Kapitel 1

Blutspur


Rowarn schlief und wusste noch nicht.

Der Morgen zog unschuldig und rein herauf, behutsam tastete der erste Sonnenstrahl über den Horizont und kündigte einen strahlenden Tag an. Die Sterne schwanden im aufdämmernden Licht, und ein zartrosa Streifen breitete sich am Rand der Welt aus. Leises Piepsen drang aus den Büschen, als die Jungvögel erwachten. Ihre Eltern plusterten das Gefieder auf und schüttelten sich, bevor sie sich ausgiebig putzten und auf die anstrengende Futtersuche vorbereiteten. Der letzte Nachtjäger schlich müde in den Wald, ohne sich noch einmal umzudrehen. Frühnebel kroch über die zartgrünen Wiesen, und tauglänzende Blüten öffneten sich und gaben ihr süß duftendes Inneres der Sonne preis.

Rowarn drehte sich selig lächelnd im Gras um. Anini ..., seufzte er im Traum, der so wirklich schien. Ein Traum, der gestern in der Dämmerung mit dem Fest begonnen hatte.

Die Lobpreisung des wachsenden Korns war voll der Ausgelassenheit und des Frohsinns gewesen. Rowarn hatte sich die ganze Zeit am Rand des Festes gehalten, so nah und doch fern, hatte geschwiegen und sich beinahe unsichtbar gemacht. Es gab nur einen Grund für ihn, hier zu sein, und immer nur hatte er sie angesehen: Anini, Schönste der Stadt, so wurde sie genannt, und so flüsterte Rowarn ihren Namen auch heimlich für sich, kostete jede einzelne Silbe wie einen süßen Honigtropfen. Während die anderen aßen und tranken, während köstliche Düfte seine Nase umschmeichelten, verspürte Rowarn kein Verlangen nach saftigem Braten, gewürzt mit den ersten Frühlingskräutern, nach dampfendem Brot aus dem Holzofen und schwerem Honigbier. Anini war für ihn Nahrung genug, die seine Augen sättigte, und der Magen musste schweigen.

An diesem Abend strahlte sie heller als der Mond, mit kupferrotem, blumenumkränztem Haar und Augen wie Kornblumen, und mit roten Lippen, die entweder fröhlich lachten oder weich küssten – vielleicht einen jungen Verehrer, ab und zu ein rotwangiges Kind. Anini konnte wählerisch sein, mit wem sie tanzte, doch sie erwählte viele während des langen Abends, unter dem Schein der Öllampen und Kerzen in bunten Gläsern, die ein zauberisches Licht verströmten. 

Mit fortschreitender Dunkelheit wechselte die Stimmung zusehends zu trunkener Heiterkeit, viele Gesichter glänzten, Nasenspitzen wurden rot von Bier und Wein. Das neue Frühjahr musste ausgiebig gefeiert werden, damit es eine gute Ernte gab. Und die Vorzeichen waren gut: Das Wetter war klar, die Luft mild und voller Blütenduft. 

Als es allmählich auf Mitternacht zuging, die Musiker erschöpft zu langsameren Weisen übergingen und der Kreis sich lichtete, kam Anini unerwartet auf Rowarn zu, der den ganzen Abend hindurch seinen Platz auf der Bank am Rande des Lichtscheins nicht verlassen hatte. Er konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich zu ihm wollte. Erfreut, aber auch unsicher, sah er ihr entgegen. (War dies noch Traum? Oder schon Erinnerung? Oder ... Wirklichkeit?)

Sie blieb vor ihm stehen, die Hände in die Seiten gestemmt. »Nun, Rowarn«, begann sie mit strenger Stimme. »Was sitzt du stundenlang hier herum und starrst mich fortwährend an? Missfalle ich dir so sehr?«

Er machte ein erschrockenes Gesicht und schüttelte betreten den Kopf. »G-ganz im Gegenteil, ich, ähm, finde dich w-wunderschön«, brachte er ungelenk heraus.

»So?« Ihre Augen blitzten auf. »Und warum hast du mich dann nie zum Tanzen aufgefordert? Den ganzen Abend habe ich darauf gewartet!«

Er blinzelte überrascht. »Ich hätte nie gewagt ...« Dabei tanzte er gern, er konnte sich sehr geschmeidig und ausdrucksstark im Einklang der Musik bewegen, als wäre es ihm angeboren.

