Kapitel 31

Neue Ziele


Das Licht kehrte in den Raum zurück, der erfüllt war von Stimmen und Gelächter. Angmor trat an Rowarn heran. Seine Augen leuchteten in einem unwirklichen Glanz, und er wirkte seltsam zufrieden. »Das war es doch, was du wolltest, mein Sohn, nicht wahr?«

Inmitten des Applauses stand Rowarn immer noch wie gelähmt. »Ich – ich glaube, ich habe es nicht ganz bis zum Ende durchdacht«, stammelte er blass.

Der Fürst, der noch an Rowarns Seite stand, musterte den Visionenritter. »Du hast deinen Schwur nicht erneuert.«

Der Visionenritter blickte auf den Menschen herab. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich leistete meinen Schwur einst dem Orden, und dieser gilt, bis das Tabernakel seiner Bestimmung zugeführt wird, ganz gleich, ob Ardig Hall dann noch steht oder nicht, und ob es einen Friedensherrscher gibt oder nicht.«

Noïrun wandte sich Graum zu, der in seiner Luchsgestalt dasaß und friedlich den Kopf mit einer Pfote putzte. »Typisch Katze«, knurrte er.

Graum hielt inne und grinste zu ihm hoch. »Zu viel der Ehre, mein Herr.«

»Also gut!«, erklang plötzlich Olrigs kräftiger Bass in die Runde. »Ich denke, wir sollten nun noch einmal in uns gehen. Heute Nachmittag wollen wir dann endgültig Pläne schmieden, und ich erwarte gute Vorschläge, denn wir hatten genug Zeit zur Vorbereitung.«

Damit waren alle einverstanden, und sie verließen nacheinander den Raum; allerdings ging keiner ohne eine leichte Verbeugung vor Rowarn hinaus.



Der Nachmittag verging schnell und in heftigen Debatten. Vor allem war man sich nicht einig, was nun mit Rowarn geschehen sollte, der nicht nur der künftige König von Ardig Hall, sondern auch, wie es aussah, der Zwiegespaltene war, was eine unglaubliche Wendung in die gesamte Geschichte brachte. Dass dieses geheimnisvolle Wesen auf einmal mitten unter ihnen sein sollte, änderte alles. Gewiss, es gab keinen gesicherten Beweis für diese Annahme, aber es sprach alles dafür. Rowarns Herkunft, sein manchmal gespaltenes Wesen, wenn er in Raserei geriet, und es konnte kein Zufall sein, dass er in diese Geschichte hineingezogen wurde. Dagegen verblasste die Tragödie, dass Femris nunmehr drei der Splitter besaß. Es fehlten immer noch vier. 

Am Abend suchte Rowarn Fürst Noïrun auf, der allein draußen saß und Pfeife rauchte.

»Es tut mir leid, dass du das jetzt ... ich meine, die ganze Zeit über habe ich ... geschwiegen ...«, murmelte er.

»Rowarn«, sagte Noïrun geduldig. »Ich bin kein Dummkopf. Wir, damit meine ich Olrig und mich, wussten beinahe von Anfang an, dass Ylwa deine Mutter war.« 

»Irgendwie überrascht mich das nicht«, brummelte Rowarn ertappt und beschämt.

»Oh, aber wir wussten nicht alles. Angmors Geständnis, und was damit zusammenhing, hat uns völlig überrumpelt.« Noïrun richtete seinen Blick auf den jungen Mann. »Wie lange weißt du über deine Eltern Bescheid?«

»Von meiner Mutter erfuhr ich am Abend eurer Ankunft in Weideling«, antwortete Rowarn.

»Also etwa so lange wie wir«, lächelte der Fürst. »Es war nicht schwer, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dass du bei den Velerii aufgewachsen bist und der Weiße Falke über euer Tal zog, konnte kein Zufall gewesen sein. Und Olrig ist Ylwa vor etwa achtzig Jahren einmal begegnet. Dein Aussehen erinnerte ihn sofort an sie. Und wenn es überhaupt noch eines letzten Beweises bedurfte, dann war es der, dass du als Einziger den magischen Wall von Ardig Hall sehen konntest. Jeder andere konnte ihn nur spüren.«

»Aber ihr habt beide nie etwas zu mir gesagt!«

»Wir haben gewartet, bis du dich selbst offenbaren wolltest, Rowarn. Das war allein dein Recht und deine Entscheidung. Wir haben dir einige Male den Pfad bereitet, aber du wolltest ihn nicht beschreiten, also warst du noch nicht so weit.«

