Kapitel 33

Heriodon


Angmor führte die Truppe durch die südlichen Ausläufer von Ferlungar, auf einer alten Handelsstraße, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt wurde. Dennoch hielt sich der Bewuchs in Grenzen, da sie hauptsächlich durch dichten Nadelwald ritten, der kein Unterholz und nur wenig Gras und Moos zuließ. Der Weg war breit genug, um zu zweit nebeneinander zu reiten, und die ehemalige Befestigung aus Stein hielt gut.

Graum lief wie üblich an der Seite zwischen den Bäumen entlang, Arlyn ritt neben Angmor. Trotz ihrer dunklen Kleidung und Haare war sie wie ein strahlender Stern neben dem finsteren Visionenritter auf seinem nicht weniger furchteinflößenden riesigen, schwarzgrauen Hengst, und ihre königliche Ausstrahlung milderte seine mächtige Aura beträchtlich.

Rowarn hielt sich in der Mitte, sodass er einen guten Rundumblick hatte, und den Abschluss bildeten der Fürst und der Kriegskönig, ganz so, wie er sie in Inniu zum ersten Mal getroffen hatte – ins Gespräch vertieft und gemütlich dahinzockelnd. 

Tamron lenkte sein Pferd an Rowarns Seite. »Seit langer Zeit bekämpfe ich Femris«, sagte er. »Ich habe viel gesehen und erlebt, Siege und Niederlagen, Hoffnung und Verzagen. Doch diese Wendung der Dinge hätte ich mir nie zu erträumen gewagt. Es ist offensichtlich, dass sich der Kampf um das Tabernakel seinem zweiten Höhepunkt nähert – und dem Ende.«

»Zweiter Höhepunkt?«

»Der erste war der Bruch. Es ist mir bis heute rätselhaft, wie das geschehen konnte.«

Rowarn zupfte an Windstürmers kräftiger Stehmähne. »Ich mache mir viel mehr Gedanken darüber, was passieren wird, wenn das Tabernakel von meinen Händen zusammengesetzt wird.«

»Da denkst du sehr weit voraus. Im Augenblick hast du noch nicht einmal die drei Splitter von Femris«, meinte der Unsterbliche.

»Ich werde sie bekommen«, sagte Rowarn ruhig. »Daran gibt es keinen Zweifel.«

»Also gut, spinnen wir den Faden weiter.« Tamron hängte den Zügel über den Sattelknauf und zählte an den Fingern ab. »Es gibt für drei Splitter jeweils einen Hüter. Hast du eine Ahnung, wer die Hüter sind?«

»Nein«, gab Rowarn zu. »Ich wüsste auch nicht, wo ich mit der Suche beginnen sollte. Aber darüber kann ich nachdenken, wenn ich heil aus Dubhan zurück bin.«

»Denkst du, du kannst Femris töten? Denn das musst du, ansonsten wirst du keinen Augenblick mehr zur Ruhe kommen. Er wird dich gnadenlos hetzen.«

»Willst du sagen, unser Vorhaben ist aussichtslos? Aber was sollen wir sonst tun?«

Tamron hob beschwichtigend die Hand. »Nein, Rowarn, du bist auf dem richtigen Weg, daran gibt es keinen Zweifel. Und sicher wälzt Noïrun diese Gedanken schon lange.«

»Deshalb kann ich darüber nachdenken, was geschehen wird, wenn das Tabernakel wieder zusammengefügt ist«, versetzte Rowarn.

»Falls es je dazu kommt«, meinte der Unsterbliche versonnen. »Der siebte Splitter ist verschollen. Wenn es einen Hüter für ihn gibt, so muss er sich außerhalb Valias befinden. Seit dem Bruch gab es keine Spur mehr von dem siebten Splitter, als wäre er für immer verlorengegangen.«

»Die Hüter leben alle in Valia?«

»Bei den ersten drei Splittern war es so, bei den anderen drei wird es nicht anders sein. Sie werden sich immer noch im Einflussbereich von Ardig Hall befinden, in Verbindung zueinander. Doch was den siebten Teil betrifft ... mach dir darüber erst mal keine Gedanken. Solange das Tabernakel nicht vollständig ist, wird überhaupt nichts geschehen. Und ich glaube, dann hast du immer noch die Wahl der Entscheidung.«

Rowarn empfand dies als Trost. »Man hat immer eine Wahl, nicht wahr?«

»Ja ...«, antwortete Tamron abwesend. »Zumindest fast immer.«

»Stimmt. Ich habe keine Wahl, der Zwiegespaltene zu sein. Aber was ich daraus mache, kann ich schon entscheiden.«

»Ich wünsche es dir.«



Am Abend lagerten sie am Rand eines Teiches, ein wenig zwischen den Bäumen verteilt, weil die Lichtung nicht genug Platz für alle bot. Der Fürst sprach noch einmal einzeln mit jedem Befehlshaber und Ritter, vielleicht über Aufträge, von denen andere nichts wissen sollten. Rowarns Bedenken wegen des Verräters zerstreuten sich immer mehr. Noïrun sorgte stets für alles vor und verteilte die Aufgaben. Irgendeiner würde das ihm aufgetragene Ziel erreichen. Der Verräter musste sich also entscheiden, ob er ins neue Heerlager von Ardig Hall ging, oder bei Rowarn blieb, um ihn auszuliefern. Wobei er sich das sparen konnte – der König ging ja freiwillig zu seinem Feind.

»Ich glaube, wir werden in Sicherheit sein«, teilte Rowarn seine Überlegungen Noïrun mit, als sie nebeneinander am Feuer saßen. Das konnten sie bedenkenlos entfachen – sie befanden sich im tiefen Wald, und außerdem konnte eine gut dreißigköpfige Truppe samt Pferden ohnehin nicht übersehen oder überhört werden, falls doch jemand in die Nähe kam.

»Möglich«, äußerte der Fürst sich unbestimmt. »Wir werden es erfahren.«

Von den Befehlshabern und Rittern näherte sich keiner. Sie hielten respektvollen Abstand, wenn Noïrun und Rowarn zusammen waren. Daran musste der junge König sich erst gewöhnen. So unbeschwert wie früher würde es nie mehr sein.

Arlyn ging im Lager umher und prüfte, ob ihre Heilkünste erforderlich waren. Die Mienen lösten sich, wo sie vorüberging, und ein Lächeln erhellte die Gesichter. Für jeden hatte sie ein Wort oder einen kleinen Scherz. Angmor, Fashirh und Graum waren irgendwo unterwegs, und Olrig saß mit Tamron auf der anderen Seite des Feuers und schwelgte in Erinnerungen.

Rowarn schlug den Umhang um sich. Die Nächte wurden nun zusehends kühler. Aber der Waldboden war angenehm trocken und weich, für die erste Nacht unterwegs war es eine sanfte Einstimmung. Weiche Betten und Bedienung waren vorerst in weite Ferne gerückt. Er merkte, wie Noïrun sich die linke Schulter rieb. Der Schmerz einer alten Wunde, über die Rowarn nichts wusste. Der Fürst sprach ihm gegenüber nie über seine Vergangenheit, und Rowarn bezweifelte, dass selbst Olrig alles bekannt war. Dass Heriodon Noïruns Lehrmeister gewesen war, hatte er beispielsweise nicht gewusst. Und dass er Arlyn bereits kannte.

»Olrig, hast du Ushkany dabei?«, rief der Fürst plötzlich übers Feuer, und der Zwerg hielt grinsend einen flachen, silbernen Behälter hoch.

»Ich habe auch etwas dabei«, verkündete Arlyn hinter ihm. »Sonnenbeerlikör.« Dafür erntete sie von allen Seiten Jubelrufe und wurde bald umringt.

Olrig und Tamron gesellten sich zu ihnen, und der Zwerg goss zwei Fingerhüte voll. »Wir müssen sie uns teilen, mehr Behälter habe ich nicht.« Er reichte Noïrun einen winzigen Becher, und Tamron den anderen.

Rowarn sah sich nach Arlyn um.

»Wofür entscheidest du dich, König?«, erklang Olrigs Stimme in seine Gedanken.

»Schlafen zu gehen«, antwortete er.

Die anderen nahmen es verdutzt, aber schweigend zur Kenntnis.



Am nächsten Mittag erreichten sie eine Wegkreuzung, an der sie sich trennten. An Rowarns Seite blieben seine Freunde und wie verabredet vier Ritter der Garde: Oïsin, ein stämmiger, rothaariger Mann von Mitte Dreißig; der zehn Jahre jüngere Reeb, eine kleine und fragil wirkende, dunkelhaarige Gestalt, aber mit Speer, Wurfmessern und der runden Zackenklinge unerreicht; der dreißigjährige Norem, ein großer, schwerer, wortkarger Mann mit fingernagelkurzen braunen Haaren; und die auf die vierzig zugehende Laradim, eine sommersprossige, immer gut gelaunte Frau mit Muskeln, um die sie ein Mann beneiden würde, und einem dicken, hüftlangen blonden Zopf. Alle vier waren kampferprobt und wussten, was sie zu tun hatten.

