Kapitel 14

Der Heermeister


In der Ferne erblickte der junge Ritter eine Kette fünf etwa gleich hoher Hügel, über denen ein eigenartiges Schimmern lag. Schemenhaft erhoben sich darin schroffe, unregelmäßig gezackte Gebilde, die sich über drei Hügel zogen. Der erste Blick auf eine legendäre, machtvolle Stätte, doch immer noch diffus und nicht greifbar, selbst für Nauraka-Augen nicht zu durchdringen.

»All das hier«, erklärte Olrig und wies um sich, »ist bereits der Boden von Ardig Hall. Du wirst hier keinen Hof, kein Ackerland finden, aber nachts, wenn sich der Mond auf taunassen Gräsern spiegelt und früher Dunst sich aus der Erde erhebt, kannst du das Meer sehen, wie es sich sacht wiegt in der steigenden Flut, wie die Wellen des Grases hier im Wind. Dann erheben sich die Schatten der Nauraka und flüstern ihr Lied über ihre verlorene Heimat, und die unstillbare Sehnsucht nach den kühlen Tiefen der See.«

Rowarn schloss die Augen und sah es, fühlte es, und das Bild seiner Mutter stieg vor seinem inneren Auge auf. Umweht von weißen Schleiern streckte sie lächelnd die Arme nach ihm aus. Doch während er versuchte, ihr näher zu kommen, entfernte sie sich von ihm, entschwand durch ein Fenster mit weit geöffneten Flügeln in den dunklen Himmel. »Woher weißt du das so gut und kannst es so ausdrücken?«, flüsterte er.

»Oh, sagte ich das nicht bereits zu Beginn unserer ersten Begegnung? Olrig ist ein Poet«, antwortete Noïrun. »Das war kein Scherz.«

Rowarn blickte den Kriegskönig an.

»Ja«, sagte Olrig. »Manchmal zwingen die Umstände einen zu merkwürdigen Entscheidungen, auch wenn man eigentlich andere Ziele verfolgt.«

»Das habe ich auch schon gelernt.« Rowarn senkte den Kopf und betrachtete die Mähne des Falben, die mit dem Wind spielte, sich von ihm kitzeln und flausen ließ.

Ein Schmetterling stieg von einer weißgelben Orchideenrispe auf, ließ sich vom Wind emportragen, schöner als eine Blume in Grün und Blau. Er landete auf Rowarns ausgestreckter Hand und entrollte seinen Saugrüssel, während er die zarten Flügel leicht auf- und zuklappte. Rowarn bewunderte den anmutigen Schwung seiner Fühler, die großen dunklen Augen, die zart befiederten Beine. 

Ein Wiesenschnäpperpaar erlaubte der Brut zum ersten Mal, sich in die Lüfte zu erheben. Taumelnd und ungeschickt flatternd folgte die Jungschar den Eltern und versuchte, dabei ebenso süß zu zirpen. Grashüpfer machten sich eine Kornblume streitig, um dort mit einem rhythmischen Streichkonzert Partnerinnen anzulocken. Die Pferde grasten friedlich, schnaubten flüchtende Ameisen und Käfer weg.

Mit leicht rauer Stimme trug Olrig vor:


»In den grauen Tagen, als ich das Meer verließ,

flog eine weiße Krähe vor mir, die den Weg mir wies,

hierher nach Ardig Hall.

Sah ich so schon das große Schloss, leuchtend und rein,

baute allein es, schlug und schichtete Stein um Stein

alles für Ardig Hall.«


Und dann fiel Noïrun in den Refrain mit ein:


»Und in meiner Erinn'rung, wenn die Nacht ist klar,

spür ich die See, tauch ein in die Fluten und schwimm mit der Schar.

Oh! Kannst du sie sehn, die große Stadt aus Koralle und Stein?

Leuchtend und wiegend Blumentier, Anemon', Diamantenstern,

so steh ich und sehn mich, ewig klagend, die See ist so fern,

Darf niemals hoffen, je wieder dort zu sein.«


Olrig fuhr allein fort:


»Silbern ging der Mond einst auf in jener Nacht,

als auf dem Turm ich stand und hielt die erste Wacht

hier in Ardig Hall.

Wind umfing mich, bot tröstend Salz mir dar

das Salz der See, ich kann es riechen, scharf und klar

auch in Ardig Hall.«


Und zweistimmig sangen sie:


»Und in meiner Erinn'rung, wenn die Nacht ist klar,

spür ich die See, tauch ein in die Fluten und schwimm mit der Schar.

Oh! Kannst du sie sehn, die große Stadt aus Koralle und Stein?