Da lachte sie. »Rowarn, du bist ein Tölpel. Hattest du so viel Angst, ich könnte dich abweisen, dass du es gar nicht erst versuchen wolltest? Du musst noch viel lernen! Du solltest dich mehr in menschlicher Gesellschaft aufhalten, wo du hingehörst, und nicht nur bei deinen hufbeinigen Muhmen. Die haben dich ja mehr wie einen der Ihren aufgezogen, anstatt wie einen Menschen.«

»Es – es tut mir leid«, stammelte er. »Ich wusste nicht, ob ich willkommen bin, nach all dem Schrecklichen, was in letzter Zeit …«

»Sch-scht.« Anini legte ihm einen Finger an den Mund. »Lass die anderen doch reden, sie sind nur neidisch. Und sie fürchten sich vor dem, was sie nicht kennen. Aber ich weiß, dass du ein gutes Herz hast. Ich kann es in deinen Augen sehen.« Sie hielt ihm die Hand hin. »Dann komm, versäumen wir nicht noch mehr von dieser wundervollen Nacht.«

Er nahm ihre Hand und stand auf. »Aber ... wohin?«, murmelte er verstört, und sie lachte gurrend.

»Sag bloß, du warst noch nie mit einem Mädchen allein bei Nacht draußen?«

»Oh ...« Er begriff, ein wenig spät, aber immerhin. Nein, es war nicht das erste Mal. Da war Rubin gewesen, des Köhlers Tochter. Und ... Malani, die Tochter des Fischers. Das war nicht ungewöhnlich; mit ihnen war er sozusagen aufgewachsen, denn ihre Eltern lebten wie Rowarns Muhmen auf einsamen Höfen abseits von Madin. Eines Tages, als sie entdeckten, dass sie keine Kinder mehr waren, hatten sie unschuldige und scheue Küsse getauscht, und vielleicht auch ein wenig mehr, als sie älter wurden und dazulernten.

Rowarn hätte jedoch nie zu hoffen gewagt, dass ein Stadtmädchen, noch dazu Anini, sich jemals für ihn interessieren würde. Vorsichtig sah er sich um, aber niemand beachtete sie. Aninis Vater hatte den schweren Kopf auf die Tischplatte fallen lassen und schnarchte so fürchterlich, dass die Bäume zitternd ihre Blätter einrollten. Zu Beginn des Festes hatte der eine oder andere Stadtrat Rowarn mit verengten Augen angeblickt, als er sich vorsichtig bis an den Rand herangewagt hatte. Doch als er die ganze Zeit über nur still auf der Bank saß, hatten sie ihn schließlich vergessen.

Die beiden jungen Menschen verließen das Fest und traten Hand in Hand in das nächtliche, vom Mond beschienene Land hinaus. Abseits aller Wege lief Anini über die Hügel, Rowarn immer im Schlepptau. Barfuß schwebte sie über das feuchte, junge Gras, beschwingt und leise kichernd. Schließlich, schon nahe beim Wald, blieb das Mädchen stehen und fasste Rowarn an beiden Händen. Einen langen Moment schaute Anini ihn schweigend, aus glänzenden Augen an. »Wenn du dich nur sehen könntest ...«, wisperte sie fast andächtig.

Das hatten auch Rubin und Malani schon zu ihm gesagt, unabhängig voneinander und in Nächten wie dieser. Und von da an hatten sie ihn am liebsten bei Vollmond draußen getroffen.

Rowarns Augen, klarblau wie ein alter, sehr reiner Gletscher in der Sonne, leuchteten in der Dunkelheit matt wie ein ferner Stern. Seine Haare waren blond wie eine Kornähre im Schnee und so hell, dass er sich des Nachts nicht ungesehen an jemanden heranschleichen könnte. Und seine Haut, so glatt und bleich wie Marmor, schimmerte im Mondlicht wie Perlmutt ...

»Du übertreibst«, unterbrach Rowarn verlegen.

»Kein bisschen«, widersprach Anini schnurrend. »Genau deswegen bin ich mit dir hier.« Sie ließ sich ins Gras fallen, Rowarn mit sich ziehend. Und dann küsste sie ihn ...



Noch immer im Traum gefangen, drehte Rowarn sich erneut und tastete neben sich, wo er Wärme fühlte, die Nähe seiner Liebsten ...

Nein. Dies war kein Traum mehr, angefüllt mit seligen Wonnen.

Kälte war es, eisige Starre, die er fühlte, die seine Finger hinaufkroch, sich rasend schnell in seinem Körper ausbreitete, und Rowarn weckte.

Mit einem erstickten Laut fuhr er hoch, während das letzte Traumbild in ihm zerstob. Noch schlaftrunken betrachtete er seine Hände, die voll Blut waren, und seine Kleidung, und dann wusste er.

Nicht schreien. Nicht schreien! Rowarn biss sich auf die Knöchel, um zurückzudrängen, was aus ihm herauswollte, dieses abgrundtiefe Grauen, gesammelt in einem einzigen Wort, weil es sonst keines gab für das, was er sah.

Nein ...

Anini war tot. Ihre einst so sprühenden Augen starrten milchblau in den heller werdenden Himmel. Das Mieder war in Fetzen, ihre Brust aufgerissen, die Rippen aufgebrochen, das Herz geraubt. Und überall Blut ...

Dies war, was Rowarn sah, was er begriff, aber nicht ... erklären konnte.