Weiter ging es Richtung Süden, auf einer anderen alten Straße, die breit und immer noch gut befestigt war. Sie hatte einst zu einem der Vier Königreiche gehört, aus der Zeit vor dem Fund des Tabernakels, und existierte heute noch.

»Auf ihr zogen einst Könige in prächtigen Karossen«, wusste Arlyn. »Sie statteten sich gegenseitig Besuche ab, verheirateten ihre Töchter und Söhne und vermischten den Hofstaat. Manche der heute residierenden Barone und Fürsten, oder welchen Titel sie auch führen mögen, können ihre Abstammung auf eine dieser uralten Blutlinien zurückführen. Doch ihre Reiche sind natürlich sehr klein, im Vergleich zu damals, und zersplittert.«

»Noïrun, gehört Lingvern auch zu so einer alten Blutlinie?«, wandte Rowarn sich an den Heermeister.

»So hat es mein Vater zumindest behauptet«, antwortete der Fürst. »Ich gebe allerdings nichts darauf, denn unsere Geschichte reicht nur zweihundert Jahre zurück. Taten adeln einen Mann, nicht sein Blut.«

Diese Ansicht teilte Rowarn nur zur Hälfte. »Aber man sieht dir den hohen und alten Adel an, da gibt es schon Unterschiede, auch in deinem Verhalten.«

»Nun gut: Es gibt Adel und Adel. Ich habe Hochadlige kennengelernt, die gerade zum Stiefelputzen getaugt hätten, wenn überhaupt.«

»Gibt es eigentlich noch Königreiche in Valia?«

»Das der Zwerge«, antwortete Arlyn, »und Ardig Hall. Ich weiß nicht, wie Angmor bezeichnet wird.«

»Am besten gar nicht«, erklang Graums hohe, miauende Katzenstimme neben ihr. Der Schattenluchs lachte keckernd. »Wir sagen einfach nur ›Herr‹ oder ›Gebieter‹ zu ihm, und bezeichnen ihn anderen gegenüber als den Herrscher. Aber wir reden ihn ohnehin nie von uns aus an.«

»Euch gegenüber ist er auch so finster?«, wunderte sich Rowarn.

»Noch viel schlimmer«, antwortete der Schattenluchs. Als er merkte, dass Angmor sich auf Aschteufel näherte, machte er, dass er weiterkam.



Rowarn redete nicht viel mit seinem Vater. Noch immer hielten ihn Scheu und Angmors wortkarges Verhalten zurück. Es war schwer, sich daran zu gewöhnen. Er wusste nicht, ob er es jemals als normal empfinden und Angmor als seinen Vater betrachten würde. Sicher, er war schon unter ungewöhnlichen Umständen aufgewachsen, und er war stets anders gewesen und auch so behandelt worden. Dann hatte er sich eine lange Zeit wegen seiner Herkunft gequält und eine vergleichsweise glückliche Auflösung geschenkt bekommen. Aber ein Halbdämon zu sein, war immer noch ... unangenehm. Er hatte überhaupt nichts mit diesem Volk der Finsternis gemein, dessen Lebensessenz aus purer Macht bestand. 

Im Grunde genommen war er genau wie die Warinen, nur mit dem Unterschied, dass seine zweite Hälfte zu den Nauraka gehörte, einem Volk des Meeres, über das nichts weiter bekannt war. Was waren sie für Wesen? Fremder noch als die Velerii, auch wenn sie menschliche Gestalt besaßen? Die Vorfahren seiner Mutter hatten das Meer verlassen, sie mussten sich also verändert haben. Wäre Ylwa ihrem Volk fremd gewesen, wenn sie ihm begegnet wäre? War sie überhaupt noch in der Lage gewesen, so zu tauchen und zu schwimmen wie die Nauraka? 

Rowarn wusste jetzt, warum er das Wasser so liebte, doch deswegen war er noch lange kein Meerwesen. Er war sich selbst nun fremder als zu der Zeit, als er nichts über sich gewusst und angenommen hatte, dass er nur ein etwas aus der Art geschlagener Mensch war. Es machte ihm nichts aus, kein Mensch zu sein – er hätte sich nur gern besser verstanden. Und er hätte am liebsten das Dämonenblut aus sich getilgt ...

Er spürte ein sachtes Streichen am Bein und sah den Schattenluchs; seine Nähe war so vertraut, als wären sie schon immer zusammen. »Graum ... was bedeutet es für dich, ein Dämon zu sein?«

»Hab nie drüber nachgedacht«, lautete die Antwort. »Ich bin, was ich bin.«

Das sagte er nicht zum ersten Mal. »Du zweifelst nie?«

»Nein.« Der Schattenluchs warf einen Blick hoch. »Ich finde es amüsant, wie sehr du dich immer quälst, genau wie deine Freunde, seien es nun Menschen oder Zwerge, selbst die Alten. Aber verstehen kann ich es nicht.«

»Und Angmor?«

»Warum sollte er zweifeln? Er tut, was er tut. Andernfalls würde er es lassen.«

Rowarn schüttelte den Kopf. So wenig wie Graum ihn, verstand er umgekehrt den Schattenluchs. Trotz der väterlichen Seite konnte er nicht viel Dämonisches in sich haben, denn er war nicht so kalt und verstandesbewusst, berechnend wie die Dämonen. Ihre Leidenschaft richtete sich nur auf Liebe und Hass, sie dachten nie über sich nach. Oder über andere. »Bist du schon lange bei Angmor?«

»Eine Weile. Ich bin einer von den langlebigen Dämonen, ähnlich wie Fashirh.«

»Könntest du irgendwo anders hingehen, wenn du wolltest?«

»Nein. Ich bin durch Lebensschuld an Angmor gebunden. Er ist mein Herr, solange einer von uns beiden lebt.«

Was immer das auch bedeuten mochte. »Und das stört dich nicht?«

»Warum sollte es?« Graum lachte katzenhaft. »Es ist nicht unehrenhaft.«

Und Angmor respektierte Graum. Das war nicht selbstverständlich. Rowarn war damit aber dem Verständnis der Dämonen kein bisschen nähergerückt.

Bis auf eines. Ich bin ich, dachte er.



Der Wald wurde wieder lichter, je weiter sie in den nächsten beiden Tagen vorankamen. Es wurde auch etwas wärmer und milder, und sie mussten nachts nicht so nahe ans Feuer rücken.

Schließlich erreichten sie einen sehr alten Bereich des Waldes, mit knorrigen, von Flechten, Efeu, Misteln und Schaumpilzen überwucherten Baumriesen, moosbewachsenen Felsbrocken und modernden, schon vor langer Zeit umgestürzten Stämmen. Die Sonne tastete sich energisch durch das sanft rauschende Blätterdach, ließ sich nicht abschneiden oder abhalten und warf flackernde, breit streuende Fächer auf den laubbedeckten Boden.

Als der Waldrand nicht mehr fern war, hielten sie an und stiegen ab. Von hier aus sah man bereits grünes Wiesenland zwischen den Stämmen hindurchblitzen. Angmor besprach sich mit Noïrun, weil sie nun in den Einflussbereich Dubhans kamen. Reeb und Laradim wurden als Späher vorausgeschickt und kamen in höchster Eile zurück.

»Wir haben eine Truppe Dubhani entdeckt, die auf den Waldrand zuhält!«, meldete die Ritterin. »Ein Zusammenstoß wird unvermeidlich sein.«

»Damit mussten wir rechnen«, sagte Noïrun ruhig. »Wie viele sind es?«

»Wir zählten zehn Warinen, zwei menschliche Bogenschützen und einen Zwerg«, antwortete Reeb. »Und ein gedrungener Kerl in grauer Rüstung ...« Er verstummte, als er sah, wie Arlyn, Rowarn und Noïrun gleichermaßen zusammenzuckten.

Arlyn wurde bleich. »Er ist es!«, zischte sie. »Nie hätte ich geglaubt, ihm noch einmal zu begegnen ...« Sie schien drauf und dran, aus dem Wald zu stürmen, aber Noïrun hielt sie am Arm fest.

»Du bleibst hier. Du siehst ihn dir nicht einmal an!«

»Dieses Gesicht ist mir ins Gedächtnis gebrannt, ich will ...«

»Nein, sage ich!« Noïrun sah sie fest an. »Nicht du, Arlyn. So hör doch auf mich.« Langsam ließ er sie los.

Sie erwiderte seinen Blick. Dann nickte sie, wenngleich schweratmend.