Rowarn betrachtete einen Käfer, der mit den Kopfzangen ein Blatt wie ein Dach über dem Haupt mit sich schleppte. »Und ich habe das nie geahnt ... ich habe mich immer gefragt ...«

Noïrun stieß kleine Rauchkringel aus. »Rowarn, du bist mir teuer wie ein Sohn«, sagte er ruhig. »Unabhängig davon, was für eine Bedeutung dein Dasein für diese Geschichte hat. Nun ... hat die ganze Sache mehr Gewicht bekommen, und genau wie Olrig liegt mir mehr denn je daran, für dich da zu sein, dich zu beschützen und dir zu helfen, deine Bestimmung zu erfüllen. Ich habe meinen Eid aus ganzem Herzen geleistet, und nicht allein wegen meiner Verpflichtung gegenüber Ardig Hall oder dem König. In erster Linie will ich dir folgen.«

Rowarn kämpfte unwillkürlich mit den Tränen. »Danke«, flüsterte er ergriffen. Solche Worte aus dem Mund des Mannes zu hören, den er mehr als alles auf der Welt bewunderte und liebte, erfüllte ihn mit tiefer Dankbarkeit und zugleich Zuversicht.

»Diese neue Geschichte mit deinem Vater hat uns allerdings ordentlich zu schaffen gemacht, wie bereits erwähnt«, fuhr Noïrun fort. »Wie lange weißt du das?«

»Dass Nachtfeuer mein Vater ist, weiß ich seit dem Ende der Schlacht von Ardig Hall«, antwortete Rowarn. »Angmor sagte es mir, kurz bevor wir in Gefangenschaft gerieten. Dass Angmor dadurch ebenfalls mein Vater ist, weiß ich erst seit wenigen Tagen, und ich habe gehörig daran zu knabbern, noch mehr als vorher. Aber auch für ihn ist es nicht leicht.«

Noïrun entblößte seine gepflegten Zähne, als er breit grinste. »Du hast ihn dazu gezwungen, richtig? Seine Offenbarung, meine ich.«

Rowarn nickte verlegen. »Ihr habt ein Anrecht darauf zu wissen, wofür und mit wem ihr kämpft. Jetzt mehr denn je.«

Der Fürst lachte. »Du bist ein erstaunlicher junger Mann, Rowarn, das stelle ich nicht zum ersten Mal fest.« Er klopfte seine Pfeife aus, erhob sich und legte die Hand auf Rowarns Schulter. »Du trägst ein schweres Los, nicht nur als Erbe von Ardig Hall und künftiger Friedenskönig, sondern auch als der Zwiegespaltene. Doch du hast viele Schultern, auf die du dich stützen kannst. Es ist mir eine Ehre und Freude, dich zu begleiten, ebenso wie für Olrig. Sei unserer Treue und Freundschaft auf ewig versichert, junger König.«

Er verneigte sich leicht, drehte sich dann um und ging auf das Haus zu.

»Ich bin kein König!«, rief Rowarn verzweifelt.

»Du wirst es sein«, lachte der Fürst. »Du bist auf dem besten Weg dazu. Schließlich hattest du einen sehr guten Lehrmeister. Den besten, um genau zu sein.« Er wies heiter auf sich.

»Das war also die ganze Zeit deine Absicht, richtig?« Rowarn hätte sich am liebsten die Haare gerauft, mit den Füßen auf den Boden getrampelt und laut geschrien. »Darum hast du mich als Knappe angenommen und mir so viel beigebracht! In Wirklichkeit hast du mir bereits gedient, ohne dass es mir bewusst war, ist es nicht so?«

»Natürlich«, gab Noïrun amüsiert zu. »Du bist zwar als König geboren, doch das Handwerk musstest du erst erlernen, wie es bei allen Dingen so ist. Ich habe dir gezeigt, worauf es ankommt, und dir die Möglichkeit gegeben, einen Blick in die Zukunft zu werfen und eine freie Entscheidung zu treffen. Doch nun wirst du auch dazu stehen müssen, dafür werde ich sorgen.« Er nickte Angmor zu, der gerade hinzukam, und ging ins Haus.

