Kapitel 28

Der vierte Pfad


Rowarn kehrte mit der einsetzenden Nachtkühle zum Gasthaus zurück. Rings um das Gebäude steckten Fackeln, und Öllampen hingen vom Dachbalken herab. Auf den Tischen brannten Kerzen in bunten Gläsern. Vereinzelt saßen Gäste heraußen, in leises Geplauder vertieft. Der Anblick wirkte schon von weitem anheimelnd, was Rowarns Kummer nur noch verschlimmerte. Er beneidete jeden Einzelnen, Mensch oder Tier, um die Sorglosigkeit, der sie sich alle in Farnheim hingeben durften. Er war als Einziger davon ausgeschlossen. Dass Angmor sich selbst davon fernhielt und immer nur düsteren Gedanken nachhing, war seine eigene Entscheidung. Rowarn hingegen hatte sich seine Abstammung und Bestimmung nicht ausgesucht.

Wie es dem Visionenritter wohl ging? Er als Einziger kannte Rowarns Geheimnis und hatte ihn dafür nicht verurteilt – aber er stand dennoch nicht zu Rowarn, sondern hatte ihm kurz vor der Ankunft deutlich gemacht, dass der junge Ritter sich ab Farnheim von ihm fernhalten sollte.

Auch Tamron war ein Stück weit eingeweiht. Er kannte die Hälfte der Geschichte, den hellen, naurakischen Teil, weil Rowarn sich bevor er die Wahrheit erfuhr darin verstiegen hatte, dass der Unsterbliche sein Vater sein könnte. Sie wiesen schließlich ähnliche Züge auf. Aber das war ein Irrtum gewesen. Wie würde Tamron wohl darauf reagieren, wenn er den Rest erfuhr?

Es bleibt dabei, dachte Rowarn. Gleich morgen früh gestehe ich alles, und dann bin ich fort. Ich will nicht mehr diese Gedanken wälzen, ich will keine Angst mehr haben müssen, ich muss mit mir selbst wieder ins Reine kommen.

Aus der Gaststube klangen fröhliche Laute und leise Musik. Rowarn ging daran vorbei, die Treppe hinauf in sein Zimmer. Die Rüstung lag auf seinem Bett ausgebreitet, und auf dem Tisch stand ein Teller mit allerlei Süßigkeiten, zusammen mit einem Krug kaltem Früchtetee und einem frischen Blumenstrauß. 

Zitternd räumte er den Lederharnisch und die übrigen Sachen in die Wäschetruhe, zog sich aus und ging zu Bett. Er wusste, er würde keinen Schlaf finden, und versuchte, sich in die Tiefe Ruhe zu versenken, doch es gelang ihm nicht.

Nichts hatte sich geändert, außer der Umgebung. Aber Rowarn hätte ebenso gut auch wieder in der dunklen Zelle in der Splitterkrone liegen können.



Früh am Morgen suchte Rowarn wieder den Kaskadenfall auf, eine Gewohnheit, auf die er gar nicht mehr verzichten wollte. Er genoss diese stille Stunde am Morgen, wenn die Luft so sauber und rein war und alles neu begann, und er das Gefühl hatte, dass die Welt ihn liebte. Heute war es frisch und feucht, kurz nach Mitternacht hatte es ordentlich geregnet, und die Wege waren nass. In Pfützen stand das Wasser. Frühnebel zog über die Wiesen, aber es würde sicher bald aufklaren. Von den warmen Quellen stieg warmer Dampf auf und wallte über den Hang zum See hinab. 

Rowarn wollte gerade den gewohnten Weg nach oben einschlagen, als er aus einem der unteren Becken Stimmen hörte. Das war zu dieser Zeit noch nie der Fall gewesen. 

Verdutzt ging er ein Stück hinunter und fand Noïrun in einem Becken, umgeben von zwei kichernden Mädchen, die seinen Körper mit Schwamm und Öl verwöhnten. Der Fürst lehnte entspannt am Rand des Beckens und sagte etwas, woraufhin die Mädchen noch mehr lachten. Alle drei waren splitternackt und amüsierten sich offensichtlich königlich. In der Mulde einer Basaltsäule standen ein Krug Wein und drei Becher, in der Hand hielt der Fürst das Mundstück einer Wasserpfeife, an dem er genüsslich sog und den Rauch kraftvoll durch die Nase ausstieß.