Angmor zog sein geflammtes Schwert. »Ich werde das jetzt beenden.«

Rowarn öffnete den Mund, doch Noïrun war schneller: »Steck dein Schwert wieder ein. Das ist ausschließlich eine Sache zwischen ihm und mir.«

»Meine Fehde ist älter«, knurrte der Visionenritter. »Er hat den Orden auf dem Gewissen, allen voran meinen Freund und dessen Frau ...«

Noïrun gab nicht nach. »Und er war mein Lehrmeister, Angmor, der mir Dinge antat, von denen nicht einmal ein Dämon etwas wissen will. Unwichtig

»Eine Rache kann nicht ...«

»Rache ist hier fehl am Platz. Jeder von uns hat Grund dazu, Heriodon umzubringen. Aber darum geht es jetzt nicht. Heriodon ist der Heermeister von Femris. Ich wiederhole: Das ist allein meine Angelegenheit.« Er warf Rowarn einen strengen Blick zu, als der auch seine Ansprüche anmelden wollte. »Und das gilt auch für dich, mein König. Du hältst dich da vollständig raus.«

Angmors Gesicht verfinsterte sich, und seine Augenwülste wurden bedrohlich spitz. Die verblassende Hautfarbe nahm ein tieferes Blau an, die Hörner bekamen ein silbriges Glitzern; so mochte er einst in jungen Tagen ausgesehen haben. »Wie kommst du darauf, dass ich ...«

Der Fürst unterbrach den Dämon brüsk. 

»Weil ich«, setzte Noïrun an und machte durch seine Haltung unmissverständlich klar, dass er keinesfalls nachgeben würde und sich auch nicht im Geringsten von Dämonenmacht beeindrucken ließ, »weil ich«, wiederholte er nachdrücklich und schob dazu den Oberkörper leicht vor, die Hand am Schwertgriff, und vollendete: »Weil ich der Heermeister von Ardig Hall bin, der höchste im Rang stehende Offizier aller hier Anwesenden! Damit habe ich die alleinige und ausschließliche Befehlsgewalt über jeden Einzelnen, einschließlich sämtlicher Könige, Visionenritter«, und dann richtete er seinen funkelnden Blick auf Graum, »und ihrer Begleiter.«

Für einen Moment herrschte tiefes Schweigen. Der Fürst, um über anderthalb Haupteslängen kleiner als der Visionenritter, bot dem Dämon mühelos gleichauf die Stirn.

»Und es ist mein Befehl«, schloss Noïrun schließlich, »dass keiner von euch sich dem Heermeister Dubhans nähern wird, noch die Waffe gegen ihn ziehen, solange ich am Leben bin. Wer gegen diesen Befehl verstößt, wird angeklagt und verurteilt, gleich hier vor einem Standgericht.« Er blickte scharf in die Runde. »Haben wir uns jetzt alle verstanden?«

»Mutiger Mann«, maunzte Graum leise mit einem vorsichtigen Seitenblick auf Angmor, hektisch darauf bedacht, sein gesträubtes Fell zu glätten.

Der Visionenritter verharrte einen langen Augenblick. Seine Aura ließ die Blätter im Umkreis welken, und Rowarn spürte auf einmal eine Beklemmung im Herzen und griff sich an die Brust. Dann wandte Angmor sich mit tief grollender Stimme an Olrig: »Kann man ihm jemals etwas ausreden?«

»Niemals«, bekräftigte der Kriegskönig. »Und er hat den Oberbefehl, daran gibt es nichts zu rütteln.«

»Dem stimme ich zu, so schwer es mir auch fällt«, meldete sich Tamron zu Wort.

»Also gut, ich füge mich«, gab der Visionenritter schließlich nach.

Als Rowarn erneut den Mund öffnete, schnitt Noïrun ihn wiederum wie mit kalter Klinge ab: »Ich debattiere nicht hierüber, verstanden? Wir befinden uns im Kriegszustand. Dies hier ist ausschließlich die Angelegenheit des Heermeisters, in die sich nicht einmal der König von Ardig Hall einzumischen hat! Die Regeln werden strikt eingehalten, denn nur so können wir unseren Anspruch durchsetzen. Denkt an die Titanenschlacht! Genau deswegen gibt es Regeln und Gesetze!« Er wandte sich um und winkte dem Kriegskönig. »Folge mir, Olrig.«

»Aye.« Der Zwerg beeilte sich, hinterherzukommen.

»Nur ihr beide?«, knurrte Fashirh.

Noïrun winkte ab, ohne sich umzudrehen. »Es sind doch nur dreizehn, Fashirh! Zum einen wird Heriodon sie nicht zum Zuge kommen lassen, weil er selbst meiner habhaft werden will, aus persönlichen Gründen, und weil dies eine Sache der Ehre unter Heermeistern ist ...«

»... und zum anderen haben wir schon gegen ganz andere Horden bestanden«, bekräftigte Olrig und hob grimmig die Axt. »Mit denen kann jeder von uns allein fertig werden, wenn es sein muss. Ansonsten hat Noïrun ganz recht: Heriodon muss das selbst erledigen, von Heermeister zu Heermeister, sonst verliert er das Gesicht vor seinen Leuten. Und bevor er zuschlägt, wird er verhandeln wollen. Da ist es ohnehin besser, wenn nur wir beide gehen und nicht gleich offen zeigen, wie sehr wir in der Unterzahl sind. Heriodon kann nun vermuten, dass wir mit diesem Auftritt so unverfroren sind, weil eine Hundertschaft hinter uns im Wald lauert – oder dass wir tatsächlich nicht mehr zu bieten haben.«

»Angmor, ich zähle auf deine Weitsicht«, fügte der Fürst rätselhaft hinzu, dann schob sich das Blattwerk zwischen ihn und die anderen.

Rowarn schloss endlich den Mund und blickte den beiden sorgenvoll nach.

»Wie konnte dieser Mann seinen Thron verlieren?«, meinte Tamron langsam. 

Das fragte Rowarn sich schon lange.



Angmor hob plötzlich den Kopf. »Graum«, sprach er. Seine eisglühenden Augen flackerten. Mit einer schnellen Bewegung setzte er den Helm auf.

Der Schattenluchs fuhr herum, witterte und knurrte. »Shanzarr«, zischte er. Dann nahm er Dämonengestalt an.

»Was?« Fashirhs Kopf ruckte zu Graum. »Wie kannst du ...«

»Ich kann es wittern«, fauchte Graum.

»Der Mensch ist weitsichtiger als ich«, brummte der Visionenritter und schüttelte unzufrieden den Kopf. 

»Aber was bedeutet das?«, fragte Rowarn.

»Heriodon hat uns eine Falle gestellt«, zischte der Rote Dämon. »Mein lieber Bruder ist hier.«

»Tracharh der Taur?«

»Allerdings. Er beherrscht das Shanzarr, das Schattengehen, und hat darin die Dubhani mitgenommen. So konnten sie sich unbemerkt an uns heranschleichen, und Angmor kann sie erst jetzt visionär sehen, nachdem sie uns schon fast erreicht haben. Hätte Noïrun uns nicht gezwungen, hier zu bleiben, wäre die Falle zugeschnappt, sie hätten uns aus dem Hinterhalt angegriffen und ...«

»Still!«, zischte Graum.

Tatsächlich tauchten jetzt zwischen den Bäumen Schatten auf, die Schwerter, Äxte und Morgensterne in Händen hielten. Das Sonnenlicht prallte von ihnen ab, ohne ihre Konturen genau nachzeichnen zu können. Wie Schemen bewegten sie sich an den Stämmen entlang. Einer von ihnen war besonders monströs, und Rowarn erkannte die mächtigen Stierhörner des Taur wieder.

Die Gefährten zogen gleichzeitig die Waffen. Graum fuhr die handspannenlangen, scharfen Krallen aus.

»Fashirh, Tamron, Graum, ihr kommt mit mir, das ist unsere Aufgabe«, befahl Angmor. »Ragon, Norem, Laradim, ihr postiert euch um den König und Arlyn und schützt sie. Reeb, Oïsin, ihr kommt ebenfalls mit uns, in zweiter Reihe. Haltet uns den Rücken frei.«

Rowarn wollte protestieren, aber Arlyn stieß ihn leicht in die Seite und wisperte: »Der König, das bist du, Rowarn, und all dies geschieht nur deinetwegen.«

»Noch bin ich auch ein Ritter«, maulte Rowarn, fügte sich aber, weil er sich nicht traute, mit ihr zu streiten.

»Die Lady gilt es zu verteidigen«, sagte Ragon ernst. »Wenn sie durchbrechen, sind wir gerüstet.«

»Na schön.« Rowarn nahm Aufstellung. Es lag ihm überhaupt nicht, in Verteidigungshaltung abzuwarten. Er war es gewohnt, beim Kampf vorneweg zu sein und die Feinde das Fürchten zu lehren. Aber die Verhältnisse hatten sich geändert, das musste er einsehen.

»Hast du Angst?«, flüsterte er Arlyn zu.

Sie schüttelte den Kopf. »Wieso sollte ich?«

Angmor und die anderen verteilten sich und traten auf breiter Front den zahlenmäßig überlegenen Angreifern entgegen, die sich nun aus dem Shanzarr schälten.

»Angmor – nur kämpfen!«, rief Rowarn. »Setze deine Gabe nicht ein. Wir werden mit ihnen fertig. Hebe deine Kraft für später auf!«

»Das habe ich vor«, antwortete sein Vater.