»Ich weiß nicht, ob mir diese Wendung wirklich gefällt«, murmelte Rowarn. »Plötzlich wollen alle mir folgen, obwohl es bisher umgekehrt war. Ein Drache hat es mir einst gesagt ...« 

»Ein Drache?«, unterbrach Angmor erstaunt. »Es gibt in Valia keine Drachen mehr, mit Ausnahme vielleicht von einem, was auch Legende sein mag.«

»Ich habe ihn in einem Freien Haus getroffen«, versetzte Rowarn. »Er heißt Fylang, und er ...«

Erneut unterbrach ihn der Visionenritter. Er packte Rowarns Arm und starrte ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an, wie ihn der junge Nauraka noch nie bei einem Dämon gesehen hatte. Und den er bei seinem Vater nie vermutet hätte. Furcht. »Du hast ihn gesprochen?«, sagte Angmor heiser. »Den Annatai? Halrid Falkon?«

Rowarn nickte.

»Gynvars Sohn«, stieß Angmor hervor. 

»Die ... Gründerin eures Ordens war seine Mutter?«

»Ja.« Der Visionenritter rieb sich das gebogene Kinn und starrte in die Ferne. »Er weiß es«, fuhr er mit leicht zitternder Stimme fort. »Er weiß, wer du bist, Rowarn. Was hat er dir gesagt?«

»Ich ... ich wollte ihn überreden, uns zu unterstützen«, gestand Rowarn verunsichert. »Er lehnte ab. Er sagte, es wäre meine Aufgabe.« 

»Gut so.« Angmor wirkte erleichtert. »Soll er so fern bleiben wie nur möglich. Wir brauchen ihn nicht, oder seinesgleichen.«

»Meinst du damit diesen Tar-«, fing Rowarn an, doch Angmor fiel ihm ins Wort: »Nenne in meiner Anwesenheit nicht seinen Namen, verflucht soll er sein! Niemals, hörst du?«

»N-nein«, stotterte Rowarn eingeschüchtert. Er hatte noch nie einen so leidenschaftlichen Zorn bei seinem Vater erlebt, auch wenn dieser Zorn nicht ihm galt.

»Woher weißt du überhaupt von dem?«, schnarrte Angmor.

»Fashirh hat …«

Sein Vater unterbrach ihn. »Sicher. Der Rote stammt von meiner Welt. Ah! Brennen soll er in den Vulkanen von Xhy, der Schwarze!«, zischte der Dämon. »Für alles, was er der glorreichen Welt angetan hat. Mein Fluch hat ihn getroffen. Ich habe ihm genommen, was ihm das Liebste war, doch damit ist es nicht vorbei. Niemals werde ich ihm vergeben, dass er mich verriet, egal wie oft er stirbt und zurückkehrt. Ich spucke auf ihn!« Er funkelte Rowarn an. »Was hast du dir nur dabei gedacht, einen Handel mit dem Drachenreiter eingehen zu wollen?«

»Er – Halrid Falkon ist ein guter Mann«, verteidigte Rowarn sich, »das konnte ich spüren. Und er ist mächtig. Er ist bestimmt nicht so wie dieser Schwarze, den ihr Dämonen hasst. Ich weiß, dass ich Halrid vertrauen kann. Ich habe ihn aus gutem Grund um Hilfe gebeten. Schließlich wussten wir damals noch nicht, dass du kommen würdest. Und ich würde seine Unterstützung auch heute nicht ablehnen, denn ich habe schließlich keine Ahnung, was ich machen muss ...«

»Doch, die hast du sehr wohl«, erwiderte sein Vater streng. »Du weißt genau, was du willst. Das hast du immer gewusst! Du fürchtest dich jetzt, da es so weit ist, lediglich davor, zu versagen. Und das ist gut so.« Angmor hatte sich deutlich beruhigt, und er setzte sich neben seinen Sohn. »Letztendlich warst du dir doch immer im Klaren darüber, dass du eines Tages das Erbe von Ardig Hall antreten wirst. Seit dem Zeitpunkt, als du dich entschlossen hattest, Weideling zu verlassen.«

»Aber es liegt mir nicht, Befehle zu geben.«

»Das ist auch nicht notwendig, Rowarn. Noïrun erledigt das für dich, es ist seine Aufgabe. Nach wie vor ist er der Heermeister.«

Rowarn blickte zu ihm. »Dann sind wir auf dem richtigen Weg?«, flüsterte er.

Angmor nickte langsam. »Der Kampf um das Tabernakel ist in seine letzte Phase getreten. Femris hat bereits verloren, er weiß es nur noch nicht.«

Rowarn war noch nicht vollends überzeugt, und er hoffte, dass sie alle nicht zu viele Erwartungen in ihn setzten. 