Leuchtend und wiegend Blumentier, Anemon', Diamantenstern,

so steh ich und sehn mich, ewig klagend, die See ist so fern,

Darf niemals hoffen, je wieder dort zu sein.«


Dann wieder Olrig:


»Perlmond bin ich, ein Friedensherrscher wollt ich sein, in Pflicht

und Ehr, doch das Meer tobt dunkel mit schäumender Gischt

hier in Ardig Hall.

Grimm'ger Heerschar tret ich entgegen, in Rüstung und Schwert,

auf dass einstmals wieder Licht und Frieden einkehrt

für immer in Ardig Hall.«


Und ein letztes Mal gemeinsam:


»Und in meiner Erinn'rung, wenn die Nacht ist klar,

spür ich die See, tauch ein in die Fluten und schwimm mit der Schar.

Oh! Kannst du sie sehn, die große Stadt aus Koralle und Stein?

Leuchtend und wiegend Blumentier, Anemon', Diamantenstern,

so steh ich und sehn mich, ewig klagend, die See ist so fern,

Darf niemals hoffen, je wieder dort zu sein.«


Ihre weithin schallenden Stimmen verklangen langsam, die letzten Töne sanken hernieder und versickerten im Gras, und die andächtig lauschenden Vögel fingen an, sich zu putzen, zum nächsten jubilierenden Flug bereit. Der dunkle Schatten einer Wolke zog an der Sonne vorüber.

Die beiden Männer schwiegen und warteten.

Rowarn merkte nicht, dass die Tränen über seine Wangen rannen. Er spürte es, das Meer rauschte mit wogender Gischt durch sein Inneres, und er fühlte die Salzluft auf seinem Gesicht, und tauchte ein in die kühle Dämmerung, die sich auf seiner Nauraka-Haut nicht nass, sondern rau und samtig zugleich anfühlte, ihn zärtlich umhüllend wie einst der Leib seiner Mutter.

Dieses Lied war die Wahrheit. Auch nach so langer Zeit war der letzte Nachkomme immer noch ein Verbannter, von unstillbarer Sehnsucht nach der See getrieben, obwohl seine Sippe gelernt hatte, auf dem Land zu leben.

Zwanzig Jahre lang war Rowarn in Unwissenheit aufgewachsen, doch nun, da er wusste, erwachte nach und nach das Erbe in ihm und machte ihm deutlich, dass er sich ihm nicht entziehen konnte. Er war durch den Eid seiner Vorfahren an das Tabernakel gebunden.

Alles in ihm schrie danach, sich endlich zu offenbaren, die Wahrheit hinauszurufen, dass es noch einen Hüter von Ardig Hall gab, dass der wahrhaftig Letzte der Nauraka, die das Meer verließen, immer noch am Leben war und damit die Geschichte noch lange nicht beendet. Die Heerschar von Ardig Hall sollte erfahren, dass sie nicht für eine Ruine kämpfte, weil man es ihr befahl oder sie dafür bezahlte, nur um den Untergang nicht gleich zu besiegeln. Es war noch nicht alles vergebens, der Splitter nicht ganz verloren. Die Treue derjenigen, die seit einem Jahr die Stellung hielten, sollte belohnt werden, und sie sollten einen Ansporn erhalten.

Wenn es an der Zeit ist, hatte Schattenläufer gesagt. Wann, wenn nicht jetzt? Rowarn stand nun bereits auf dem Boden seiner Sippe, kurz vor den Toren des Schlosses. Die entscheidende Schlacht stand bevor.

Zitternd kämpfte und rang er mit sich, versuchte, den Schmerz zu verdrängen, und die Trauer, und erkannte ... da war immer noch die dunkle Seite in ihm. Jenes unbekannte väterliche Erbe, das ihn zweifeln ließ, ob er stets nur im Guten handelte. Diese unkontrollierbare Wut konnte sich eines Tages gegen ihn und seine Freunde richten, seinen Willen vielleicht ganz übernehmen und möglicherweise zu einem Anhänger von Femris werden lassen. Wer wusste, was passierte, wenn der Unsterbliche von ihm erfuhr? Wenn er versuchte, ihn lebend in die Hände zu kriegen?

Nein. Es ist noch nicht so weit.

Rowarn hob den Blick und atmete einmal tief durch. Dann trieb er Windstürmer an, denn nun konnte er den Weg von allein finden.



Olrig und Noïrun blieben hinter Rowarn und ließen ihm Zeit.