Tracharh verharrte, und die anderen hielten daraufhin ebenfalls inne. »Wenn ihr euch ergebt, lassen wir euch leben«, dröhnte er. Er wies auf den Visionenritter. »Wir sind nur an ihm und dem jungen Ritter dort interessiert. Ihr anderen könnt gehen oder euch uns anschließen, wie es euch beliebt.«

»Kleiner Bruder!«, donnerte Fashirh. »Diesmal bist du zu weit gegangen. Ich habe genug von deiner Torheit! Ich werde dich zur Rechenschaft ziehen.«

»Teurer Bruder«, lachte Tracharh der Taur. »Du hast mir nichts mehr zu sagen, Abtrünniger.«

Der Rote und der Schwarze Dämon standen sich gegenüber, zwei Giganten mit riesigen Hörnern, für die der Wald zu klein schien. Zwei Brüder, die auf verschiedenen Seiten standen und zu Feinden geworden waren.

Dann prallten sie aufeinander, und der Boden bebte. Das war das Signal, und der Kampf begann.

Graum blieb in seiner Dämonengestalt und brach wie ein verheerender Sturm über die Warinen herein. Angmor stand in der Mitte wie ein Fels in der Brandung und teilte furchtbare Schläge aus. Auch Tamron und die beiden Ritter schlugen sich tapfer, doch es rückten immer noch mehr Dubhani nach. Allmählich kamen sie dem König näher.

Rowarn hielt es schließlich nicht mehr aus. »Ragon, Lara, ihr bleibt bei Arlyn. Ich sehe nicht mehr länger zu.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte er auf zwei Warinen zu, die durch eine Lücke herankamen. Mit Schwert und Messer griff er die beiden an. Jede Fußfolge, jede Armbewegung stimmte, er überließ sich voll und ganz der Kampftrance, die ihn ans Ziel führen würde. Er kannte die Kampfweise der Warinen bis ins Kleinste, hatte sie in der Splitterkrone hinreichend beobachten können, und zuvor auf dem Schlachtfeld vor Ardig Hall. Und er war schnell und wendig. Die Warinen waren schwer und stark, sie konnten sich durch ihre Masse halten. Aber Rowarn nutzte seine Jugend aus, seine schmale, hochgewachsene Gestalt, die es ihm erlaubte, gelenkig und biegsam jedem Hieb auszuweichen und zwischen beiden Angreifern hindurchzuschlüpfen. Bald lagen sie am Boden, und er wandte sich den nächsten zu.

»Rowarn!«, rief Angmor, als er an ihm vorbeisauste, doch er konnte den Sohn nicht aufhalten.

»Willkommen!«, rief Tamron jedoch, als Rowarn neben ihm erschien. »Endlich wieder vereint.«

Und dann gingen sie zu zweit voran wie ein Rammbock, immer noch gut eingespielt und unschlagbar.

Schließlich war der Kampf vorbei, und sie hatten gesiegt. Alle Angreifer lagen am Boden, wer noch zuckte, wurde erlöst.

Rowarn verhielt und drehte sich um, sah mit einem raschen Blick alle Gefährten, außer Atem und blutbesudelt wie er. Zum Teil hatten sie Verletzungen davongetragen, aber keine schweren. Ragon und Laradim standen vor Arlyn, zu ihren Füßen vier tote Dubhani. Der junge König nickte ihnen anerkennend zu, dann wandte er sich dem einzigen Kampf zu, der noch immer andauerte.

Die beiden Dämonen hatten bisher nichts zwischen sich entschieden. Sie waren ein Stück weit abgekommen, und durch ihre Schläge und die Wucht ihrer Körper hatten sie zwei jüngere Bäume umgestürzt und den Boden aufgewühlt, bis das Grundwasser durchgebrochen war. Nun versanken sie ihm Schlamm und schlugen weiter aufeinander ein. Es war deutlich zu erkennen, dass sie gleich stark waren.

Rowarn zuckte zusammen, als eine mächtige Aura gegen ihn prallte und ihn zwei Schritte wegschob, dann stampfte die finstere Gestalt des Visionenritters an ihm vorbei auf den Roten und den Schwarzen Dämon zu. Graum, immer noch in gestreckter Dämonengestalt, folgte seinem Herrn auf starken Hinterbeinen.

»Genug«, fing Angmor an und blieb vor den kämpfenden Dämonen stehen. Er hob die rechte behandschuhte Hand. »GENUG!«, donnerte er, und von seiner Hand löste sich etwas, das aussah wie hitzeflirrende Luft. Es prallte auf die Kämpfenden und schleuderte sie zurück, dass sie haltlos hinstürzten. Der Boden dröhnte, als die schweren Körper aufschlugen.

Als Tracharh auffahren wollte, herrschte Angmor ihn an: »Wage nicht, mich ungefragt anzusprechen, Knecht! Dein Kampf ist vorüber! Zurückschicken werde ich dich ins Dämonenland, wo du in dich gehen wirst und warten, bis ich über dich entscheide.«

Fashirh sprang auf und stellte sich vor Tracharh. »Herr, lass mich für ...«

»Was geht hier vor sich?«, rief der schwarze Taur und erhob sich zur vollen Größe, die Stierhörner drohend auf den Visionenritter gerichtet.

»Zur Seite, Fashirh«, befahl Angmor mit weisender Geste, und der Rote Dämon fügte sich gesenkten Hauptes. 

Graum stand neben Angmor, mit verschränkten Armen und hoch aufgerichtet. »Tracharh, alter Kumpel, sei besser vernünftig«, riet er mit zu einem breiten Grinsen gefletschten Zähnen.

Der Taur starrte ihn an, als wäre er ein geflügelter Friedensbote des Regenbogens. »Graum ... aber ...« Das glühende Licht in seinen Augen flackerte.

Rowarn sah seinen Vater zwischen den Dämonen stehen, und tatsächlich wirkte er gegen sie vergleichsweise klein und schmal. Aber das machte er durch seine enorme Ausstrahlung wieder wett. Selbst für einen Außenstehenden wäre klar erkennbar gewesen, wer der Herr war. Angmor stand aufrecht und erhobenen Hauptes, wohingegen sich die Dämonen eher klein zu machen versuchten. Selbst Tracharh war nunmehr verunsichert. Sie mochten furchterregend aussehen, aber ihr Herrscher war von einer Aura der Macht umgeben, die bedeutend eindrucksvoller war.

Da nahm Angmor den Helm ab.

Der Taur erstarrte zur Säule. Dann stieß er einen Schrei aus, der Schmerz und Wut gleichermaßen in sich vereinte, Unglauben und tiefste Demütigung. Seine lackschwarze Haut wurde fahlgrau.

Nachtfeuer deutete mit der linken Hand zu Boden. »Auf die Knie mit dir, Tracharh«, befahl er in tiefstem, rollendem Bass. »Beuge dein Haupt vor dem Herrscher von Dämonenland und deinem Gebieter von Xhy, Widerspenstiger.«

Tracharh sank augenblicklich auf die Knie und neigte das Haupt. »Gebieter, lass mich erklären!«, flehte er.

»Sprich«, gestattete ihm sein Herr.

»Mein Bruder Fashirh ist ein Abtrünniger, und ich wollte das Gleichgewicht wiederherstellen, das er in Gefahr gebracht hat.« Der Taur sah auf und breitete die Arme aus. »Wie hätte ich ahnen können, dass du ...«

»Ja? Ich? Auch ein Abtrünniger bin, willst du das sagen?« Rowarn taumelte, als er die Macht des Zorns aus seinem Vater hervorbrechen fühlte. Doch sie war nur gegen Dämonen gerichtet, denn Arlyn und die anderen bemerkten nichts davon. Rowarn aber musste alle Kraft aufbieten, um nicht auch noch auf die Knie zu fallen.

»Nein ... nein!« Tracharh heulte auf. »Deine Wege sind unergründlich, Gebieter, ich verstehe sie nicht! Doch mein Bruder ...«

»Er hat das Richtige getan, Tracharh, denn wir können die Macht über Waldsee nicht einem wahnsinnigen Folterer und einem machthungrigen Unsterblichen anvertrauen! Es ist unsere Pflicht, dem Einhalt zu gebieten und das Gleichgewicht wiederherzustellen, denn es geht auch um unsere Heimat Xhy, denn wir dürfen nicht zulassen, dass der Schwarze Annatai seine finstere Hand nach dieser Welt ausstreckt.« Angmor ging einen Schritt auf den Taur zu, der augenblicklich zurückwich. »Zwei Brüder im selben Krieg auf verschiedenen Seiten, die gegeneinander kämpfen – das dulde ich nicht. Ihr werdet außerhalb des Dämonenlandes keine Blutschuld auf euch laden! Du gehst nach Hause, Tracharh, und bleibst im Dämonenland, bis ich dir erlaube, wieder zu gehen!«

Seine Stimme, obwohl er leise sprach, dröhnte in Rowarns Ohren, und er presste stöhnend die Hände dagegen. Alles in ihm vibrierte und zitterte, und nun wusste er, er war doch ein Dämon, denn am liebsten wäre er auf der Stelle ins Dämonenland gegangen; nein, gerannt. Er sah, dass auch Fashirh litt, und Graums Fell war weit gesträubt.