Tamron. Angmor. Olrig und Noïrun. Große Männer, die schon seit langer Zeit Streiter für den Regenbogen waren, mit Macht und Erfahrung. Sogar Halrid Falkon bei der kurzen Begegnung im Freien Haus hatte ihm die Verantwortung zugesprochen. 

Er schüttelte den Kopf und rieb sich das Gesicht. In diesem Moment war er müde und zugleich voller Unruhe. Es war besser, sich abzulenken, für einige Zeit alles zu verdrängen. In der Tiefen Ruhe würde er jetzt keinen Trost finden, das war ihm klar. Aber es gab noch andere Möglichkeiten. »Gehen wir spazieren«, bat er seinen Vater. »Erzähl mir von meiner Mutter.«

Angmor nickte. »Gern. Wo soll ich beginnen? Ah, warte, mir fällt schon etwas ein ...«



Rowarn saß später noch eine Weile draußen. Die anderen hatten sich bereits zurückgezogen, aber er hatte nach seinem Zusammenbruch so lange geschlafen, dass er sich noch nicht müde fühlte. Außerdem war sein Kopf, nachdem er so schön alles bereinigt geglaubt hatte, wieder voller Gedanken, die er hin und her schob wie den leeren Becher vor sich auf dem Tisch.

Er sah auf, als Arlyn herauskam und ihn ansprach: »Du schläfst noch nicht?«

»Du ja auch nicht«, erwiderte er. »Dich bewegt viel, nicht wahr?«

Die Heilerin nickte. »Ich muss wegen Farnheim alles regeln, das verlangt einige Vorbereitung. Rianda wird die Verwaltung übernehmen, und Korela die Leitung der Heilung. Das Gasthaus lassen wir derweil geschlossen, es ist besser so.«

»Du legst alles in gute Hände.«

»Daran zweifle ich nicht. Die beiden verstehen ihr Handwerk, und Gesinde und Heiler werden weiterhin gut arbeiten. In Farnheim wird sich nichts ändern.«

Rowarn ergriff ihre linke Hand, die auf dem Tisch ruhte, legte sie auf seine und strich mit den Fingern der anderen Hand darüber. »Aber du«, sagte er sanft.

Sie zog ihre Hand nicht zurück. »Ja. Ich.« Sie schüttelte ihr langes, glattes Haar in der ihr eigenen anmutigen Art zurück. »Ich verlasse Farnheim zum ersten Mal, seit Angmor mich herbrachte.«

»Wann war das?«

»Nach dem Massaker. Er brannte die Ruinen des Ordenshauses nieder, bis nichts mehr übrig war als ein großer Haufen Schlacke, aus dem man nicht mehr schließen konnte, was geschehen war. Dann nahm er mich und meine Amme mit und brachte uns hierher. Er baute ein Haus aus Holz und wich nicht von meiner Seite. Fast zwanzig Jahre lang nicht, bis der Krieg wieder ausbrach. Als er ging, gründete ich Farnheim.« Sie lächelte bei der Erinnerung. »Das war damals ein wilder Ort, und wir hatten viel Arbeit vor uns. Doch es war wichtig für mich, eine Aufgabe zu haben. Nach dem Tod meiner Eltern war ich zwei Jahre lang stumm und habe weitere fünfzehn Jahre gebraucht, bis ich mich endlich von Heriodon befreit hatte und anfangen konnte, ein normales Leben zu führen.« Sie zögerte ein wenig verlegen. »Nun ja, beinahe.«

Ihre Hand lag noch immer in Rowarns, und dieser zeichnete wie für ein Gemälde ihre schlanken Finger nach. »Du glaubst, es ist wichtig für dich, Farnheim jetzt zu verlassen.«

»Ja.« Sie nickte.

»Willst du Rache an Heriodon nehmen?«

»Ich nehme keine Waffe in die Hand, Rowarn. Ich bin Heilerin. Aber ich werde nicht wegsehen, wenn er seine verdiente Strafe erhält, und ich werde niemanden daran hindern, der Vollstrecker zu sein.«

»Ich werde ihn für uns beide töten.« Seine Stimme klang ruhig und gefasst. »Ich bin Krieger, ich werde ihn stellen.«

Ihre Hände lösten sich voneinander, und Arlyn betrachtete Rowarn prüfend. »Und du? Welche Fragen stellst du dir?«

Sein Blick schweifte ab, zu Ishtrus Träne dort oben, die immer wieder zwischen ziehenden Wolken hervorblitzte. »Soll ich es tun?«, fragte er. »Muss ich diese Bestimmung annehmen?«