Rowarns Augen brannten, der trommelnde Herzschlag sprengte ihm fast die Brust. Ein unterdrücktes Wimmern entrang sich seiner zugeschnürten Kehle. Dann sprang er auf und rannte schluchzend über die Wiese in den Wald hinein.



Rowarn liebte den Wald, seit er laufen konnte. Das Spiel von Licht und Schatten, die Würde der alten Bäume, das huschende, zwitschernde und brummende Leben, heimlich und nur selten zu sehen. Die Luft war hier kühler und reich an Gerüchen, nach Moos und feuchtem Stein, Erde und Pilzen, Honig und Blüten. Wann immer er Kummer hatte, ging er in den Wald und wurde getröstet. Er kannte die Pfade vieler Waldtiere, und sie wussten es zu schätzen, dass er sich wie einer von ihnen verhielt – still und unauffällig.

Doch nicht heute, an diesem Tag des Blutes. Wie ein gedankenloser Städter trampelte und stampfte er den Karrenweg entlang, ohne nach links oder rechts zu blicken. Schließlich schlug er sich blindlings in die Büsche und scheuchte allerlei Getier auf, das zeternd und fauchend weichen musste. Er störte den Hochzeitsgesang der Vögel, stolperte über Wurzeln, unter denen Ameisen und Käfer lebten, und veranstaltete einen solchen Lärm, bis der ganze Wald in Aufruhr war und die Häher schrill pfeifend Alarm schlugen.

Blut! Blut!, hörte Rowarn sie rufen, und sie verfolgten ihn den ganzen Weg entlang, kreuz und quer durch den Wald. Was ist geschehen?

»Ich weiß es nicht!«, schluchzte er mit heiserer Stimme. »Ich habe geschlafen ...«

Und das Blut? Und das Blut? Hände, Kleidung, Gesicht und Haare ...

Rowarn presste sich die Hände auf die Ohren. »Nein! Nein! Nein! O Götter, steht mir bei! Ich war es nicht ... Anini, Anini ... warum wurde dir das angetan ...«

Schließlich konnte er nicht mehr weiter. Rowarn blieb stehen, die Augen blind von Tränen, sein Atem pfiff. Sein Körper war schweißüberströmt, und dazu überall das Blut an ihm, vermischt mit aufgewühlter Erde: Genauso, erinnerte er sich verstört, hatte einst Hegen der Mörder ausgesehen, als er krank am Geist aus dem Wald gebrochen war und wirr stammelnd berichtete, was er seiner Frau angetan hatte.

Rowarn hatte damals trotz allen Abscheus Mitleid mit dem Mann empfunden, der den Grund für seine Tat nicht nennen konnte und wenig später gebrochen starb, noch bevor die Stadtväter über ihn zu Gericht sitzen konnten.

Und nun sah er selbst ganz genauso aus, konnte nicht erklären, was geschehen war, hoffte verzweifelt, dass er unschuldig war. Aber wer würde, wer konnte ihm glauben? Was sollte er tun? Wo sollte er hin?

Nach Hause konnte er jedenfalls nicht. Schon von weitem würden seine Eltern alles riechen: den abscheulichen Gestank nach Blut und Schuld, nach Feigheit und Flucht.

Er hatte alles falsch gemacht. Er hätte gleich in die Stadt zurückkehren müssen, um Aninis Vater zu sagen, dass seine Tochter tot auf der Wiese lag, grausam ermordet. Dann hätte man sie geholt, gesalbt und würdevoll aufgebahrt, und sie würde nicht einsam dort draußen im nassen Gras liegen, an diesem sonnenklaren Morgen.

»Sie hätten mir nicht geglaubt, dass ich unschuldig bin ...«, verteidigte Rowarn sich vor sich selbst. »Sie hätten mich gefangen, gefesselt und wahrscheinlich erschlagen oder erhängt, noch bevor meine Eltern davon erfahren hätten ...«

Am besten machte er sich aus dem Staub, jetzt gleich und für immer. Natürlich würden seine Muhmen voller Kummer sein und vielleicht an ihm zweifeln. Aber er konnte ihnen wenigstens nicht mehr schaden und sie nicht in Verruf oder sogar Gefahr bringen. Irgendwann wäre dies alles vergessen, und sie könnten weiterleben wie zuvor.

Rowarn zuckte zusammen, als er die Richtung wechseln wollte und plötzlich in ein Paar große, braune Augen blickte. Es war ein junger Elenki, ein schmales Böckchen noch, scheu und ängstlich. Er fing gerade an, die ersten, zarten Geweihknospen auszubilden, die hellen Tupfen in seinem Jugendkleid waren kaum mehr zu sehen.

Rowarn schluckte. »Du solltest besser gehen, damit du niemals die Schrecken kennenlernst, die ich schon erlebt habe«, flüsterte er.

Das Böckchen legte den Kopf leicht schief, ohne die Augen von dem  jungen Mann zu wenden. Seine großen, mit flauschigem Fell bewachsenen Ohren gingen vor und zurück.