Der Taur erhob sich zur vollen Größe, fast zwei Köpfe höher als sein Herr, und doch sehr viel kleiner. »Ich werde gehen, Gebieter«, sagte er ergeben. »Falls ich unehrenhaft gehandelt habe ...«

»Du hast gute Arbeit geleistet«, unterbrach Nachtfeuer. »Ich hörte es aus direkter Quelle. Dafür gebührt dir Lob. Du hast nicht falsch gehandelt, aber deine Aufgabe ist beendet. Geh.«

Tracharh wirkte erleichtert. Er verneigte sich vor dem Herrscher, dann sagte er zu Fashirh: »Bruder ...«

»Geh«, sagte der Rote Dämon. »Kleiner Bruder.«

Tracharh ging. Langsam, dann zusehends schneller. Schließlich verschwand er im Shanzarr.

Arlyn holte ihren Beutel und kümmerte sich um die Verletzten. Rowarn war gerade dabei, das Schwert einzustecken, als er Olrigs weithin schallende Stimme hörte, und er rannte augenblicklich los, zum Waldrand.

Und schrie auf.



Noïrun und Olrig liefen aus dem Wald. Grünes Hügelland breitete sich Richtung Osten aus, nach Süden zu erstreckten sich wieder Bäume.

Der Zwerg hatte die Axt gezückt. Die Hände des Fürsten waren leer.

Die Truppe Dubhani verhielt sofort. Vielleicht waren sie erstaunt, dass die beiden Männer so offen auf sie zuhielten.

»Ist er’s?«, wisperte Olrig unterwegs.

»Ja. Kein Zweifel.« Die Stimme des Fürsten klang kühl und beherrscht wie stets.

Ein gedrungener Ritter ganz in Grau führte die Truppe an. Er war größer als die Warinen und breit wie der Zwerg, aber kleiner als die beiden Menschen.

Nachdem die Feinde angehalten hatten, wurden auch Noïrun und Olrig langsamer, fielen in gemessenen Schritt und verharrten schließlich.

»Lass ihn auf uns zukommen«, sagte der Fürst leise. »Er will mich, er wird kommen.«

Und tatsächlich, es dauerte nicht lange, da näherte sich ihnen der Heermeister von Femris. Unterwegs nahm er den Helm ab und ließ ihn achtlos fallen.

Heriodons Lippen zogen sich zu einem Lächeln in die Breite, als er ein paar Speerlängen vor ihnen verhielt. »Noïrun, mein lieber Junge!«, rief er leutselig, als wäre dies ein freundschaftliches Treffen. »Ich freue mich, dich wiederzusehen, gesund und stattlich. Ein Mann bist du geworden, in der Tat, und eiferst mir immer noch nach.«

»Ich habe dir nie nachgeeifert, Heriodon«, versetzte der Fürst ruhig. »Ich wollte nur besser sein als du.«

»Und war ich dir je ein schlechter Lehrmeister?«

»Du warst der Beste von allen. Und der Verabscheuungswürdigste.«

»Ja, ich erkenne den stürmischen jungen Mann wieder«, lachte Heriodon. »Und ich sah dich in diesem Jungen, den ich an Angmors Seite fand, genauso temperamentvoll und ungezügelt wie du, und so hochbegabt. Ich war der festen Überzeugung, er wäre dein Sohn, bei der tiefen Bindung zwischen euch.«

»Es ehrt mich, dass du mir das zutraust«, erwiderte Noïrun. »Aber in dieser Sache bin ich ausnahmsweise einmal völlig unschuldig.«

»Ja, der Gedanke kam mir auch, wegen meines anderen Verdachts: Ist er der Nauraka? Der Erbe von Ardig Hall?«

»Ja. Er ist Ylwas Sohn.«

»Unglaublich! Wer hätte je geahnt, dass die hehre Jungfrau des Friedens sich doch einmal auf weltliche Gelüste einlässt. Ich vermutete es von Anbeginn, aber ich konnte Femris nicht erreichen, um Gewissheit zu erlangen. Rowarns Aussehen legt es nahe, aber vor allem sein Name. Ein sehr alter, stolzer Name, wusstest du das? Er bedeutet Perlmond. Der Name des Königs, der mit seiner Sippe damals das Meer verließ. Er hat die Sehnsucht nie überwunden, und es heißt, dass man ihn oft auf den Zinnen von Ardig Hall stehen sah, wo er sang, weithin leuchtend in der Dunkelheit der Nacht. Sehr passend, finde ich. Schade nur, dass sein Nachfahre keine Freude mehr daran haben wird.«

»Zerbrochene Mauern lassen sich wieder aufbauen«, meinte der Fürst gelassen.

Heriodons Augen glitzerten. »Nicht, wenn es keinen mehr gibt, der sie aufbauen kann. In diesem Moment schnappt die Falle zu, und wir haben euch endlich alle auf einen Streich. Das Mädchen ist auch bei euch, nicht wahr? Arlyn?«

»Ja. Sie ist längst kein Mädchen mehr, sondern die edle Herrin von Farnheim, wie selbst du wissen solltest.«

»Oh, aber natürlich. Man besingt sie ebenfalls als ewige Jungfrau.« Heriodon lachte. »Das ist kein Wunder. Sie hat gesehen, was ich mit ihrer Mutter gemacht habe. Sie wird sich niemals von einem Mann berühren lassen ... mit Ausnahme von mir. Doch das hat Zeit.«

Der Fürst blieb gelassen. Darüber war er hinaus. »Warum ist sie am Leben geblieben?«

»Ich wollte sie als meinen Zögling mitnehmen. Leider ist sie entkommen, und ich musste weiter.« Heriodon zuckte die Achseln. »Schade, sie wäre eine wunderbare Schülerin gewesen ... so jung, so unverbraucht. Aber was nicht ist, kann noch werden, nicht wahr?«

Noïrun hörte das Klirren von Metall aus dem Wald, und tiefe Schreie. »Wer hat uns verraten?«

»Ta-ta – keine Fragen, keine Lügen. Aber ernsthaft: Die Antwort wird dir nicht gefallen, deswegen verrate ich es dir. Rowarn selbst war es«, antwortete Heriodon vergnügt.

Diesmal hätte er es fast geschafft, Noïrun aus dem Gleichgewicht zu bringen. Olrigs Axt zuckte hoch. Dann sagte der Fürst: »Du hast ihn benutzt.«

»Es war nur möglich, weil er die Tür öffnete. In diesem Moment sah ich dich durch seine Augen, und diesen da.« Heriodon wedelte mit der Hand in Olrigs Richtung.

»›Dieser da‹ wird dir gleich ein Lied über eine singende Axt beibringen, du unverschämter mischblütiger Bastard«, knurrte der Kriegskönig.

Heriodon beachtete ihn nicht. »Es war eine Überraschung, dass dir dein Täuschungsspiel erneut geglückt ist und du wiederum einen anderen den Heermeister für dich spielen lassen konntest. Immerhin konnte ich die Sache selbst in die Hand nehmen, da ich gerade auf der Suche nach Rowarn war. Nachdem ich wusste, dass ihr zusammen seid, kam als Ort nur Farnheim in Frage, es liegt günstig zu Dubhan, wenn man ein gutes Versteck braucht. Dass du als Nächstes gegen Femris ziehen würdest, war nicht schwer zu erraten. Es gibt nicht viele Wege, die von Farnheim direkt nach Dubhan führen, also brauchte ich mich nur zu postieren.« Heriodon zeigte ein böses Grinsen. »Hier seid ihr am Ende eures Weges angekommen.«

Olrig umfasste den Griff seiner Axt fester. »Der Kerl hat keine Ahnung, mit wem er sich angelegen will«, grollte er.

Der Fürst lächelte. »Nicht die geringste.« Er deutete hinter sich. »Weil ich bereits ahnte, dass du einen Hinterhalt gelegt hast, habe ich dafür gesorgt, dass die anderen sich darum kümmern werden. Du hast Glück, dass ich mich deiner annehme, denn einige haben darauf bestanden, Rache an dir nehmen zu dürfen.«

»Und du nicht?«, fragte Heriodon lauernd.