»War alles ein bisschen viel auf einmal«, bemerkte der Kriegskönig, während sie ihre Pferde gemütlich dahinzockeln ließen. »Wenn man bedenkt, was alles auf ihn eingestürmt ist, seit wir das erste Mal bei ihm auftauchten.«

»Ja, er muss eine Menge verdauen«, stimmte der Fürst zu. »Seine ganze Welt steht kopf, und das in so jungen Jahren. Bei uns brauchte es immerhin etwas länger, bis alles zusammenbrach.«

»Bei dir vielleicht, du Landvertriebener, bei mir ist nichts zusammengebrochen, darauf möchte ich in aller Entschiedenheit hinweisen.«

»Bis auf die Tatsache, dass du dich zum Kriegskönig hast wählen lassen, weil ...«

»Das ist unerheblich!« Olrig fuchtelte mit dem Zeigefinger in der Luft herum. »Ich habe nur meine Pflicht angenommen, so wie du!«

Noïrun grinste. »Schwindler. Da kommt schon noch ein bisschen mehr zusammen.«

»Und du?« Olrig starrte ihn finster an. »Bei dir etwa nicht?«

Noïrun wandte den Blick ab. »Jede Menge«, murmelte er. 



Langsam rückte die Hügelkette näher. Immer wieder verschwand sie aus dem Blick, denn im Gelände gab es Höhenunterschiede. Es ging in Senken hinunter und langsam ansteigend wieder hinauf, aber immer nur so unmerklich, dass es selbst auf kurze Entfernung kaum erkennbar war. 

Das Land wurde rauer, Steppengras herrschte nun vor, dazu Magerwiesen mit einem Überfluss an blühenden Kräutern und Orchideen. Baum- und Buschgruppen boten Abwechslung und Orientierungspunkte in dieser sonst sehr gleichförmigen Landschaft. In einigen Senken sammelte sich das Wasser und bildete Sumpf mit Schilf, großen Palmwedeln und mannshohen Gräsern mit wolligen, speerlangen Blütenständen. Wilde Schweine, Büffel und Riesenzahner vergnügten sich in selbst gegrabenen Schlammlöchern und ließen sich nicht im Geringsten von vorüberziehenden Reitern stören. Herden von Antilopen wanderten über die Steppe, begleitet von Wildpferden.

»Ein gutes Jagdgebiet«, stellte Rowarn fest.

»Nur die Jäger von Ardig Hall dürfen dem Wild nachstellen, deswegen ist es zahlreich und nicht scheu«, gab Olrig Auskunft. »Dies ist lediglich ein kleiner Ausschnitt von der Vielfalt, die sich hier findet.«

Obwohl die Hügel nun schon nahe waren, höchstens drei Wegstunden entfernt, konnte Rowarn immer noch kein deutliches Bild erfassen. »Stimmt etwas mit meinen Augen nicht?«, fragte er. »Ich kann kaum etwas erkennen.«

»Das sind noch die Reste der alten Magie«, antwortete Noïrun. »Auch früher zeigte sich Ardig Hall erst aus unmittelbarer Nähe in aller Pracht. Diese Verschleierung hielt jeden Fernzauber ab, und noch mehr. Aus der Luft kann die Festung nicht angegriffen werden. – Konnte nicht«, verbesserte er sich. »Zerstört wurde sie allerdings vom Boden aus.«

»Laufen wir nicht Gefahr, angegriffen zu werden?«

»Nein. Eine Truppe von Ardig Hall wäre schon unterwegs. Selbst marodierende Horden wagen sich hier kaum übers Land. Wie gesagt, dies ist der Boden von Ardig Hall. Es ist eine unsichtbare Grenze, die überschritten wird, aber jeder Anhänger der Finsternis kann sie spüren.«

Rowarn stutzte plötzlich und beschattete die Augen. »Da kommt jemand«, sagte er. »Ein Reiter.«

»Ah!«, rief Olrig. »Ein Freund, gewiss. Welcher mag es sein?«

»Das werden wir gleich wissen«, meinte der Fürst und zügelte den Kupferhengst.

Rowarn blieb bei ihm, auf alles gefasst. Er wusste, er wäre keine große Hilfe, denn seine rechte Hand war noch nicht zu gebrauchen. Aber das würde sich bald ändern; fast von Stunde zu Stunde wurde es besser, nicht zuletzt dank magischer Hilfe, die ihm zumindest die schrecklichen Schmerzen genommen hatte.

Der Kriegskönig trabte langsam voraus, während der Reiter Bodenwelle um Bodenwelle näher kam.