»Was machst du hier?«, fragte Rowarn verzweifelt. »Hast du nicht gehört, dass die Häher mich bereits schuldig gesprochen haben?«

Der kleine Elenki reichte Rowarn gerade bis an die Hüfte. Einem ausgewachsenen Hirsch könnte er nicht über die Schulter blicken. Das Jungtier versuchte vergeblich, den rechten Hinterlauf hochzuziehen. Es hatte sich im Gestrüpp verheddert und konnte sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien.

»Warum bist du so ungeschickt?«, stieß Rowarn hervor. »Hast du nicht aufgepasst, was deine Eltern dir beigebracht haben? Da, nimm meine Witterung auf, ich stinke nach Gewalt und Tod! Begreife, was dich in Gefahr bringt, was du immer meiden musst! Wenn du je erwachsen werden willst, darfst du keinen Fehler machen!«

Der Elenki reckte den Hals und stupste Rowarn leicht an. Die zuckende braune Nase war feucht, die Augen groß und sanft. Dieses junge Wesen glaubte an seine Unschuld. Es vertraute darauf, dass Rowarn ihm helfen würde.

Er ging einen Schritt auf das Böckchen zu, bückte sich und berührte vorsichtig den von Schlingpflanzen gefesselten Lauf. »Halte kurz still«, flüsterte er. »Da hast du wirklich ordentliche Arbeit geleistet ... leichte Beute für jedes Raubtier oder den Jäger ...«

Das Jungtier verharrte, während Rowarn sich abmühte, den Lauf aus dem Gewirr zu befreien. Schließlich zog es den zierlichen Spalthuf mit einem Ruck hoch und war frei.

Rowarn fuhr zusammen, als er in diesem Augenblick ein tiefes Röhren hörte, und dann schob sich der mächtige, geweihtragende Kopf eines ausgewachsenen Elenki durch das Gebüsch. Seine ausladenden Schaufeln mit den tödlichen Spitzen maßen mehr als doppelte Mannslänge. Neben ihm erschien die zierlichere Gestalt einer Hindin, die ein nur wenige Tage altes Kalb an der Seite führte.

Der junge Mann erstarrte. Elenki, vor allem die Hirsche, gehörten zu den gefährlichsten Geschöpfen des Waldes. Sie waren angriffslustig, schnell und tödlich. Nur ein erfahrener, sehr hungriger Panther würde sich jemals an einen ausgewachsenen Bullen heranwagen.

Der junge Bock stieß einen hohen, quäkenden Laut aus, dann sprang er zu seinen Eltern. Ohne Rowarn weiter zu beachten, verschwand die Familie im Gebüsch.

Rowarn stieß den angehaltenen Atem aus und wischte sich übers Gesicht, verschmierte dabei Schweiß, Blut und Dreck. Diese Ablenkung hatte ihn zur Vernunft gebracht, und er war dankbar dafür. Weglaufen war keine Lösung. Er musste herausfinden, was geschehen war, und seinen Eltern ebenso wie den Städtern beweisen, dass er kein Mörder war. »Ja, ich sollte nach Hause gehen«, murmelte er. »Aber zuvor ... muss ich mich wenigstens säubern ...«

Eine Stimme in seinem Inneren drängte ihn weiterhin, stattdessen in die andere Richtung zu laufen, so schnell und so weit er vermochte, bis niemand ihn mehr einholen und er anderswo ein neues Leben beginnen konnte. Aber Rowarn sah immer noch die braunen Augen des jungen Elenki vor sich, die ihm Mut zuzusprechen schienen, und ihn davor warnten, etwas Dummes, Endgültiges zu tun. Die Familie ließ einen niemals im Stich.

Wenn jemand für ihn Verständnis aufbrachte, dann Rowarns Zieheltern. Sie würden alles für ihn tun, obwohl – oder gerade weil – er nicht ihr leiblicher Sohn war. Sie würden wissen, was zu tun war.

Gewiss machten sie sich längst Sorgen, weil er immer noch nicht zu Hause war. Vielleicht hatten sie sogar schon von Aninis Tod erfahren ...

Rowarn sprang auf und schlug den Weg zum See ein, der nicht weit von seinem Zuhause lag. Dort konnte er sich reinigen. Es zog ihn eilig dorthin, nun, da er seine Entscheidung getroffen hatte. Der Wald tröstete ihn stets in seinem Kummer, aber das Wasser bot Schutz. So hatte er es schon immer empfunden.

Im See ruhte eine Reinheit und Klarheit, wie Rowarn sie an Land nie erlebte. Die Beschränkungen, sich nur schwerfällig auf dem Boden fortbewegen zu können, waren aufgehoben. Alles, was dort unten lebte, war viel vertrauter miteinander, und sich noch dazu auf eine einzigartige Weise nahe, wenn nicht vereint. 