»Ich hege keinen Groll gegen dich, Heriodon. Was du mir angetan hast, hat mich zu dem Mann gemacht, der ich heute bin. Obwohl mein Vater für meine Ausbildung bezahlt hat, stehe ich also gewissermaßen in deiner Schuld, wegen der ... unbezahlten Zugabe.« Langsam zog der Fürst sein Schwert. »Die werde ich heute begleichen. Sei dankbar, dass ich es tue, denn ich werde dir einen schnellen, gnädigen Tod schenken.«

»Lächerlich.« Der Graue zog ebenfalls blank. »Du warst mein Schüler, ich weiß, wie du kämpfst. Ich habe es dir beigebracht. Ich bin der beste Schwertkämpfer von Waldsee.«

Noïrun lachte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du gegen einen Annatai wie Halrid Falkon bestehen könntest, denn dieses Volk hat die Kunst des Kampfes perfektioniert. Ich glaube auch nicht, dass du Angmor besiegen könntest, denn er hat die Kunst der Annatai gelernt, als er dem Orden beitrat, und er war damals schon nahezu perfekt im Kampf. Aber gegen mich anzutreten? Das ist hoffnungslos, alter Mann. Ich war damals schon besser als du. Ich habe dich nur deshalb nie besiegt, weil ich dafür nicht noch mehr Schmerzen erdulden wollte. Mir genügte es zu wissen, dass ich es konnte.«

In Heriodons Augen entzündete sich ein wilder Funke. »Du wagst es ...«

»Du hast keine Macht mehr über mich«, unterbrach Noïrun. »Stirb jetzt, Heriodon, und mit ein bisschen Würde, wenn ich bitten darf, als mein ehemaliger Lehrmeister.«



Und so tauschten sie die ersten Schläge, wie einstmals zu Beginn ihrer Übungen. Es war, als hätte der Fürst zwanzig Jahre lang nur auf diesen einen Moment gewartet, auf die Vervollkommnung seiner Kunst, seine Meisterprüfung.

Nichts anderes war mehr in seinen Gedanken, die er vollständig leerte. Er empfand weder Wut noch Hass. In diesem Moment vergaß er auch, wer er war, was ihn vorantrieb, was sein Herz schon so lange quälte. Er war das Schwert, war Harmonie, Höhepunkt der Kunst, hingegeben an die Bewegung, die ihn mit sich nahm und auflöste, ihn eins machte mit allem, was um ihn war. So wurde er zum Ast, der sich wiegte im Sturm, weich und nachgiebig, doch unbeugsam und niemals brechend. Und zum Gras, das mit dem Wind sang, das immer wieder spross, egal wie oft es niedergetrampelt und abgefressen wurde. Und zum Büffel, der ewig über die Weiden zog, langsam und stetig, niemals innehaltend. Eine Front bildete er gegen den Angreifer, hornbewehrt, starr wie eine Mauer, die selbst dem Rammbock widerstand. Und da war der Waldlöwe, ein Wesen ganz allein, gefürchtet von der Welt, und das doch nichts anderes wollte als seinen Hunger zu stillen, ganz ohne Streben nach Macht und Unterdrückung. Ein Wesen voll perfekter Eleganz, lebendiger Tod, unüberwindlich, anmutig und hingegeben. 

Macht strömte durch die Luft, Noïrun konnte sie spüren. Sie bündelte sich, konzentrierte sich auf einen Punkt. Er sah sie leuchten, sah sie geballt in der Hand des Mannes, der keine Gewalt mehr über ihn hatte.

Da hielt Noïrun inne und lachte. »Spare deine Kräfte, Heriodon. Deine Magie kann dir nicht nutzen.«

»Oh, aber du erinnerst dich doch gewiss noch an den Schmerz?«, erwiderte der Graue und ließ das Schwert sinken. Nun trat die zweite Phase des Kampfes ein. Noïrun kannte diese Taktik, so hatte Heriodon ihn früher oft aus der Fassung gebracht. Er wollte ihn wohl heute noch belehren, konnte nicht einsehen, dass Noïrun kein Schüler mehr war und dies kein Spiel oder eine Übung. Stets war es so abgelaufen: Angriff auf den Körper, dann Angriff auf den Geist, und schließlich der letzte Schlag. Aber damals war der Fürst noch ein junger, unerfahrener Heißsporn gewesen. Nun würde er den Spieß umdrehen. 

Mit bösartigem Lächeln setzte Heriodon hinzu: »Ich weiß genau, wo du am empfindlichsten bist.« Ja, davor hatte Noïrun sich früher immer gefürchtet.

Aber heute zeigte der Fürst keinerlei Regung, nicht einmal ein Muskel zuckte. »Narr«, sagte er höhnisch. »Ich habe weitaus schlimmeren Schmerz erlebt als den, den du mir je zufügen könntest. Und es gibt nichts mehr, wovor ich mich fürchten muss, denn ich habe das Unbekannte schon lange kennengelernt, in all seiner Mannigfaltigkeit.«

Heriodon wirkte nun doch ein wenig verunsichert. »Das ist unmöglich.«

Ja, dachte er, ich habe dich. Dein Schwert sinkt tiefer, und du hast Angst. Doch du kannst sie nicht mehr weitergeben. Denn ich bin die Angst.

»Du bist ein Versager«, zischte Noïrun. »Du hast etwas Gutes bewirkt an mir, und ebenso an Rowarn. Arlyn wäre ohne dich niemals zu solcher Größe gelangt und hätte nicht diesen einzigartigen Ort der Heilung geschaffen. Der Kraft Angmors bist du nie habhaft geworden. Und nun wird dein Herr verlieren, weil der Widerstand erst durch deinen Versuch der eigenen Schöpfung und Formung möglich wurde. Ich bin frei von dir, und nachdem ich dich getötet habe, wird es auch Rowarn sein.« 

Er schritt langsam um den Grauen, das Schwert halb gesenkt, und Heriodon musste sich mit ihm drehen.

»Und jetzt verrate ich dir etwas über ihn, das dir kaum gefallen wird«, fuhr er fort. Sein Gesicht war so hart wie ein Fels am ersten Morgen des Winters, und seine Augen waren düster wie Smaragde, die das Licht einfingen, aber nicht mehr zurückgaben. »Er ist nicht nur der König von Ardig Hall, alter Mann: Er ist zudem Angmors Sohn, und damit der Zwiegespaltene, der Herr des Tabernakels. Begreife, was du dir durch die Hände hast schlüpfen lassen!«

Heriodon wurde aschfahl. »Das ist nicht wahr ...«

Aber Noïrun lachte nur, kalt und freudlos, ganz ohne Triumph. Er bereitete sich auf den letzten Schlag vor, den er führen würde. »Dank dir hat er endlich aufgehört, an sich zu zweifeln, und er wird Valia den Frieden bringen! Und damit beende ich diese Sache.«

Heriodons Schwert fuhr hoch, aber Noïrun war bedeutend schneller. 

Der erste Schlag traf Heriodons Oberschenkel, durchschnitt das Fleisch bis auf den Knochen und zertrümmerte diesen, und der graue Heermeister knickte ein. Bevor er einen Schmerzlaut von sich geben konnte, drang Noïruns Schwert bereits tief in seinen Bauch, und mit einem kraftvollen Fußtritt, wie man ihn nur für niedere Kreaturen übrig hatte, warf der Fürst ihn endgültig zu Boden. 

Heriodons Schwert flog in hohem Bogen davon. Brüllend versuchte der General, die Bauchwunde mit Händen zu verschließen und die hervordrängenden Eingeweide aufzuhalten.

Fürst Noïrun, Heermeister von Ardig Hall, baute sich über ihm auf, dunkel wie ein Gott des Blutes.

»Normalerweise brauche ich nur einen Schlag«, stieß er hervor, »doch diese Genugtuung, ja, billige Rache, gestatte ich mir in diesem Moment, in Gedenken an all deine Opfer, lebend oder tot.«

Er sah, wie sein ehemaliger Lehrmeister litt. Panik flackerte in seinen Augen. Der Schmerz musste unerträglich sein.

»Tut es weh? Schön. Nimm diese Erfahrung mit auf deine letzte Reise.«

Heriodon begann: »No-«, doch da traf ihn die scharfe Klinge in den Hals und zerfetzte ihm die Kehle. Er röchelte nur noch kurz, dann brach sein Blick.



Der Fürst verharrte einen Augenblick reglos. Von dem gesenkten Schwert herab tropfte Blut und färbte die gelben Sonnensprenkel am Boden rot.

Dann wandte Noïrun sich langsam Heriodons Gefolge zu, das sichtlich zögerte. Der Schweiß lief ihm in Strömen hinab, sein Atem ging stoßweise. Doch sein Schwertarm war völlig ruhig, und unter dem Hemd sah man die kraftvolle Anspannung der Muskeln. »Wollt ihr wirklich weitermachen?«, fragte er streng. »Der Kampf ist entschieden. Ihr habt kein Recht, mich als Heermeister anzugreifen, da ihr den euren verloren habt. Oder will einer von euch ernsthaft persönliche Rache für Heriodon nehmen?«

Die Warinen ließen daraufhin die Waffen sinken. Einige steckten sie ein und wandten sich zum Gehen. Lediglich die beiden Menschen und der Zwerg verharrten unschlüssig.