Als der Nauraka sich gerade zurückziehen wollte, bemerkte Noïrun ihn. »Rowarn! Was machst du so früh hier?«

»Ich gehe baden«, antwortete der junge Ritter. »So fange ich den Tag an.«

»Und ich beende ihn damit«, grinste der Fürst.

»Du warst noch nicht im Bett?«

»Oh, im Bett schon.«

Rowarn errötete. Er fühlte sich völlig fehl am Platz und war verlegen, weil er als Störenfried in diese traute Runde geraten war. Die Mädchen jedoch strahlten ihn an und winkten ihm zu.

Noïrun lachte, so entspannt und heiter, wie Rowarn ihn selten erlebt hatte. Erst ein einziges Mal, wenn er es recht bedachte. »Gesell dich zu uns!«

»Danke, ich ... bin gern allein, so finde ich zur Ruhe, und ... äh ...« Alles, was recht war, aber das gehörte sich wahrhaftig nicht, auch wenn die Einladung augenscheinlich ernst gemeint war. Rowarn war peinlich berührt über diese plötzliche Nähe zu seinem Fürsten. Ihn überhaupt so zu sehen, ganz ohne ... nun ja. Er nahm an, dass Noïrun sich deswegen so verhielt, weil sein Verstand von Wein und Dampfkraut völlig benebelt war, noch dazu nach einer schlaflosen Nacht.

»Wie du willst«, unterbrach Noïrun gut gelaunt sein Gestammel und legte einen Arm um jeweils ein Mädchen. »Tut mir leid, meine Hübschen, ihr werdet weiterhin mit mir altem Mann vorliebnehmen müssen.«

»Stets zu Diensten, edler Herr«, zwitscherte die eine, und »mit dem größten Vergnügen«, die andere. Sie schmiegten sich beide unter offensichtlichem Wohlbehagen an ihn, fuhren fort, ihn einzuölen und beachteten den jungen Ritter nicht weiter.

Rowarn rang sich ein verschwörerisches Grinsen ab, hob die Hand zum Gruß und eilte dann nach oben, zu seinem abgeschiedenen Ruheplatz. Vorsichtig sicherte er nach allen Seiten, ob er auch wirklich allein war, legte dann die Sachen ab und tauchte erleichtert ins Wasser. Als er seine Verlegenheit überwunden hatte, musste er doch kopfschüttelnd lachen.



Als er schließlich das Bad verließ, hatte sich der Nebel gänzlich aufgelöst, und die Herbstsonne schenkte Farnheim einen goldenen Tag. Vor dem Haupthaus regte sich allmählich das Leben. Der Fürst und seine Begleiterinnen waren nicht mehr zu sehen. Nun ja, irgendwann musste Noïrun auch den versäumten Schlaf nachholen.

Olrig saß draußen an einem gedeckten Tisch und winkte ihm zu. »Rowarn! Nimm mit mir das Morgenmahl ein.«

»Ja, gern. Ich komme gleich.« Rowarn eilte auf sein Zimmer, tauschte den Überwurf gegen angemessene Kleidung und setzte sich wenige Augenblicke später zum Kriegskönig. »Du bist sehr früh auf.«

»Findest du? In meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf. Mich wundert, dass ich Noïrun nirgends sehe.«

Rowarn spürte, wie ihm das Blut wieder ins Gesicht schoss. Olrig bemerkte es und hob leicht die Hand. »Ah, verstehe. Es tut gut zu erfahren, dass er dem Leben noch etwas abgewinnen kann.« Der Zwerg grinste. »Nicht, dass es mich was angeht, aber ... wie viele holde Maiden waren denn bei ihm?«

»Zwei.«

»Dann werden wir ihn frühestens heute Nachmittag wieder zu Gesicht bekommen. Und ich werde letztendlich meine Wette doch verlieren. Es sei ihm gegönnt. Er trägt sonst viel zu schwer an seiner Bürde.«

Rowarn nahm einen Teller gebackene Mehlfladen mit Honig und Beeren entgegen, dazu einen Becher heißen, scharf gewürzten Tee. »Und du?«

»Keine Sorge um mich«, sagte Olrig vergnügt. »Ich bin nur diskreter. Schließlich bin ich ja auch ein verheirateter Mann.«