Schon als Kind hatte Rowarn viel Zeit im See verbracht. Er konnte schwimmen wie ein Otter und länger als jeder andere Landbewohner unter Wasser ausharren. Doch er hatte nie den Wunsch verspürt, für immer dort zu bleiben, wie Malani eines Frühlingsmorgens scherzhaft bemerkt hatte, als sie blau gefroren die Wärme der Sonne suchte, während Rowarn immer noch planschte.

So wohl er sich im Wasser fühlte, er gehörte doch nicht dorthin. Das war eine seltsame Empfindung, die er nicht erklären konnte, und die ihn stets nur bis zu einer gewissen Grenze gehen ließ, niemals darüber hinaus.

Jetzt aber sehnte er sich danach, einzutauchen und all den Schmutz und die Schuld von sich abzuwaschen, um gereinigt, vielleicht geläutert unter die Augen seiner Zieheltern treten zu können.

Rowarn seufzte, als er endlich den See erreichte. Die Sonne war jetzt voll aufgegangen und übergoss die glitzernde Oberfläche mit silbernem Schein. Ohne zu verharren, sprang Rowarn ins Wasser und tauchte ein. Nach kurzer Unruhe wurde die Oberfläche wieder still und glatt.

Das Wasser färbte sich schwarz.



Sämtliche Ehrenwerten der Stadt, allen voran Aninis Vater, ein grauhaariger, vierschrötiger Mann namens Daru, ließen sich von Pferdewagen nach Weideling bringen, dem Heim der beiden Velerii. Seit langer Zeit lebten Rowarns Zieheltern in Inniu, fern ihrem Volk, als Hüter von Weideling. Ein staubiger Pfad, gerade breit genug für ein Fuhrwerk, zweigte vom gut befestigten Karrenweg ab, der zu den bedeutendsten Handelsstraßen Valias führte.

Schon von weitem war der Zug durch die aufgewirbelte Staubwolke sichtbar, die ihn aufplusternd einhüllte.

Neben Daru saß die weinende Hallim, Aninis Mutter, das Gesicht in einem großen Tuch verborgen. Daru blickte grimmig nach vorn; während der ganzen Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Versteckt hustete er, wenn der Staub seine Kehle zu sehr reizte, und wischte sich gelegentlich die Augen.

Die Haustür von Weideling öffnete sich, als der Zug am Ende des Weges zum Stillstand kam. Daru und Hallim stiegen vom Wagen herab, die zahlreichen Begleiter blieben noch sitzen.

Schattenläufer trat ins helle Licht des Vormittags. Sein dunkles, markantes Gesicht drückte Freundlichkeit aus, und er hob die Hand. »Ich grüße Euch, Daru der Starke, an diesem strahlenden Frühlingstag, nach einem, wie ich hoffe, großen Fest.« Es war die Art der Velerii, derart förmlich und blumig zugleich zu sprechen. Sie hatten für jeden Menschen einen Beinamen.

Jetzt bemerkte Schattenläufer das von Leid und Tränen geschwollene Gesicht Hallims, als er sich ihr zuwandte, und stutzte. Seine breite Stirn legte sich in besorgte Falten. »Ich glaube, ich war zu voreilig mit meinem Gruß. Ich bitte Euch um Verzeihung, Hallim die Kluge. Was ist geschehen?«

»Anini wurde ermordet!«, entfuhr es Daru, und nun verlor auch er die Fassung und brach in Tränen aus. »Unser Sohn Rayem fand sie heute Morgen auf der Wiese, grausam entstellt! Das Herz wurde ihr bei lebendigem Leib aus der Brust gerissen, könnt Ihr Euch das vorstellen? Nur ein Tier kann so etwas Entsetzliches tun!«

Die pechschwarze Mähne Schattenläufers wallte über seinen menschlichen Rücken bis zum Widerrist des Pferdekörpers hinab, als er den Blick wandern ließ und in vorwurfsvolle, wenn nicht anklagende Augen sah. Sein langer Schweif peitschte einmal um seine blauschwarz glänzenden Flanken. Er strich sich den Bart und setzte einen Huf nach vorn. »Nun, ich bin kein Tier«, sagte er ruhig mit tiefer Stimme. In seinen großen dunklen Augen lag nunmehr Trauer.

»Wo ist Rowarn?«, rief Aninis Bruder Rayem vom Wagen herab.

Ein Licht schien aufzuglühen, als Schneemond in diesem Moment an Schattenläufers Seite trat. Ihr Fell schimmerte fast silbrig im Sonnenschein, die seidige Mähne kräuselte sich leicht in der sanften Brise. Schneemonds bernsteinfarbene Augen blitzten. Sie war keineswegs so sanftmütig wie ihr Gemahl. »Auch Rowarn ist kein Tier«, sprach sie mit glockenheller Stimme, aber mit drohendem Nachhall.

»Woher wissen wir das so genau?«, rief jemand, und mehrere Stadtbewohner stimmten dem Einwand lautstark zu. 