»Als Zwiegespaltener hast du keine Wahl«, antwortete sie. »Niemand kann sich der Bestimmung des ERSTEN GEDANKENS entziehen. Erenatar verfolgt einen bedeutungsvollen Plan damit, der das ganze Träumende Universum betrifft. Aber als König ...« Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, Rowarn. Ich denke, das ist eine Rolle, in die du hineinwachsen musst. Aber ich finde, dass du diese Pflicht jetzt annehmen solltest. Du bist der letzte Nachkomme der Nauraka von Ardig Hall, und der Fortbestand des Schlosses ist sehr wichtig für den Frieden von Valia. Und ich bin sicher, dass du ein guter König sein wirst, denn du hast ein großes Herz und eine reine Seele. Und du blickst über den Tellerrand, was vor allem die Alten kaum mehr fertigbringen.« 

»Ich danke dir, dass du an mich glaubst«, sagte er leise.

Sie zwinkerte. »Außerdem kannst du sehr gut Leute dazu bringen, etwas zu tun, was sie nicht wollen, auch wenn sie so mächtig sind wie Angmor.«

Rowarn blickte verdutzt in ihre lachenden Augen. Dann grinste er schüchtern. Arlyn erstaunte ihn immer wieder. Sie schaffte es stets, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen und mit Heiterkeit jede bedrückte Stimmung zu vertreiben.

Leider dachte er bei diesen Gelegenheiten immer nur daran, sie in den Arm zu nehmen und zu küssen, und sie auf ganz andere Weise zum Lachen und Gurren zu bringen. Doch das war ihnen verwehrt, würde es immer bleiben. Er konnte spüren, dass Arlyn ihm Zuneigung entgegenbrachte, aber das würde wohl nie über ein geschwisterliches Verhältnis hinausgehen. Seit sie mitangesehen hatte, wie Heriodon ihre Eltern umgebracht hatte, konnte sie kaum die Nähe anderer ertragen, erst recht nicht die zu einem Mann. Das schmerzte ihn, aber die erlaubte Nähe zu Arlyn war ihm zu kostbar, als dass er das dünne Band, das sie zusammenhielt, auf eine Zerreißprobe gestellt hätte. Er durfte nicht gefährden, was zwischen ihnen bestand, und musste sich mit dem zufriedengeben, was er bekam.

Allmählich konnte er Gaddo verstehen.

Aber wenigstens für den Moment musste Rowarn die Kraft aufbringen, sich zu trennen, bevor Arlyn merkte, welche Gedanken er hegte. Und dann würde er einen Kübel eiskaltes Wasser über sich kippen, vor allem über ein ganz bestimmtes, sehr rebellisches Körperteil, sonst würde er heute Nacht überhaupt keinen Schlaf mehr finden.

»Denkst du, es ist falsch von mir, mitzugehen?«, fragte Arlyn unerwartet.

Rowarn schüttelte den Kopf. »Nein. Als Ritter von Ardig Hall bin ich der Ansicht, dass du diesen Schritt gehen musst. Als dein Freund aber ... möchte ich nicht, dass dir etwas geschieht, und hätte es lieber, du würdest hierbleiben.«

»Dann warte mal ab, was deine Kampfgefährten von dir morgen verlangen werden.«

»Ja. Da steht mir noch ein harter Kampf bevor.« Es wäre unsinnig, ihr Vorschriften zu machen, da er selbst auch nicht auf den Rat der anderen hören wollte. 

Das war jetzt ein guter Schlusspunkt. Er stand auf. »Deswegen gehe ich besser schlafen.«



Und es wurde eine zähe Verhandlung. Wie Rowarn es befürchtet hatte, verlangte die Versammlung von ihm, dass er in Farnheim blieb, während die anderen gegen Femris zu Felde zogen. Seine Bedeutung sei zu groß, hieß es, sein Leben dürfe um keinen Preis gefährdet werden und so weiter. Sie nannten viele gute Gründe, und Rowarn hatte Verständnis für alle und gab zu, dass sie vernünftig waren. Aber er beharrte trotzdem darauf, dass er nicht tatenlos herumsitzen werde.

