hast.«

»Loghir war ein weiser Mann«, sagte Tamron. »Die Welt hat durch seinen Tod einen großen Verlust erlitten.« Er erhob sich. »Legt euch schlafen, wir haben alle Ruhe nötig. Wir haben noch einen anstrengenden Weg vor uns.«

Arlyn blickte dem Unsterblichen nach. »Ich habe noch so viel zu lernen ... ich fühle mich, als betrete ich zum ersten Mal die Welt ...«

»Mir geht es nicht anders«, murmelte Rowarn.

Lange blickten sie einander in die Augen. Dann legte Rowarn sich hin, ohne Arlyn loszulassen, und sie schmiegte sich an ihn. Ihre Wärme breitete sich wie ein goldener Sonnenstrahl in ihm aus, und er fühlte sich selbst getröstet. Ruhig schliefen sie ein.