Der Stadtälteste, Larkim der Strenge, kletterte steifbeinig vom Wagen und stakste auf einen Stock gestützt auf die Velerii zu. Allerdings hielt er genau wie Daru respektvollen Abstand. Bei allem Zorn vergaßen die Menschen nie, mit wem sie es zu tun hatten. Der Widerrist von Schneemond und Schattenläufer reichte den meisten Menschen bis an die Stirn; mit ihrem menschlichen Oberkörper und dem Haupt überragten sie jeden der Anwesenden um eine halbe Mannslänge. 

»Es mag sein«, sprach der Greis mit erstaunlich kraftvoller, tragender Stimme, »dass Rowarn aussieht wie wir und einer gefälligen Sprache mächtig ist. Aber Ihr scheint zu vergessen, wie unbeherrscht er ist, wie schnell er in blindwütige Raserei gerät! Oder stimmt es nicht, Ondur?« 

Der aufgerufene Junge sprang vom Wagen und zeigte den Velerii die hässliche weiße Narbe an der rechten Halsseite. Nacheinander wurden junge Männer, alle ungefähr in Rowarns Alter, aufgefordert, Narben vorzuzeigen, die Schattenläufers Zögling ihnen zugefügt hatte.

Hallim, die niemals jemandem etwas Böses wünschte, nicht einmal in dieser schrecklichen Stunde, warf allerdings zitternd ein: »Uns ist bekannt, dass Rowarn dies nicht willentlich tut. Etwas anderes ergreift in solchen Momenten Besitz von ihm, denn er ist danach jedes Mal reumütig und zerknirscht, und er gibt sich viel Mühe, damit es nicht zu solchen Ausbrüchen kommt. Aber wie wollt Ihr uns beweisen, dass er es nicht war? Er wurde heute Nacht gesehen, als er zusammen mit Anini das Fest verließ. Er war der Letzte, der meine Tochter ...« Sie schluchzte und konnte für einige Momente nicht weitersprechen. Niemand wagte eine Äußerung, alle warteten schweigend und betreten, die Augen zu Boden gerichtet. Schließlich hatte sie sich so weit gefasst, dass sie fortfahren konnte: »Er war als Letzter mit ihr zusammen. Das ist erwiesen.«

Daru ballte die Hand zur Faust. »Wahrscheinlich hat er sie schänden wollen, und sie setzte sich zur Wehr, sodass er in tollwütige Raserei geriet und ...«

»Ihr sagtet, Anini wurde das Herz herausgerissen «, unterbrach Schneemond mit eisklirrender Stimme. Ihr helles, liebevolles Gesicht war zur weißen Maske erstarrt. »Auf dieselbe Weise wie den drei anderen Mädchen, die wir in den letzten Wochen fanden. Wollt Ihr behaupten, auch dies wäre Rowarns Werk gewesen?«

»Ja!«, schrie Rayem, und einige weitere stimmten aufgestachelt zu. Die Stimmung heizte sich zusehends auf, und der eine oder andere hielt plötzlich ein Messer in der Hand.

Schattenläufers Gesicht verdüsterte sich bei diesem Anblick. Sein Schweif schlug erregt, und er stampfte einmal mit dem Huf auf.

Schneemond starrte zuerst auf Daru, dann auf Hallim hinab. »Ist das wirklich euer aller Meinung?«

Die beiden trauernden Menschen wichen ihrem Blick aus und schwiegen. Fassungslos hob Schneemond den Kopf. »Wisst ihr auch, was ihr da sagt?«, rief sie. Aller Zorn war verflogen, Schmerz und Kummer verzerrten ihre zarten Züge. »Rowarn ist unter euch aufgewachsen. Er hat unsere Lehren empfangen, und vor allem Respekt vor jedem Wesen unter Sonne und Mond. Er ist kaum erwachsen und auf dem besten Wege, sich im Leben zu bewähren! Wie könnt ihr nur annehmen, dass er in der Lage wäre, so grausame Taten zu begehen und gleichzeitig weiterzuleben, als wäre nichts geschehen?« 

Ihr glühender Blick schweifte über die jungen Männer. »Ja, er hat euch Leid zugefügt, und ja, er ist von ungezügeltem Temperament, das ihn manchmal zu heftigen Ausbrüchen verleitet! Aber er hat noch nie jemanden lebensgefährlich verletzt, und oft genug hatte er Gründe, sich gegen euch zur Wehr zu setzen, nicht wahr? Und noch etwas: Wie oft war er für euch da? Hat euch aus der Klemme geholfen? Hat Prügel für eure Taten bezogen, damit ihr ungeschoren davonkommt und er eure Achtung erringt?« 

Sie hob die Arme. »Gewiss, wir haben Rowarn davor gewarnt, sich zu viel mit den Menschen abzugeben. Aber nicht, um euch vor ihm zu beschützen, sondern umgekehrt!«