»Ich dachte, Noïrun ...«

»Sie ist ihm davongelaufen, schon vergessen? Er hat jedes Recht der Welt, seine Vitalität auszuleben, und ganz gewiss muss er das nicht verheimlichen.« Olrig goss sich Tee nach. »Und bevor du nun etwas zu meinem heiligen Stand sagst: Hättest je du meine Frau kennengelernt, würdest du mich verstehen.«

Rowarn schüttelte den Kopf. »Nicht verstehen kann ich, wieso du sie geheiratet hast.«

Olrig kicherte. »Oh, sie ist eine typische Wandlerin: Vor der Ehe hinreißend, während der Ehe eine Tortur, nach der Ehe die beste Freundin. Nicht das erste Mal, dass mir das passiert. Es wäre natürlich alles anders, wenn Arlyn meinen Heiratsantrag angenommen hätte. Oder wenigstens Ylwa.«

Rowarn grinste. »Diese Frauen betet man an, man heiratet sie nicht. Und die schlechte Wahl, die du stattdessen getroffen hast, entschuldigt das noch lange nicht. Erwarte kein Mitleid von mir.«

Später kam Tamron dazu, der ein wenig übernächtigt, aber zufrieden wirkte. »Arlyn hat mir gestattet, ins Gasthaus umzuziehen. Hat jemand Angmor gesehen?«

»Nein«, gaben Olrig und Rowarn Auskunft.

»Was für ein Eigenbrötler. Es wird Zeit, dass er sich einmal in der Runde sehen lässt, schließlich geht es hier noch um ein bisschen mehr als erholsame Tage. Ich werde diese Visionenritter nie verstehen lernen.«

»Hast du noch mehr gekannt?«

»Fast alle, und bis auf Loghir, Arlyns Vater, waren sie gleichermaßen finstere und schweigsame Gestalten. Angmor sprengt allerdings alles. Ihn hat man selbst zur Blütezeit des Ordens selten gesehen, auch seine Brüder kannten ihn kaum. Wenn er gebraucht wurde, erschien er völlig unvorhersehbar an Orten, wo man es nie erwartet hätte, erledigte seine Aufgabe und war wieder fort, bevor man Luft holen konnte.«

Olrig grinste. »Wie ein Waldlöwe eben.«

Rowarn dachte an Arlyns Erzählung und gab ihr recht. Als er merkte, dass der Kriegskönig den Tisch verlassen wollte, wurde er ein wenig unruhig. Schließlich hatte er an diesem Tag noch etwas vor.

Olrig bemerkte es sofort und hielt inne. »Liegt dir etwas auf dem Herzen, Junge?«

»Nein«, sagte Rowarn schnell. »Was denkst du, ob wir heute Abend ... alle gemeinsam essen könnten? Sicher kann Arlyn uns einen eigenen Raum geben, wo es keine Mithörer gibt. Wir ... wir müssen ja mal über die Zukunft reden.« 

»Das sollte möglich sein«, sagte Olrig, und Tamron nickte. »Ich schleife Angmor einfach mit. Als Unsterblicher darf ich mir das erlauben. Der Vorschlag ist gut, Rowarn. Heute Abend also.«

Das bedeutete auch, dass Rowarn sich den Tag über gedulden musste. Doch er würde die Stunden nicht unnütz und ruhelos verstreichen lassen. Er ging zu den Weiden, und als er pfiff, sah er in der Herde einen Kopf hochfahren, zwei kleine Ohren wurden gespitzt, und ein helles Wiehern folgte. Windstürmer vergaß seine Freunde und saftiges Gras und kam angaloppiert.

»Heute werden wir arbeiten, es wird Zeit«, sagte Rowarn zu dem kleinen Falben, der ihn von oben bis unten abschnoberte und die Taschen nach Leckereien durchwühlte.

Es war erst der siebte Tag seit der Ankunft, aber dem jungen Ritter kam es vor, als hielte er sich schon ewig hier auf. Dementsprechend tobte er sich mit Windstürmer aus und übte sich in den erlernten Künsten, bis ihn die Muskeln schmerzten. Er glaubte, nun für den Abend gewappnet zu sein. Sein schwerster Gang stand ihm bevor.

Doch es wurde nichts daraus. Tamron und Angmor ließen sich entschuldigen, und Noïrun wollte die Runde noch ein wenig aufschieben, weil er auf Nachrichten wartete. Damit war Rowarns Plan fehlgeschlagen. Während des Abendessens dachte er darüber nach, ob er nicht Olrig und Noïrun beiseiteziehen und nur ihnen alles gestehen sollte, doch er fand einfach nicht den Mut. Eine Stimme in ihm forderte, endlich reinen Tisch zu machen, eine andere hielt ihn davon ab und behauptete, dass der geeignete Moment noch nicht gekommen sei.