»Freund!«, rief Rowarn hinter ihm. »Ein Ritter! Er trägt die Fahne am Rücken!«

Der sich nähernde Mann hob den Arm und winkte. Sein Pferd galoppierte jetzt fleißig.

»Ho! Ragon, alter Haudegen!«, rief Olrig und winkte ebenfalls. »Welch eine Freude, dein hässliches Gesicht als erstes begrüßen zu dürfen!«

Schnaubend und prustend kam das Pferd bei ihm an, und der Reiter zügelte es neben dem Schimmel und schlug seinen Arm an Olrigs. »Und mich freut es, dass Olrig nichts von seinem wohlgestaltenen Speck und der offenherzigen Zunge verloren hat!«

Rowarn erblickte einen Mann Ende dreißig, dessen rechte Gesichtshälfte durch eine Schwertnarbe fast zweigeteilt war. Das rechte Auge war unter einer Klappe verborgen.

Er ließ Olrigs Arm los und trabte auf den Fürsten zu, vor dem er sich im Sattel tief verbeugte. »Willkommen in Ardig Hall, Herr. Ihr werdet schon sehnsüchtig erwartet, und ich bin glücklich, Euch wohlbehalten zu sehen. Wir hatten uns auf das Schlimmste gefasst gemacht, als Ihr länger als verabredet ausgeblieben seid.«

»Ich hatte anderweitig noch einiges zu tun«, versetzte Noïrun und wies auf Rowarn. »Ritter Rowarn von Weideling, aus dem fernen, aber lieblichen Tal Inniu. Wir haben die Entfernung unterschätzt, und auch die Sturheit mancher Barone, um deren Unterstützung wir vorsprachen.«

Ragon verneigte sich auch leicht vor ihm. »Inniu!«, sagte er. »Nun, kein Wunder, dass die Hundertfünfzig eine derart verschworene und zugleich schlagkräftige Gemeinschaft sind, wenn sie von einem solchen Ritter geführt werden.«

Rowarn öffnete den Mund, aber Noïrun kam ihm zuvor: »Dann sind sie alle ebenfalls wohlbehalten eingetroffen?« Er hörte Freude in der Stimme des Fürsten. Ihm schien wirklich jeder einzelne Rekrut ans Herz gewachsen zu sein.

Ragon nickte. »O ja, seit zehn Tagen trifft von überall her Verstärkung ein, wie an einer Schnur aufgezogen. Morgen wird der Heermeister viele Eide abnehmen müssen. Eure Schar ist übrigens gestern Mittag angekommen.«

»Wie geht es Morwen?«, platzte Rowarn heraus; wie er seinen Herrn kannte, würde der ohnehin nicht nach seiner Tochter fragen, weil es eine Gefühlsoffenbarung wäre, die einem Befehlshaber nicht gut anstand. Aber andererseits, was sollte es, ab jetzt hatte ohnehin der Heermeister das Sagen, und der Fürst konnte sich ein wenig erholen und zugänglicher sein.

»Sie musste behandelt werden, doch es geht ihr gut«, antwortete Ragon und musterte ihn jetzt mit deutlicher Neugier.

Rowarn, der Noïrun inzwischen recht gut kannte, bemerkte ein kurzes Zucken seines Wangenmuskels, eine nahezu unmerkliche Regung. Aber dem jungen Nauraka sagte sie alles: Noïrun war eindeutig erleichtert. Und sicher froh, dass Rowarn an seiner Stelle nach Morwens Befinden gefragt hatte.

»Wie viele sind insgesamt eingetroffen?«, erkundigte sich der Fürst.

»Etwa fünftausend«, gab Ragon Auskunft.

Noïrun rieb sich den Bart. »Mehr, als ich glaubte, und weniger, als ich hoffte«, murmelte er.

»Es kommen bestimmt noch welche nach«, warf Olrig ein. »Das ist nicht das Ende, Noïrun, du wirst es sehen.«

Ritter Ragon grinste. »Deine unerschütterliche Zuversicht ist auch dieselbe geblieben.«

»Und ich habe recht, wie immer, ihr werdet noch daran denken.« Der Kriegskönig nickte bekräftigend und klopfte an den Stiel seiner Axt. »Darauf würde ich sogar diese Axt verwetten.«

Noïrun war ernst und kühl wie immer, wenn es um Kriegsangelegenheiten ging. Der Mann, den Rowarn in den letzten zwei Tagen kennengelernt hatte, war völlig verschwunden. Dementsprechend war sein Gesicht auch wieder voller strenger Linien. »Kurze Einführung: Wie sieht es aus?«