Schattenläufer fügte an: »Wir wissen wohl, dass wir nur geduldet sind, solange wir in euren Augen von Nutzen sind. Gern nehmt ihr unsere Dienste für Heilung und Schutz in Anspruch, doch hinter verschlossenen Türen sprecht ihr andere Worte, die keineswegs freundlich sind. Und seit wir Rowarn aufnahmen, finden eure wilden Spekulationen kein Ende, und ihr habt ihn nie als einen der Euren in eurer Mitte willkommen geheißen! Aus genau diesem und keinem anderen Grund nehmen wir an keinem eurer Feste teil und halten uns von euch fern! Aber wie soll Rowarn das jemals verstehen, ein junger Mann, der genauso aussieht wie ihr?«

Eine ganze Weile herrschte tiefes Schweigen. Einige blickten nun deutlich verunsichert, andere weiterhin wütend, sogar angriffslustig. Hallim weinte leise und flüsterte den Namen ihrer Tochter, eingebunden in ein Gebet.

Deutlich ruhiger hob Schneemond noch einmal die Hände, aber in friedlicher Geste: »Wir alle sind aufgebracht, weil nun schon das vierte Mädchen auf so schreckliche Weise ermordet wurde. Wir wissen nicht, weshalb, und wer eine solch unvorstellbare Tat begehen könnte. Aber das darf uns den Blick nicht trüben, während wir nach dem Mörder suchen – gemeinsam.«

Daru stieß hervor: »Es begann alles an dem Tag, als der Weiße Falke nicht kam. Es war ein schlechtes Omen, und wir haben es nicht beachtet! Wir hätten dieses Fest niemals ausrichten dürfen, und ich hätte Anini niemals ...« Seine restlichen Worte gingen in Schluchzen unter.

»Ein schlechtes Omen? Gewiss, das mag sein«, sagte Schattenläufer ruhig. »Denn der Weiße Falke kam allein Rowarns wegen. Daru, Ihr seid alt genug, ihr wisst, dass er zum ersten Mal erschien, als unser Ziehsohn sich im ersten Lebensjahr befand. Ihr habt so getan, als gäbe es diese Tradition schon immer, doch das ist falsch. Ihr habt euch etwas zueigen gemacht, das nur für uns von Bedeutung ist.«

Aninis Vater wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch blasser.

»Worte, nur Worte! Es wird Zeit, dass etwas geschieht!«, schrie einer der Stadtväter. »So weit hätte es nie kommen dürfen! Rowarn soll beweisen, dass er es nicht war. Dann werden wir abziehen und unter uns beratschlagen, wie wir unsere Töchter schützen und den Mörder stellen wollen!«

»Wenn er unschuldig ist, warum ist er dann nicht hier?«, schlug Rayem angrifflustig in dieselbe Kerbe.

»Ich bin hier«, erklang in diesem Augenblick Rowarns Stimme, und er trat mutig vor seine Eltern.

Für einen Augenblick herrschte überraschtes, teils verlegenes Schweigen.

Larkim der Strenge maß ihn aus verengten Augen. »Wie viel hast du gehört?«, schnarrte er.

»Genug«, antwortete Rowarn.

Hallim konnte es nicht mehr ertragen. Weinend rannte sie zum Wagen, und Daru half ihr hinauf. Er setzte sich neben sie und hielt sie hilflos im Arm.

Rayem baute sich drohend vor Rowarn auf. »Was hast du mit meiner Schwester gemacht?«

»Ich habe ihr nichts angetan«, antwortete Rowarn. »Ich war auf dem Heimweg, und sie wollte mich unbedingt ein Stück begleiten. Das ist alles.«

»Du lügst«, zischte Rayem mit geballten Fäusten.

»Solange ich wach war und die Augen offen hatte, hat sie gelebt«, erwiderte Rowarn. »Ich weiß nicht, was geschehen ist.«

Als Rayem auf Rowarn losgehen wollte, schlug Larkim ihm mit dem Stock vor die Brust und hielt ihn auf. »Reiß dich zusammen!«, fuhr er den jungen Mann an. »Hat dieser Tag nicht blutig genug begonnen? Sollen die Velerii Recht haben mit ihrem Vorwurf, dass wir zu voreilig sind mit unserem Urteil und sie nur ausnutzen? Willst du uns demütigen?«

»Es ist besser, wenn ihr jetzt geht«, sagte Schneemond langsam und deutlich. »Ihr habt Rowarn gehört, und es gibt keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Und bedenkt eines wohl: Es kann jeder gewesen sein, der nicht beweisen kann, wo er heute Nacht gewesen ist. Also hütet euch vor weiteren Anschuldigungen. Wir werden euch helfen, wenn ihr euch ernsthaft auf die Suche nach dem Mörder macht. Aber jetzt solltet ihr zuerst Anini die letzten Ehren zuteilwerden lassen und ihrer so gedenken, wie es ihr gebührt.«

Die Menschen zögerten. Larkim wandte sich nach einem kurzen Augenduell mit der Velerii um und hob den Stock. »Fahren wir! Die ehrenwerte Schneemond hat recht. Ein anderer Tag der Vergeltung und Sühne wird kommen. Jetzt müssen wir der Lebenden gedenken, die voller Kummer sind, und ihnen helfen, und die Toten ehren.«

Niemand wagte zu widersprechen. Die Angriffslust wich unter Larkims Autorität. Schweigend, ohne die Velerii und Rowarn noch eines Blickes zu würdigen, kehrten die Menschen um und fuhren in ihre Stadt zurück.