Hin und hergerissen gab er ausweichende Antworten und kämpfte im Stillen mit sich. Noïrun sagte nichts, aber Olrig äußerte schließlich sein Erstaunen. »Was hast du, Junge? Heute früh warst du schon merkwürdig.«

»Mir ... mir ist schlecht«, stieß Rowarn hervor, und das entsprach der Wahrheit. Er war so aufgewühlt, dass sein Magen in gewohnter Weise revoltierte, obwohl er geglaubt hatte, das wäre endlich vorbei. »Tut mir leid«, keuchte er, dann sprang er auf und rannte nach draußen.

»Schade um das schöne Essen!«, rief der Zwerg ihm hinterher.

Rowarn lief ums Haus, in eine dunkle Ecke, wo hohe Farnbüsche standen, und übergab sich dort, bis sein Magen leer war. Er hasste sich selbst für seine Feigheit und Schwäche. In den Gastraum konnte er nicht mehr zurückkehren, nicht in dieser Verfassung. Dann musste er das Geständnis eben noch einen weiteren Tag aufschieben. So jedenfalls würde er nicht vor seine Freunde treten. Morgen! Ja, morgen, egal, wer dabei war, und wenn er nur Noïrun allein antraf. Da musste es raus, und er würde es auch nicht wieder auf den Abend verschieben. Noch so einen Tag konnte er nicht durchstehen. 

Genau so würde er es machen, entschied er: Sobald er morgen früh den Fürsten erblickte, würde er ihn zum Gespräch bitten, noch vor dem Morgenmahl, damit er nicht wieder Gefahr lief, sich mittendrin übergeben zu müssen. Und dann ohne Umschweife zur Sache kommen und alles gestehen, und danach ... nun, das würde sich dann zeigen. Noïrun war der Heermeister, er würde entscheiden.

Rowarn brachte seine Kleidung in Ordnung, kehrte gefasst ins Gasthaus zurück und ging auf sein Zimmer. Heute hatte Landi ihm einen Korb voller Beeren hingestellt. Immer hatte sie eine kleine Aufmerksamkeit für ihn. Rowarn stand noch eine Weile am Fenster und starrte dumpf hinaus, bevor er sich schlafen legte.



Als er das Rasseln in der Dunkelheit hörte, begriff er sofort. Rowarn stieß einen Schrei aus.

»Nein! Nicht du!«

Er stemmte sich gegen die Ketten, die ihn stehend an die Wand fesselten. Die Mauer hinter ihm war aus Stein und eiskalt. Der quadratische, klein wirkende Raum lag im Halbdunkel, durch einen Schacht fiel dünnes, fahles Licht in einem gesammelten Strahl herein.

»Es ist nicht wahr«, keuchte er. »Das geschieht nicht wirklich.«

»Warum glaubst du das?«, antwortete ihm die nur zu wohlbekannte heisere, kalte Stimme.

»Weil ich in Farnheim bin«, stieß Rowarn hervor. »Ich habe mich ins Bett gelegt und bin eingeschlafen.«

»Ich habe dich herausgeholt. Das bereitet mir keine Mühe.«

»Nein ... du bist in meinen Geist eingedrungen. Ich lasse es nicht zu!«

Rowarn bäumte sich auf, stemmte sich gegen das, was so wirklich erschien. Er versuchte, den Raum aus seinem Kopf zu verdrängen, diese Bilder zu löschen. Er drehte das Gesicht weg, als der Graue aus den Schatten trat. Sein Name, er wollte nicht an seinen Namen denken. Lösch ihn aus! Es geschieht nicht wirklich. Du darfst nicht daran glauben! Er wird dich sonst töten.

»Natürlich werde ich dich nicht töten«, sagte Heriodon.

Nein! Kein Name! Da ist nichts und niemand!

Er war nun ganz nahe, Rowarn spürte seinen Atem im Gesicht und die Berührung seiner Hand an der Wange. »Ich habe dich sehr vermisst, mein Schüler ...«

»Ich bin nicht dein Schüler.« Rowarn brach der Schweiß aus, er konnte fühlen, wie es ihm kühl und klebrig die Schläfen hinabrann. Es ist nicht wirklich!, hämmerte es in ihm. Nichts von alledem kannst du spüren, denn es ist nur ein Traum. Ein Traum kann dir nichts anhaben ...