Der Fürst schlug der Leiche den Kopf ab, packte ihn und warf ihn dem zögernden Feind vor die Füße. »Geht damit zu Femris und sagt ihm, dass er einen neuen Heermeister braucht«, sagte er. »Und sagt ihm, er wird auch bald ein neues Heer brauchen, denn ich, Fürst Noïrun Ohneland von den Menschen, Heermeister von Ardig Hall, werde gegen ihn ziehen und seine Burg dem Erdboden gleichmachen, wie er es mit dem Schloss des Friedens getan hat.« Damit drehte er sich um und ging.

Olrig beobachtete die scheidenden Warinen und sah, dass sie kein Verlangen nach Kampf hatten. Der Dubhan-Zwerg hob mit zitternder Hand den blutigen Kopf auf. 

Der Kriegskönig spuckte aus und schloss sich dem Fürsten an. 

Doch da rief einer von Heriodons Bogenschützen: »Tod dem Heermeister! Femris wird mich mit Gold überschütten, wenn ich endlich vollbringe, was anderen misslang!«

Olrig wirbelte bereits beim ersten Wort herum, als gleichzeitig ein zischender Laut erklang. Noïrun stieß einen ächzenden Laut aus und taumelte.

Eine zweite menschliche Stimme erklang: »Bist du verrückt, Idiot?« 

Olrig übertönte ihn. »Der Blitzschlag soll euch treffen, ihr ehrlosen, feigen Mörder! Brennen sollt ihr auf ewig in den Feuern von Hráldfhárr!«, schrie der Kriegskönig, hob die Axt und raste auf die Truppe los. »Es gibt keinen Ort mehr auf Waldsee, wohin ihr noch gehen könnt, für diesen abgrundtief verachtenswerten Verrat!« Er hielt auf den Bogenschützen zu, der hektisch versuchte, einen zweiten Pfeil anzulegen. Zu schnell war Olrig bei ihm, holte aus und spaltete ihm mit der Axt den Schädel.

Die anderen, die sich hatten zurückziehen wollen, hatten jetzt keine Wahl mehr. Sie fluchten, zückten die Waffen und griffen an.

Der Pfeil steckte tief in Noïruns rechter Schulter. Bevor er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, waren die ersten Feinde schon über ihm. Der Fürst wehrte jedoch den herabsausenden Schwerthieb ab, der tödlich gewesen wäre, und schlug die Klinge mit dem verletzten Arm beiseite. Der Schmerz der Bewegung raubte ihm allerdings beinahe das Bewusstsein. Er merkte, wie etwas in seiner Schulter riss und dann warm in sein Inneres rann, und er sank keuchend auf ein Knie. In diesem Moment fuhr ihm ein Hieb in die Seite und schnitt durch die Rüstung tief ins Fleisch, zerfetzte Sehnen und Gewebe und bohrte sich in ein Organ. 

Der Fürst stieß einen gellenden Schrei aus und warf sich herum, die linke Hand am Gürtel. Er zog das Messer und schleuderte es auf den Warinen, der ihn ansprang. Es traf direkt in den Hals, und der Angreifer stürzte mit gurgelnden Lauten. Aber der Nachfolgende war nun nah genug, und Noïrun traf ein zweiter Schlag schmetternd auf den linken Schulterknochen, der schon einmal vor langer Zeit schwer verletzt worden war. Der Fürst wurde fast blind vor Schmerz, vor seinen Augen flammte grelles Rot. Er konnte sich nicht mehr halten, strauchelte und fiel stöhnend auf den Rücken. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft für einen Schrei, obwohl seine Lungen fast zu bersten drohten und nach einem weithin schallenden Gebrüll verlangten, um die Pein von sich zu schleudern. 

Gerade noch im letzten Moment, als der Warine zum zweiten, tödlichen Schlag ausholte, brachte Noïrun sein Schwert vor und über sich, umklammerte es mit beiden Händen und stieß es mit letzter Kraft in den Angreifer. Durch den eigenen Schwung getragen, konnte der Warine nicht mehr ausweichen. Er spießte sich selbst auf und brach über dem Fürsten zusammen.

Noïrun verließen die Kräfte, seine Hände ließen das Schwert los, die Arme fielen seitlich herab. Vor seinen Augen flimmerte es, und er spürte seine Beine weit entfernt von sich. Still lag er auf dem Rücken, verwundert, weil er sich nicht mehr bewegen wollte. Das war sonst nicht seine Art ...

Wie von Ferne hörte der Fürst den Kriegskönig wütend brüllen und wollte ihm zurufen: Lass gut sein, Freund, es ist gleich vorüber. 

Doch er brachte keinen Ton mehr über die trockenen Lippen. Da hörte er einen anderen Schrei, von einer jungen, hellen Stimme, über den Kampflärm hinweg, wie aus einer anderen Welt. 

Lasst den Jungen nicht zu mir, dachte er müde. Das soll er nicht sehen

Dann verlor er das Bewusstsein.



»Noïrun!«, schrie Rowarn außer sich. Er hatte den Fürsten fallen sehen und wollte hinausstürmen, aber Angmor rief: »Ragon, halt ihn! Das ist zu gefährlich!«

Ragon versuchte, den jungen König festzuhalten, aber das hatten nicht einmal vier Warinen in der Splitterkrone geschafft. Rowarn riss sich los, schüttelte ihn ab wie eine Fliege und raste mit gezücktem Schwert hinaus.

Ihm folgten Angmor, Graum und Tamron, die Olrig zu Hilfe eilten, und mit großem Getöse brach der riesige schwarzgraue Hengst aus dem Unterholz und galoppierte mit dem Schattenluchs um die Wette auf den Feind zu.

Rowarn rannte zu dem Fürsten, der reglos am Boden lag, halb unter einer Leiche begraben.

Der Visionenritter und der Unsterbliche erreichten den Kriegskönig, der bereits aus mehreren Wunden blutete, aber immer noch mit seiner Axt ein fürchterliches Blutgericht hielt. Ragon, Fashirh und die anderen trafen bald darauf ein und schnitten den Dubhani den Weg ab, die auf den Fürsten zuhielten. Aschteufel und Graum stürzten sich auf den fliehenden Menschen und den Zwerg.

Rowarn zerrte die Leiche weg, kniete neben dem Fürsten nieder und betete verzweifelt darum, dass er am Leben sein möge. Bei all dem Blut konnte er nicht erkennen, ob Noïrun noch atmete. Immerhin strömte es pulsend aus ihm, also musste ein Rest Leben in ihm sein. 

Rowarn öffnete die Rüstung und schleuderte sie beiseite, riss das Hemd in Fetzen und band in fliegender Hast die Wunden ab. Dann wischte er über Noïruns blutverschmiertes Gesicht und brach in Tränen aus, als der Fürst mit einem Röcheln zu sich kam und die Augen öffnete.

»Halt still, du darfst dich nicht bewegen, du verlierst furchtbar viel Blut«, stammelte Rowarn. 

»Rowarn, du ... musst gehen«, flüsterte der Fürst. »Du darfst nicht hierbleiben, du bist zu wichtig ...«

»Ich geh nicht weg, nicht ohne dich«, schluchzte der junge König. »Halt durch, ich bitte dich ...« Er umklammerte Noïruns Hand, als könne er so das Leben festhalten, das unablässig aus seinem Freund rann.

Der Fürst kämpfte ums Bewusstsein, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Er konnte sich kaum bewegen.

Rowarn sah auf, als Arlyn in fliegender Hast eintraf. Sie hatte ihren Beutel dabei, riss die schmutzigen, durchgebluteten Fetzen herunter und legte neue Pressverbände an. »Gut gemacht«, lobte sie.

»In ... in der Schulter steckt immer noch der Pfeil«, sagte Rowarn stockend. »Der Schaft ist abgebrochen, als er stürzte ...«

»Das braucht uns jetzt nicht zu kümmern«, antwortete Arlyn. »Zuerst müssen wir die Blutungen aufhalten.«

Die Kämpfe um sie herum interessierten die beiden nicht, sie bekamen nicht einmal etwas davon mit. Es gab auch keinen Grund zur Wachsamkeit. Ihre Gefährten, rasend vor Wut, machten den Feind mit schrecklicher Gewalt und Grausamkeit nieder.

»Hast du große Schmerzen?«, fragte Arlyn den Fürsten.

»Ja«, stieß er zwischen den zusammengepressten Zähnen hervor.

»Gut.«

»Gut?«, flüsterte Rowarn.

Arlyn warf ihm einen kurzen Blick zu. »Er wird nicht sterben, solange er Schmerzen hat.«

Rowarn hielt immer noch Noïruns Hand. Er fühlte hilflosen Zorn, weil er nichts tun konnte. »Gib nicht auf, hörst du? Das ist ein königlicher Befehl, dem du dich nicht widersetzen darfst.«

»Nie...mals«, keuchte Noïrun und verlor erneut das Bewusstsein.

Inzwischen war der Kampf vorüber, und die anderen näherten sich vorsichtig, allen voran der hinkende Olrig. Die Axt ließ er nachschleifen. Sein Gesicht trug einen verbissenen Ausdruck.

»Wie geht es ihm, Arlyn?«, fragte er knapp.