»Wir halten wie gehabt die Stellung«, antwortete Ragon und fügte fast spöttisch hinzu: »Verrückt, nicht wahr? Wir belagern Ardig Hall. Unser eigenes Schloss. Es heißt, Verstärkung für Femris sei ebenfalls unterwegs. Dass er einen neuen Heermeister hat, ist Euch sicherlich schon zu Ohren gekommen.«

»Der wird ihm nichts nützen«, versetzte Noïrun ruhig. »Seine Schulter wird ein besseres Ziel für meine Lanze sein als die seines Herrn.«

Für einen kurzen Moment setzte Schweigen ein. Keiner der anderen, dessen war sich Rowarn sicher, zweifelte an Noïruns Worten. Und es war deutlich zu hören, dass er ebenfalls weit davon entfernt war, aufzugeben oder zu zögern. Er sah dem bevorstehenden Ende des Kampfes um den Splitter zuversichtlich und gelassen entgegen.

»Ah! Ja, natürlich! Verzeiht, Herr, ich hätte es beinahe vergessen zu erwähnen: Fashirh und die anderen drei verbündeten Dämonen sind eingetroffen, und die Dämonen im feindlichen Lager haben nicht gerade erfreut darauf reagiert, als sie sich ihnen präsentiert haben.«

»Ach, tatsächlich? Nun, dann sind wir ja im richtigen Moment zurückgekehrt. So werden wir nichts davon versäumen, wenn die sich gegenseitig an die monströsen Kehlen gehen.« Olrig wandte sich Noïrun zu. »Alter Freund, gestattest du uns wohl den Vortritt?«

»Natürlich.« Der Fürst nickte Ragon zu, woraufhin der zusammen mit Olrig davonstürmte.

»Helm auf«, sagte Noïrun zu Rowarn. »Das Visier kannst du geöffnet lassen, aber korrigiere den Sitz deiner Waffen und deiner Kleidung. Ein großes Heer erwartet uns, und von den Männern an meiner Seite erwartet man perfektes Aussehen. Zeige, dass du ein Ritter bist!« Er selbst hatte den Helm bereits aufgesetzt und das Visier geöffnet, dann seine Handschuhe angezogen.

Rowarn gehorchte verblüfft. Dies war wieder einmal eine ganz neue Seite des Fürsten, und er war gespannt, was sich daraus noch entwickeln mochte. Bei dem Wappenhemd half ihm Noïrun, und er befestigte ihm auch die Rückenfahne – zum ersten Mal, und Rowarn hörte aufgeregt das Flattern hinter sich.

»Du trägst keine?«, meinte er.

Der Fürst lächelte. »Ich biete auch so ein gutes Ziel.«

Sie durchquerten im langsamen Galopp die weite Senke, und schließlich ging es unmerklich wieder bergauf, Bodenwelle um Bodenwelle, und dann erblickte Rowarn zum ersten Mal Ardig Hall, vom roten Schein der Nachmittagssonne beleuchtet.



Schlagartig waren die fünf Hügel ganz nahe gerückt, und vor ihnen, in der großen Ebene, breitete sich ein riesiges Heerlager aus, das Rowarn sprachlos machte. Tausende verschieden großer Zelte in Weiß und Blau, und alle trugen entweder eine Fahne auf dem Dach, oder das Wappen von Ardig Hall war auf die Zeltbahnen gestickt. Sie bildeten eine Stadt, an Bodenfläche mindestens so groß wie Ennishgar, die hier seit über einem Jahr entstand, wenngleich mit nur wenigen festen Behausungen – wie etwa den drei Schmieden, die sich neben gegrabenen Brunnen befanden, handwerkliche Stätten und dergleichen mehr. Tausende Pferde, Schafe und Rinder tummelten sich in Umzäunungen, in Vierecken wurde eifrig geübt, alles ganz ähnlich wie beim Titanenfeld, nur viel größer. Rowarn gaffte beeindruckt.

Und dann erst, er hatte es lange genug vor sich hergeschoben, richtete er den Blick auf das Schloss – vielmehr, auf die Ruine davon, die sich immer noch gewaltig über dem Heerlager auftürmte. Weiße, leuchtende Steine, die sich über drei Hügel erstreckten. Vom mittleren Hügel aus führte eine Allee zum Haupteingang. Unten hatte sich ein großer, marmorner Torbogen befunden, der nunmehr zerstört war. Der zweite Bogen, von dem aus die gewaltige Mauer rund um die drei Hügel führte, lag am Ende der Allee, genau über dem ersten, und auch er war zerstört, als habe ein Riese mit seinem Hammer zugeschlagen. 