»Komm ins Haus«, forderte Schneemond ihren Ziehsohn auf, und Rowarn gehorchte eilig. Unsicher blieb er in der Mitte des Raumes stehen und wagte nicht, zu seiner Mutter hochzublicken.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah funkelnd auf ihn herab. »Was ist letzte Nacht geschehen?«

Rowarn schluckte trocken. »Was ich gesagt habe.«

Gleich darauf fand er sich auf dem Boden wieder und hielt sich die brennende Wange. Für einen Moment fühlte er nur Schmerz und begriff nicht, was geschehen war. Entsetzt schaute er zu Schneemond auf. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte sie ihn geschlagen. Nie zuvor hatte sie auch nur die Hand erhoben. Doch er sah, dass dies nicht allein aus Zorn geschehen war. Angst und Sorge malten sich auf ihren feingemeißelten Zügen.

»Ich habe dich nicht dazu erzogen, zu lügen!«, herrschte sie ihn an. »Wie kannst du es wagen, mir eine solche Schande zu bereiten?«

Rowarns Augen füllten sich mit Tränen. »Weil die Wahrheit nur Schmerzen bereitet«, flüsterte er.

Er brachte sich eilig auf allen vieren vor ihren ausschlagenden Hufen in Sicherheit. »Wir haben dich aufgezogen, Rowarn!«, rief sie schrill. »Willst du alles Lügen strafen, was wir dich je lehrten? Misstraust du uns so sehr, missachtest du uns?«

Er schüttelte stumm den Kopf und erhob sich langsam. Ergeben, gesenkten Hauptes stand er da und erwartete die weitere Strafe.

Schattenläufer trat plötzlich dazwischen und ergriff Schneemonds Schultern. »Beruhige dich, Liebste«, sagte er sanft. »Der Kummer überwältigt dich, und du weißt nicht mehr, was du redest.« Er wandte sich Rowarn zu. »Warte hier, bis wir zurückkommen, Junge. Dann reden wir. Versprichst du mir das?«

Rowarn nickte. »Ich verspreche es«, flüsterte er mit versagender Stimme.

Schattenläufer lächelte ihm kurz zu. Dann schob er Schneemond ohne ersichtliche Kraftanstrengung aus dem Haus. Kurz darauf stoben sie über die Wiese davon, galoppierten den Hügel hinauf und rasten den Kamm entlang. 

Es war nicht das erste Mal, dass Rowarn sie so sah, und auf seltsame Weise tröstete es ihn. Noch nie in seinem jungen Leben hatte er schönere, vollkommenere Gestalten gesehen als diese beiden. Ihre Hufe schienen kaum den Boden zu berühren, die Pferdeleiber glänzten silbrig und blauschwarz. Schneemonds Bluse, im Sonnenlicht verschiedenfarbig schimmernd, flatterte im Wind; darunter trug sie ein mit Kreuzbändern gehaltenes Leibhemd in der Farbe ihrer Mähne. 

Schattenläufer hingegen trug ein schwarzes Hemd mit einer schwarzen Lederweste darüber, die bis auf die Pferdebrust herabreichte. Die Kleidung war wie bei Schneemond auch im Rücken verschnürt, um der Mähne freien Schwung zu lassen. 

Wie Licht und Schatten, in harmonischer Anmut, jagten sie über die Wiesen. Es war schwer zu sagen, wer von beiden schneller wäre. Schattenläufer war schwer und muskulös, Schneemond zierlicher, aber vielleicht ausdauernder.

So verschaffte ihre Art sich bei großer Erregung Luft, denn das Blut der Pferdmenschen war heiß, und sie waren unberechenbar, gefährlich trotz ihrer Sanftmut. Kein Wunder, dass das Volk Velerii genannt wurde, Schnell-wie-der-Wind, und es war auch beinahe so alt wie der erste Wind, der vor Äonen über die Weiten der gerade geborenen Welt gestrichen war, eines der ersten Völker Waldsees, langlebig, weise und voller geheimnisvoller Kräfte.

So, wie Rowarn den Menschen manchmal fremd und unheimlich war, waren ihm seine Zieheltern immer unverständlich geblieben, trotz der aufopfernden Liebe und Offenheit, die sie ihm entgegenbrachten. Er empfand großen Respekt, manchmal auch Ehrfurcht. Er hätte niemals gewagt, ihnen zu widersprechen.

Geduldig, ohne sich zu rühren, wartete der junge Mann, bis seine Muhmen den wilden Lauf beendet hatten und mit schweißnassen Flanken, deutlich gelassener, zu ihm zurückkehrten.