Als dann auch noch Arlyn verkündete, dass sie ebenfalls mitgehen werde, hatte Angmor genug. Seine Hand fiel krachend auf die Tischplatte nieder, dass alle erschrocken verstummten, und er stand auf. »Rowarn, Arlyn – nach draußen.« Er riss die Tür beinahe aus den Angeln, als er sie öffnete, und zeigte hinaus. »Das war keine Bitte. Kommt auf der Stelle, oder Graum wird euch rausschleifen.«

Rowarn entschied, ihm besser zu folgen, und er zog Arlyn mit sich. Angmor rief in den Raum: »Entschuldigt die kurze Unterbrechung, wir sind gleich zurück.« Dann schmetterte er die bedenklich knirschende Tür wieder zu. Er bedeutete den beiden jungen Leuten, ihm ums Haus zu folgen, hinter einen Kräutergarten, wo sie ungestört reden konnten, und baute sich dann vor ihnen auf.

»Habt ihr beide völlig den Verstand verloren?«, herrschte er sie an, wie zwei Kinder, die einen Streich gespielt hatten. »Arlyn, was hat das zu bedeuten?«

Rowarn sah Arlyn verdutzt an. Er hatte das als beschlossene Sache angesehen.

»Du hast mich doch darum gebeten«, sagte sie gelassen. Sie zeigte nicht die geringste Furcht vor dem Dämon.

»Wann soll ich das getan haben?«

»Während eines Anfalls.«

Angmor war für einen Augenblick sprachlos. Dann schüttelte er das schwere, gehörnte Haupt. »Arlyn, ich werde auf keinen Fall dulden, dass du mitgehst!« Seine eisglühenden Augen richteten sich auf Rowarn. »Und du hast sie darin bestärkt?«

»Augenblick mal, ich ...«, begann er, aber Arlyn unterbrach ihn.

»Rowarn hat überhaupt nichts damit zu tun, Angmor! Du hast mich darum gebeten, und du weißt ganz genau, warum!« Ihre Stimme nahm einen eindringlichen Ton an. »Vielleicht bist du in dem Moment nicht ganz bei dir gewesen, aber das ändert nichts: Du wirst blind!«

Angmor wandte sich ab und starrte düster auf einen würzig duftenden Busch vor seinen Stiefeln, als erwartete er von ihm die erlösende Heilung.

Arlyn näherte sich ihm und legte eine Hand auf seinen Arm. »Angmor ... lass mich dir helfen. Lass mich für dich da sein, wie du für mich da gewesen bist. Ich schulde es dir.«

»Du schuldest mir nichts«, sagte er rau. »Wie kannst du ...«

»Lass es mich anders sagen. Ich möchte etwas zurückgeben von dem, was ich von dir bekommen habe. Es wird niemand erfahren, ich schwöre es dir. Doch ... du brauchst mich. Du wirst es nicht durchstehen ohne mich. Und das wäre eine Katastrophe.«

Der Visionenritter schwieg eine Weile. »Also gut«, sagte er dann. Es musste ihm schwer fallen, aber er sah wohl die Notwendigkeit ein. Doch damit war es noch nicht überstanden. Er wandte sich Rowarn zu. »Nun zu dir.«

»Ich weiß, worauf du anspielst«, kam Rowarn ihm zuvor. »Aber wenn wir jemals herausfinden wollen, wer der Verräter ist, dann muss ich mit. Wenn ich hier in Farnheim bleibe, wird er Femris informieren, und der wird einen Mächtigen schicken, um mich zu kriegen. Um die Heiligkeit dieses Platzes wird sich keiner mehr scheren, wenn die Welt erfährt, dass der Zwiegespaltene sich hier versteckt. Und das wird sie, denn wir spielen jetzt mit offenen Karten, um mehr Verbündete zu gewinnen.« Er blickte Arlyn an. »Habe ich recht?«

Sie nickte. »Ich glaube nicht, dass Farnheim genug Sicherheit bieten kann. Und offengestanden möchte ich nicht, dass Kranke und Einwohner in irgendeiner Weise gefährdet werden. Das hier muss ein neutraler Ort bleiben.«

Der Visionenritter wuchs ein Stück in die Höhe und wurde sehr finster. »Ihr beide habt euch gut abgesprochen«, schnaubte er, und seine Reißzähne schlugen mit einem Knall aufeinander.

»Gar nicht«, sagte Rowarn. »Jeder hat für sich abgewogen, was zu tun ist. Wenn ich hierbliebe, würde Femris wie gesagt jemanden schicken, der mich gefangen nimmt. Der Verräter selbst aber würde euch begleiten und euch vermutlich in den Untergang führen. Gehe ich jedoch mit euch, muss der Verräter auf mein Wohlergehen achten, damit Femris mich lebend in die Finger bekommt, und um sich nicht zu verraten, darf auch euch nichts geschehen. Im Grunde genommen ist er der beste Leibwächter für mich. Wir werden ihn entlarven, bevor wir in die Falle laufen, da bin ich sicher.« Er atmete einmal tief ein und aus und blickte herausfordernd zu dem Visionenritter hoch.