»Ich musste eine ganze Weile nach dir suchen, du hast dich gut verborgen. Doch die Welt ist zu klein, um mir für immer zu entkommen.« Heriodons Stimme klang sanft, dicht an seinem Ohr. »Du missverstehst da etwas, Rowarn. Es ist richtig, dass dein Körper noch in deinem Bett liegt. Noch. Doch dein Geist ist bereits hier bei mir und bildet deinen Körper nach. Bald wird dort in Farnheim nur noch eine leere Hülle liegen, und bis zum Morgen gar nichts mehr. Kannst du nicht fühlen, wie du immer mehr stofflich wirst? Das ist ein Teil meiner Kunst. Meiner Macht.«

»Aber ... das letzte Mal ...« Lass dich nicht verunsichern! Er will dich mürbe machen, Zweifel in dir wecken, doch er lügt! Alles ist eine einzige Lüge! Er kann dir nichts tun!

»Ja, das war allerdings fast unverzeihlich«, stimmte Heriodon zu. »Du hast versucht, mir zu entkommen. Du wolltest um jeden Preis sterben. Und damit konnte Angmor dich zurückziehen und dir einreden, es wäre nur ein böser Traum gewesen. Aber das ist natürlich gelogen. Wahr ist alles, was du hier erlebst. Ich habe dich gefunden und zu mir geholt, du bist hier. Und ... ja, es tut mir fast leid, mein Zögling, aber ich muss dich schon wieder bestrafen. Dafür, dass du dich einfach davongeschlichen hast. So weit werde ich es nicht mehr kommen lassen, das verspreche ich dir. Nun wirst du Gehorsam lernen.«

Die Hand glitt von der Wange und Rowarns Körper hinab. Liebkoste ihn zuerst ein wenig, bevor er zum Messer griff.

Am Bauch fing Heriodon an, ihm die Haut abzuziehen. Schlitzte ihn zuerst auf, wie man an die Wolle eines Schafes geht, bevor sie geschoren wird, vom Nabel bis zur Halsgrube, und riss die Haut dann nach beiden Seiten weg, dehnte sie, bis sie nur noch hauchfein wie Papier war, dann trennte er sie ab und spannte sie auf einen Rahmen. »Besser als Papyrus«, grinste der Graue Mann. »Darauf wirst du meine Lehren notieren, um sie künftig besser zu behalten und zu beherzigen.« 

Nach all dem, was er bereits durchlitten hatte, gab es also immer noch eine Steigerung. Unendliche Qualen schüttelten ihn. Rowarn brüllte, bis er heiser war, und dann schrie er immer noch in Gedanken weiter.

Es sind ... doch nur ... Gedanken ...

»Oh, aber es geschieht wirklich«, grollte sein Peiniger. »Genau dann, wenn dein Körper vollends hier ist, wirst du alles ein zweites Mal erleben, den köstlichen, süßen Schmerz, und mit eigenen Augen zusehen, wie ich dein Blut aus dir schöpfe und trinke. Freue dich darauf, was dich nochmals erwarten wird. Und du wirst überleben. Ich werde dich heilen, damit Femris zufrieden sein wird.«

Rowarns Kopf sank nach unten. Sein Gesicht war nass von Schweiß und Tränen, er schluchzte, und Speichel lief ihm aus dem Mund. Brust und Bauch waren nur noch eine einzige, blutige, brennende Masse. Dass es nur im Geiste geschah, spielte keine Rolle – der Schmerz war derselbe, und der Schrecken nicht weniger. Die furchtbare Gewissheit, dass es ihn nicht nur im Traum, sondern noch in der Wirklichkeit ereilen würde. Rowarn wusste aus Erzählungen, dass man das Häuten bei lebendigem Leib eine Zeitlang aushielt, bevor man starb, und dass die Schmerzen zu den Grauenvollsten gehörten. Wenn Heriodon seine Drohung wahrmachte, diese Folter ein zweites Mal zu wiederholen, am echten Leib mit einem echten Messer ... diese Angst davor würde aales nur verschlimmern, die gleiche Qual verdoppeln …

Und diesmal würde Heriodon nicht zulassen, dass Rowarn sich aufgeben und sterben konnte. Der Graue wusste genau, was er tat. 