Dahinter gab es einen freien Platz, der großzügig in Wege innerhalb der Mauer auslief. Am Ende des Platzes, genau zum Tor gelegen, stand eine unversehrte, riesige Portaltreppe mit annähernd einhundert Stufen, die zum Schlosseingang führte. Früher mussten dort Säulen, Statuen, Bäume gestanden haben, doch das war alles zerstört, teilweise den Hügel hinabgeworfen. Auch die hohen, aus mit Intarsien besetztem Holz bestehenden Torflügel waren aus der Verankerung gerissen, und ein schwarzes Loch klaffte wie eine Wunde im weißen Gestein, in das rund um den Torbogen Tausende von Juwelen eingelassen gewesen waren, dazu feinste Fresken mit mystischen Szenen. Nur noch vereinzelte Stücke und wenige intakte Figuren zeugten von der einstigen Pracht. 

Das mehrstöckige Schlossgebäude selbst war noch einigermaßen intakt, das Dach jedoch völlig eingestürzt, und auch die vier großen Eck- und die drei Rundtürme waren zur Hälfte eingerissen. Aber es bestand Hoffnung, dass vom inneren Gebäude noch etwas übrig war. Die Wehrtürme an der Außenmauer waren allesamt zusammengestürzt. Auch die Mauer selbst – eine Mannslänge dick und sechs Mannslängen hoch – hatte schwere Schäden davongetragen. Es war von hier aus kaum einzuschätzen, wie viel von den zahlreichen, teilweise miteinander verbundenen Nebengebäuden noch übrig war. Verkohlte, viele Speerwürfe hohe Bäume, deren entlaubte Leichen anklagend ihre verstümmelten Äste gen Himmel reckten, zeigten an, dass es auch weitläufige Parkanlagen gegeben haben musste.

Auf bizarre Weise strahlten die Ruinen immer noch Würde und weißes Licht aus; doch zwischen den Trümmern wanden sich zahlreiche Rauchsäulen zum Himmel empor.

»Es brennt noch immer ...«, flüsterte Rowarn.

»Seit nunmehr über einem Jahr.« Noïrun lenkte den Kupferhengst an seine Seite. »Zum ersten Mal seit seiner Errichtung wurde Ardig Hall überrannt. In dem Moment, als Königin Ylwa starb. Wir bekamen es in den frühen Morgenstunden mit, als sich der Weiße Falke klagend erhob und lange über dem Schloss kreiste. Gleichzeitig begann auch der Feind mit dem Sturm, setzte Wurfgeschosse und Leitern und Belagerungstürme ein, und alles begann zu brennen und einzustürzen. Es war ein unglaubliches Chaos. 

Olrig und ich rannten die Treppe hinauf, während überall wild gekämpft wurde. Es war das erste Mal überhaupt, dass einer von uns das Schloss betrat, also hinter die Mauer kam, doch wir hatten keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Warinen und andere Dubhan-Söldner waren bereits dabei, widerliche Schändung zu betreiben, an all den kostbaren, uralten Dingen.« Ihn schauderte es bei der Erinnerung. Rowarn konnte zwar nicht nachfühlen, was er empfand, doch ihm genügte die Erzählung. »Die Dienerschaft war größtenteils geflohen, der Rest lag überall tot herum.« Noïrun musste kurz innehalten. »Unsere Leute drehten durch, als sie die Verwüstung sahen. Sie fielen über den zahlreich überlegenen Feind her wie die wilden Bestien und schlachteten die Eindringlinge ab. Olrig und ich rannten durch die Räume und suchten Femris, doch er war bereits geflohen. Und da ... lag die Königin. Und so viel Blut ...«

Rowarn schluckte, doch er riss sich zusammen, er musste sich das bis zum bitteren Ende anhören.

»Ihre Leibdienerin war noch am Leben«, fuhr Noïrun fort. »Ich weiß nicht, wo sie sich versteckt gehalten hatte, aber sie war entkommen und verwehrte uns den Zugang zum Leichnam der Königin. Sie sagte, niemand außer ihr dürfe sie anrühren, so sei es gewesen, seit sie ihr diente, und sie würde die Königin bestatten, doch wie und wo, wollte sie uns nicht sagen. Aber sie war zu allem entschlossen und bedrohte uns sogar mit dem Schwert. Wir mussten nachgeben, weil wir in der Schlacht gebraucht wurden und uns nicht zu lange aufhalten durften. Also teilte sie uns mit, dass Femris den Splitter habe. Und sie gab mir den versiegelten Brief mit Ylwas letztem Willen, mit den Anweisungen der Königin an mich. Eine davon war, nach Weideling zu gehen und die Nachricht den Velerii zu bringen. 