Ragon zuckte zusammen, als er die furchtbaren Wunden sah. »Götter und Dämonen«, stieß er voller Grauen hervor. »Könnte ich es nur auf mich laden ...«

»Es sieht sehr schlecht aus«, verkündete Arlyn ohne Umschweife. »Die Verletzungen sind schwer, und ich kann die Blutungen bisher nicht stoppen. Angmor, kannst du den Pfeil durch die Schulter stoßen und dann herausziehen, solange Noïrun bewusstlos ist? Ich glaube, der Schaft ist noch lang genug. Und wir haben nur wenig Zeit. Hier draußen im Feld kann ich nicht viel für ihn tun.«

Der Visionenritter besah sich die Verletzung und nickte. Er gab Fashirh einen Wink, der daraufhin den Oberkörper des Fürsten anhob, damit Angmor den Pfeil erreichte. Der Dämon umklammerte den Mann fest, der völlig schlaff in seinen Armen hing. 

»Vorsichtig«, flüsterte Rowarn und biss sich auf die Unterlippe.

»Das müsste er doch gewohnt sein.« Angmor nahm Maß. Dann schlug er zu und trieb den Pfeil durch die Schulter, bis die blutige Spitze auf der anderen Seite austrat. Schnell umfasste Angmor das herausgetretene Ende und zog den Pfeil mit einem scharfen Ruck heraus.

Noïrun bäumte sich auf und kam schreiend wieder zu sich, die Augen weit aufgerissen. Fashirh hielt ihn fest und redete erstaunlich behutsam auf ihn ein. Arlyn drückte sofort Kräuter und ein Tuch auf die frische Wunde.

Rowarn sah in Ragons blasses Gesicht, neben ihm standen die vier Ritter, nicht minder erschüttert und verzweifelt. »Er wird es schaffen!«, stieß er heiser vor Angst hervor. 

Damit beruhigte er aber niemanden, am wenigsten sich selbst.

Fashirh legte Noïrun vorsichtig wie ein rohes Ei ab. Langsam beruhigte sich der Verletzte, sein Verstand klärte sich.

»Was macht ihr hier alle um mich?«, keuchte der Fürst. »Wo ist der Feind?«

»Erledigt«, antwortete Angmor.

»Femris hat einen ziemlich hohen Verschleiß an Heermeistern«, bemerkte Fashirh.

»Mit unserem wär’s diesmal auch beinah vorbei gewesen«, brummte Olrig sorgenvoll. »Noïrun, nun halt doch endlich mal still, Arlyn kann ja gar keinen neuen Pressverband anlegen. Kannst du nicht einmal loslassen und die Verantwortung anderen anvertrauen?«

»Ich kann ... Rowarn nicht allein lassen«, stieß Noïrun zähneknirschend hervor, bevor er wieder ohnmächtig wurde.

»Und ich kann nicht ohne dich weiterziehen«, bemerkte Olrig und schaute Rowarn an. »Tut mir leid, Junge.« Er tippte leicht an sein blutendes Bein, in dem eine tiefe Wunde klaffte. »Aber in dieser Verfassung bin ich euch ohnehin kaum von Nutzen. Ich werde Noïrun nach Farnheim zurückbringen, denn nur dort hat er überhaupt Hoffnung zu überleben.«

»Ich wollte dich gerade darum bitten«, gestand Rowarn. »Und bitte, Olrig ...«

»Mach dir keine Gedanken um Noïrun, der schafft das«, unterbrach Olrig knurrig. »Hat schon ganz andere Dinge überstanden. Ist ’n harter Knochen.« Er blickte zu Angmor. »Uns ist keiner entwischt, nicht wahr? Es wäre eine Katastrophe, wenn das jetzt bekannt würde.«

»Ich bin alles abgelaufen«, antwortete Graum anstelle seines Herrn. »Wir haben sie alle getötet. Keine Fluchtspur weit und breit. Aschteufel hat auch nichts gemeldet.«

»Möchtest du umkehren?«, fragte Angmor seinen Sohn.

Rowarn lachte trocken. »Natürlich nicht!«

»Wir würden keine Zeit verlieren oder eine günstige Gelegenheit verstreichen lassen. Femris wird sicher noch eine Weile brauchen, bis er sich gänzlich erholt hat. Wir könnten uns eine neue Strategie überlegen«, gab Angmor zu bedenken.

Rowarn sah die anderen der Reihe nach an; sie wollten sich alle nicht äußern. Diese Entscheidung musste er allein treffen. Für einen Augenblick war er versucht, Arlyn um Rat zu fragen, aber er sah ihr an, dass sie ihm nicht helfen würde. Allerdings, auch das konnte er spüren, wäre sie mit allem einverstanden.

»Was glaubst du, was er mit mir machen würde«, murmelte er. »Du hast ihn doch vorhin erlebt, oder? Noïrun ist immer noch mein Heermeister, und ich bin sein Ritter. Mein Eid gilt ebenso wie seiner, und er hat den Befehl nicht aufgehoben. Wir gehen weiter.« Obwohl es ihn innerlich zerriss, denn er wollte Noïrun nicht verlassen. Er war auch immer noch an den Eid gebunden, den er Morwen einst geleistet hatte: Den Fürsten niemals im Stich zu lassen. Doch Olrig war bei ihm, und Rowarn musste jetzt als König handeln.

Arlyn nickte ihm zu und lächelte leicht. »Ich glaube auch, dass er es bis Farnheim schaffen wird. Ein Wunder hat er schon vollbracht, indem er überhaupt noch am Leben ist. Ich kann ihn verbinden und mit Mitteln versorgen, die ihn in tiefen Schlaf legen und den Herzschlag verlangsamen. So kann er bis Farnheim durchhalten, und dort wird man ihm umgehend helfen können. Das ist der einzige Weg, Rowarn. Mehr als Olrig könntest du auch nicht tun. Du musst nun in seinem Sinne weitermachen. Glaub fest daran.«

Die Tränen schossen ihm wieder in den Augen. »Ich habe ja wohl keine Wahl, oder? Aber du ...«

Sie hob hastig die Hand, bevor er weitersprechen konnte. »Nein, Rowarn, das schlag dir aus dem Kopf. Ich werde nicht mit zurück nach Farnheim gehen. Ihr braucht mich mehr. Und wir werden keinesfalls diese Gelegenheit verstreichen lassen, da Femris schon wieder ohne Heermeister ist und noch nicht auf der Höhe seiner Kraft.«

Unglücklich gab er nach. Er wusste, dass er gegen sie nicht ankam.

Während Arlyn bei Olrig und Noïrun die Wunden säuberte, mit Pasten und Kräutern bestrich und fest verband, bauten Tamron und Angmor eine Trage für den Fürsten, die sie nun an Aschteufel banden. Auf Rowarns verwunderten Blick hin erklärte ihm sein Vater: »Aschteufel ist stark, zäh und ausdauernd. Außerdem kann er die beiden vor Gefahren beschützen. Er weiß, was er zu tun hat.«

Der Kriegskönig musterte den schwarzgrauen Hengst misstrauisch. »Aber er wird mich nicht auf seinem Rücken dulden.«

»Er wird«, versicherte Angmor. »Er ist ein bösartiges, verrücktes Biest, aber nicht dumm. Und er ist treu.« Er packte Olrig ohne Vorwarnung und hob ihn mühelos auf den Rücken des schnaubenden Pferdes. Tatsächlich zuckte Aschteufel mit keinem Ohr, als Tamron rund um Olrig Decken packte und ihm weitgehend guten Halt verschaffte. 

»Du kannst dich auf seinen Hals legen und schlafen, wenn dich die Kräfte verlassen«, fuhr Angmor fort. »Er wird dich nicht abwerfen, und du brauchst ihn auch nicht zu lenken. Lass die Zügel am Horn festgebunden. Er wird ohne Umweg und Rast bis nach Farnheim laufen. Morgen Nacht schon könnt ihr dort sein. Vertrau dich ihm einfach an.«

Der Unsterbliche überprüfte die Trage ein letztes Mal und nickte zufrieden. »Sie wird auch bei schlechtem Gelände halten. Aber Aschteufel sollte nicht zu schnell laufen, damit es Noïrun nicht zu sehr durchschüttelt. Sein Zustand ist trotz Arlyns Vorsorge sehr kritisch.«

»Keine Sorge, er kann das«, versicherte Angmor.

»Also dann, verlieren wir keine Zeit.« Rowarn drückte Olrigs Hand und trat dann noch einmal an die Trage, auf der Noïrun festgebunden war. Der Fürst lag in tiefer Bewusstlosigkeit, sein Gesicht war wachsbleich, schon fast wie das eines Toten. Vielleicht eine Folge des Mittels, redete Rowarn sich ein. Er hoffte inständig, dass es ein Wiedersehen geben möge.

Angmor klopfte an den Hals seines Hengstes. »Nach Farnheim, Aschteufel«, befahl er, und der Schwarzgraue setzte sich sofort in Bewegung.

»Alles Gute«, sagte Rowarn leise.