Arlyn stand mit vor der Brust verschränkten Armen da. Ihre Miene zeigte deutlich, dass sie entschieden hatte und nicht davon abrücken würde.

Sein Vater betrachtete Rowarn lange. Dann sagte er: »Gehen wir hinein.«



Rowarn sah Anspannung und Neugierde, als sie in den Raum zurückkehrten. Angmor behandelte die gequälte Tür nun bedeutend rücksichtsvoller, und das war schon ein gutes Zeichen. »Jeder soll sprechen«, sagte er, während er seinen Platz wieder einnahm. »Fang an, Arlyn.«

Die Heilerin stellte sich aufrecht vor die Versammlung. »Ich habe Ardig Hall keinen Eid geleistet, aber mich zur Hilfe verpflichtet«, begann sie. »Mein Beitrag wird sich nicht auf Geldwerte beschränken. Femris hat meine Eltern ermorden lassen und den Orden der Visionenritter vernichtet. Ich bin die Tochter eines Visionenritters und dazu verpflichtet, anstelle meines Vaters den Krieg zu Ende zu führen. Ich werde als Heilerin mitgehen, denn meine Kunst wird auf dem Feld von großem Nutzen sein. Außerdem bin ich eine Mächtige.«

Das machte in diesem Moment nicht nur Rowarn sprachlos. Er starrte Arlyn an. Sie nickte ihm zu.

»Ich kenne nur einen Teil meiner Macht, die vor allem in Verbindung mit Angmor zum Tragen kommt. Aber da ist noch mehr in mir. Ich kann nicht erklären, was, weil ich es nicht weiß. Doch ich glaube, diese Macht ist ein Erbe meines Vaters und für den letzten Kampf gedacht. Ich spüre, dass ich einen Beitrag zu leisten habe, von dem noch keiner etwas ahnt – mich selbst eingeschlossen. Doch er wird von Bedeutung sein. All dies habe ich in einer Vision vor mir gesehen, während ich euch pflegte und mit euch sprach. Etwas ist in mir erwacht und muss seiner Bestimmung folgen.« Arlyn ging zu ihrem Platz. »Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«

»Dann werde ich sprechen«, fuhr Rowarn gleich fort, um sich seine Verwirrung nicht zu deutlich anmerken zu lassen. »Und ich werde nicht viel erklären oder rechtfertigen, sondern einfach bestimmen. Ich bin der künftige König von Ardig Hall, und in dieser Eigenschaft spreche ich zum ersten Mal ein Machtwort, das besagt, dass ich mitgehe, einerlei, wie ihr entscheidet.« Damit setzte er sich hin.

Einige Zeit herrschte nachdenkliches Schweigen. Dann sagte Fabor, einer der Befehlshaber: »Es ist gegen jede Vernunft. Ich werde dem keinesfalls zustimmen und entsprechende Strategien vorschlagen, die die Teilnahme des Königs mit einbeziehen, ihn aber nicht an die Front bringen und noch weniger in Gefahr.« Er richtete den Blick auf den Fürsten. »Aber wollen wir nicht endlich das Wort des Heermeisters dazu hören? Bisher hat er sich noch nicht geäußert, und es ist langsam an der Zeit.« Zustimmendes Brummen rund um den Tisch.

Der Fürst hatte bis dahin schweigend zugehört, völlig entspannt, den Stuhl leicht nach hinten gekippt, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick unter den halb geschlossenen Lidern war in irgendwelche Fernen gerichtet gewesen. Und das seit Stunden.

Als er direkt angesprochen wurde und sich sämtliche Augenpaare auf ihn richteten, schien er aufzuwachen. »Na schön«, äußerte er. »Ich sage euch, was wir tun werden.« Er ließ den Stuhl nach vorn fallen und stand auf. »Die beiden gehen mit. – Olrig, hilfst du mir mit den Plänen?« Er wandte sich zu dem Tisch hinter ihm, auf dem ein Stapel Karten lag. 

Der Zwerg stand auf und half ihm, sie auf die große Tafel zu legen. Seine blauen Augen blitzten vergnügt, aber er verzog keine Miene.