Wir kehrten in die Schlacht zurück und warfen den Feind aus Ardig Hall, während der Rest von uns draußen den Ring zuzog, um Femris an der Flucht zu hindern.« Er atmete tief ein. »Am Ende dieses furchtbaren, dem dunkelsten aller Tage von Ardig Hall, gingen Olrig und ich noch einmal in das Schloss und suchten nach der Königin und der Dienerin, aber beide waren verschwunden. Wir konnten es nicht wagen, das ganze Gelände abzusuchen, denn immer noch barsten Gebäudeteile auseinander oder stürzten ein, und es brannte überall. Danach war es uns nicht mehr möglich. 

Wir waren die Letzten, die gingen, und hinter uns errichtete sich eine magische Barriere, die jedes weitere Betreten unmöglich machte – für jeden. Ardig Hall versiegelte sich selbst, um nicht noch weiter geschändet zu werden. Seither liegt es in Agonie, ein ewiges Mahnmal unseres Versagens.«

Rowarns schaute wieder auf die riesige Ruine, verloren im Stolz der Erinnerung. Kein Wunder, dass sich um Ardig Hall Legenden rankten.

Sein Blick glitt langsam die Hügel hinunter, und nun sah er endlich den Feind. Eine gewaltige, dunkle Masse im Schatten des Schlosses gelegen, unterhalb seines Lichtscheins, am Fuße der Hügel. Nicht einmal die tiefstehende Westsonne konnte diesen wimmelnden Haufen erhellen. Größer als das Heerlager von Ardig Hall. Viel größer. Und hoch über allem flatterte die Fahne von Femris. Rowarn brauchte kaum zu raten, worum es sich handelte: Um das geborstene Tabernakel, dessen Splitter nahe zusammenrückten, in Rot und Gold, auf schwarzem Grund. Rowarn erschauderte unwillkürlich; die Feinde waren selbst für seine scharfen Augen zu weit weg, um Einzelheiten ausmachen zu können, aber ihm genügte allein schon die Erinnerung an die Warinen.

Dann stutzte er. »Was ist das für eine Nebelwand?«, fragte Rowarn und deutete auf einen fast durchsichtigen, weißlichen Ring, der zwischen den eigenen und Femris' Truppen um Ardig Hall lag.

Noïrun bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick. Dann erklärte er: »Eine weitere magische Mauer, die sich errichtete, als Königin Ylwa starb und der Splitter in Femris' Hände fiel. Eine letzte Schutzvorrichtung der Nauraka. Das ist der wahre Grund, weswegen er immer noch nicht durch unsere Reihen gebrochen ist und seit einem Jahr festsitzt. Wir nutzen das aus, indem wir ihn halten und versuchen, ihm den Splitter wieder abzunehmen.«

»Aber wie beschafft er sich Vorräte?«, fragte Rowarn verblüfft.

»Genauso wie die Ersatztruppen. Das Reinkommen ist nicht das Problem. Er kann nicht hinaus, und genauso wenig seine Soldaten. Wir können ungestraft hin- und herwechseln. Aber er selbst ist ein Gefangener, und jeder seiner Anhänger, der die Barriere überschreitet, auch.« 

»Dann sind wir es also, die immer wieder angreifen? Und er hat trotzdem eine Übermacht?«

»Einfach gesagt: Ja.«

Rowarn schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das kann man nur verstehen, wenn man von Anfang an dabei war.«

Der Fürst seufzte. »Der Bann lässt allmählich nach. Ich schätze, Femris hat einen magischen Weg gefunden, der zwar sehr zeitaufwändig und kräfteraubend ist. Aber früher oder später wird er den magischen Wall brechen, und dann können wir ihn nicht mehr aufhalten. Deswegen werden wir genau jetzt alles aufbieten, was wir haben, um ihn vorher zu erledigen. Belagerung, Aushungern, Scharmützel, Zermürben, große Schlachten – nichts hat etwas gebracht, außer hohen Verlusten auf beiden Seiten.«

Er stieß den Atem aus und winkte ab. »Genug der düsteren Worte und Gedanken! Wir haben Grund genug zur Hoffnung, und deshalb werden wir jetzt endlich zum Lager hinunterreiten. Sicher werden wir schon ungeduldig erwartet, und wir wollen doch niemanden enttäuschen, oder? Außerdem geht die Sonne gerade unter, man sieht uns also selbst vom feindlichen Lager aus prächtig die ganze Zeit hier herumstehen, und ...« Plötzlich hielt er inne, und ein staunender Ausdruck huschte über sein Gesicht, dann ein grimmiges Lächeln. »Genau. Ein guter Moment ist das! Pass auf, was ich jetzt mache. Ist sonst nicht meine Art. Aber eine solche Gelegenheit lasse ich nicht einfach verstreichen ...«

Rowarn sah gespannt zu, wie Noïrun den Kupferfuchs einige Schritte seitlich lenkte und sich so stellte, dass er beiden Lagern die Breitseite bot. Von der Westsonne beschienen, glänzte und schimmerte der Hengst weithin sichtbar wie flüssiges Kupfer, und Rowarn sah die silbernen Metallteile an der Rüstung des Fürsten aufblitzen, als er sich nochmals mit dem Pferd drehte. Dann veranlasste Noïrun den Hengst, hochzusteigen. Gleichzeitig zog er sein Schwert und hielt es mit dem Arm hoch, als wolle er mit der Spitze ein Loch in den Himmel treiben. Der Kupferfuchs, genau für solche Vorführungen geschaffen, wieherte donnernd und schlug mit den Vorderhufen, während er auf den Hinterbeinen tänzelte.



Noïrun winkte Rowarn, während er das Schwert einsteckte. »Komm, jetzt ist es Zeit, zu galoppieren.«

Rowarn brauchte Windstürmer, der nicht minder gegafft hatte wie er, keinen Befehl mehr zu geben. Dieser raste los, um sich neben den Hengst zu setzen, mit angelegten Ohren und wütendem Prusten. Mehr wagte er allerdings nicht, wohingegen der Hengst ihn schlicht übersah.

»Eine tolle Vorstellung«, bemerkte Rowarn unterwegs, während die beiden Pferde sich zusehends in ein Wettrennen steigerten. »Aber, wenn du mir diese Unverblümtheit gestattest, mein Herr: Du bist verrückt geworden. Selbst Femris persönlich kann das nicht entgangen sein.«

»Genau das war auch meine Absicht«, versetzte der Fürst mit grimmigem Lächeln. »Jetzt weiß er, dass ich ihm durch die Fänge geschlüpft und zurückgekehrt bin. Und er wird sich an die Schulter greifen und erneut den Schmerz des Stiches meines Speeres spüren, und seine Gedanken werden sich verdunkeln vor Wut und Hass. Das wird ihn zu Fehlern verleiten.« Er warf Rowarn einen Seitenblick zu. »Jeder Feind ist nur solange unangreifbar, wie du keine Schwachstelle bei ihm gefunden hast. Ich bin seine.«



Rowarn war aufgeregt, als sie bald darauf das ersehnte Ziel der Reise erreichten. Morgen schon würde er dem Heermeister gegenüberstehen und seinen Eid leisten. Was würde er wohl für ein Mann sein? Distanziert, aber für seine Leute da, wie der Fürst? Oder hart und unnachgiebig, was wahrscheinlicher war bei dieser Position? Ob Rowarn noch Gelegenheit haben würde, weiterhin mit Noïrun und Olrig zusammenzusein, oder würde er ganz woanders eingeteilt? Würde der Heermeister überhaupt Noïruns Ansicht teilen, dass er bereits die Ritterwürde verdient hatte? 

Als sie sich dem Lager näherten, sah Rowarn, wie die Leute, Menschen wie Zwerge, hastig zusammenliefen und Aufstellung nahmen. Er bekam plötzlich eine trockene Kehle, und immer wieder blickte er zum Fürsten, der den Hengst zum Schritt durchparierte. Der Kupferfuchs war in seinem Element und wusste, was zu tun war. In versammelter Aufrichtung piaffierte er stolz den ausgetretenen Pfad in der Ebene entlang, die gespitzten Ohren ausschließlich nach vorn gerichtet.

Bald erreichten sie das Spalier links und rechts des Weges, und kaum hatten sie die ersten Soldaten der Reihe passiert, als jemand in begeisterte Rufe ausbrach. Die Worte wurden rasch aufgenommen und fortgesetzt, rollten wie die gischtenden Wogen eines Meeres an die Gestade fort, bis es weithin schallte, gefolgt von aufbrandendem Jubel. 

»Der Heermeister! Der Heermeister!«

Rowarns Herz blieb für einen Moment stehen, und er merkte, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich. Er starrte zu Noïrun, der ihn fast verschwörerisch angrinste und kurz zwinkerte.

»Du ...«, stieß er krächzend hervor.

»Ich«, antwortete der Fürst heiter.