Noïrun fing an, die erste Karte zu entrollen. »Wir werden als Erstes ...« Dann erst schien ihm das Schweigen ringsum aufzufallen, die aufgerissenen Augen, die teils offenstehenden Münder. Er blickte in die Runde und runzelte die Stirn. »Was ist los mit euch? Seid ihr müde? Konzentriert euch! Ich will heute noch damit fertig werden.«

»Aber ...«, begann Pyrfinn schließlich, »d-der König ... Rowarn ...«

Der Fürst sah ihn erstaunt an. Dann hob er die Hände. »Ich verstehe euch nicht. Ihr wolltet eine Entscheidung von mir, die habt ihr bekommen. Und jetzt würde ich gern an die Arbeit gehen.«

Als sich immer noch niemand rührte, seufzte er und sprach wie zu vorlauten Kindern, die einen Tadel bekamen, den sie nicht einsahen. »Wir nehmen dankbar das Angebot der Lady Arlyn an, uns ihre großen Heilkünste zur Verfügung zu stellen, die wir«, und er sah dabei unmissverständlich Angmor an, »dringend benötigen. Und Rowarn ist mein bester Ritter. Er hat eine ausgezeichnete Ausbildung hinter sich und sich auf dem Feld bewiesen. Damit hat er das Recht erworben, zu meiner Rechten zu stehen. Auf seine strategischen und kämpferischen Fähigkeiten zu verzichten wäre eine sträfliche Dummheit, und ich müsste das Amt des Heermeisters wegen geistiger Verwirrung niederlegen, wenn ich es täte. Ansonsten habt ihr ihn gehört: Er ist der König. Er bestimmt.« Er beugte sich über den Tisch, entrollte eine zweite Karte und schob sie neben die erste.

»Aber er ist auch der Zwiegespaltene«, wagte Fabor einen weiteren Einwurf.

»Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass ihm das nicht zum Verhängnis wird«, brummte Noïrun. »Oder habt ihr alle das Kämpfen verlernt? Glaubt ihr, ihr seid nicht in der Lage, jemanden zu verteidigen, der bisher unbesiegt aus dem Kampf hervorgegangen ist?«

Da endlich rührten sie sich, teils zeigten sie sich beschämt. »Ich stimme dem zu«, meldete sich Tamron zu Wort. »Rowarn hat mich und Angmor aus der Splitterkrone gebracht. Eher erhalten wir Schutz durch ihn als umgekehrt. Und wir haben nicht das Recht, ihm zu verwehren, worauf er Anspruch hat.«

»Gut, gut«, unterbrach der Heermeister ungeduldig. »Sind wir damit endlich fertig? Dann lasst uns überlegen, wie wir Femris am besten das Grab bereiten.«



Bis zum Abend hatten sie dann so weit alles geklärt. Ein Teil der Garde wurde beauftragt, neu eintreffende Rekruten im Eilverfahren auszubilden, und dazu die Pferde, die hoffentlich ebenfalls bald eintrafen. Einige Befehlshaber sollten ihre Einheiten auf schnellen Marsch und spezielle Einsätze vorbereiten. Andere wurden ausgeschickt, neue Kämpfer anzuwerben, das Nachrichtennetz mit den Botenfalks aufzubauen und mit Truppen durchs Land zu ziehen, um Dubhani aufzustöbern und auszuschalten. Olrig übergab Pyrfinn Befehle an die Zwerge, und Rowarn schrieb einen langen Brief an die Velerii und bat um fünfzig Pferde, die für den Kriegsdienst geeignet waren. Es gab noch viele Details, und die Gespräche gingen stundenlang weiter. Noïrun musste sehr viel regeln, da ihn Felhir auch weiterhin im Heerlager vertreten sollte.

Denn der Heermeister selbst, dazu Olrig, Angmor, Graum, Fashirh, Tamron, Ragon, Rowarn, Arlyn und vier Ritter der Garde würden gemeinsam direkt nach Dubhan aufbrechen. Die Truppen von Femris sollten durch Scharmützel abgelenkt und gebunden werden, während Rowarn und seine Gefährten vorhatten, in die lichtlose Burg einzudringen und Femris die drei Splitter abzunehmen, solange er noch nicht wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war. 

Noch nie waren sie so weit gekommen, doch es hatte auch noch nie ein solches Bündnis gegeben, und sie waren voller Hoffnung, es durch die Bündelung ihrer besonderen Fähigkeiten und Kräfte endlich zu schaffen.

Still für sich fragte sich Rowarn, ob der Verräter nun bei ihnen war oder später dazustoßen würde.