Es gab kein Entkommen, außer ... in den Wahnsinn.

Rowarn spürte, wie seine Gedanken immer wieder davontrieben, sich verwirrten und zerfaserten. Er würde nicht mehr lange durchhalten, und das konnte sein Peiniger nicht verhindern.

»Oh, ich werde dir ausreichend Ruhe verschaffen, damit dein Verstand sich wieder klärt«, wisperte Heriodon. »Glaub mir, ich habe sehr viel Erfahrung in dem, was ich tue. Ich mache nur selten so einen Fehler wie beim letzten Mal. Das wird nicht noch einmal geschehen.«

Er berührte Rowarns Bauch unterhalb des Nabels; nur ein kurzer Schmerz diesmal, der jedoch den Körper in unkontrollierte Zuckungen versetzte. Dann glitt er noch tiefer hinab. 

Rowarn hob den Kopf, starrte auf den Lichtstrahl und schrie: »Der Kranich ... der Kranich fliegt höher ...«

Heriodon hielt inne. »Was sagst du?«

Rowarn war halb blind vor Tränen, seine Augen brannten. Trotzdem stieß er ein röchelndes Kichern aus. »Ich ... kann beides, verstehst du? Wachsen ... und fliegen ... und da ist eine Feder ...«

»Schluss damit!« Zum ersten Mal klang so etwas wie Zorn in Heriodons Stimme auf, und er packte Rowarns Gesicht und drehte es zu sich. »Keine Ausflüchte, junger Narr, kein wirres Gerede! Konzentriere dich auf mich und deine Qual. Sie ist deine Lehre, sie ist, was du werden wirst. Am Ende wirst du größer sein als ein Visionenritter. Ist das nicht erstrebenswert?«

»So bin ich nicht«, flüsterte Rowarn.

Und etwas wuchs in ihm heran, und er sah eine Feder, die mittenzwei geschnitten war, leuchtend weiß und rein in der Dunkelheit fallen, und während sie fiel, fügte sie sich wieder zusammen. »Wer ... wer keine Angst hat ... braucht anderen ... keine einzujagen«, stieß er abgehackt hervor. Seine Brust hob und senkte sich in schnellen Atemstößen.

Ja, es war wirklich. Er war hier, in Heriodons Fängen, es war kein Traum, es gab kein Erwachen, keinen Tod ... aber das bedeutete noch etwas anderes.

Er war ebenso bei Heriodon. Der Graue brauchte ihn, verlangte nach ihm, als ob er süchtig wäre. Konnte ohne ihn nicht leben, da er nicht von ihm lassen wollte. So wie Gaddo sich an Moneg verloren hatte. Heriodon wollte nur ihn, Rowarn. Und das würde der junge Ritter ihm nun geben. Sich, und zwar ganz. Sollte sein Foltermeister bekommen, wonach er verlangte.

»Du hast Angst«, sagte Heriodon. »Doch du jagst mir keine ein.«

Rowarn kicherte erneut. »Sicher?«

Sein Peiniger wirkte nun deutlich ungehalten, der Druck seiner Finger verstärkte sich. Bald würde er neue Qualen schenken, die alles andere übertreffen würden. »Deine Angst ist meine Nahrung, junger Narr. Sie ergötzt mich und schenkt mir Wonne.«

»Du sollst sie haben«, wisperte Rowarn. »Mein Fehler war, dass ich Angst vor meiner Angst hatte, dass ich sie vor mir versteckte. Doch nun weiß ich, wonach dich dürstet, und um frei zu sein, werde ich dich sättigen, bis du meiner überdrüssig wirst. Und es ist umso besser, dass ich nunmehr stofflich bin.«

Dann ließ er den Dämon in sich frei.



Im Gasthaus war es ruhig, viele Gäste waren abgereist. Arlyn setzte sich kurz zu dem Kriegskönig und dem Fürsten, die sich neben der Küche in einem kleinen Raum niedergelassen hatten.

»Ich werde Haus Farnheim ab morgen für eine Weile schließen und Reisende zum Markt schicken. Dort gibt es auch zwei gute Gasthäuser«, erklärte sie. »Ich denke, ich werde die Zimmer bald für andere Besucher benötigen, nicht wahr?«

»Ich wäre dir dankbar, wenn ich das Haus als Stützpunkt in Anspruch nehmen dürfte«, sagte der Fürst. »Ich habe tatsächlich vor, hier Kriegsrat zu halten.«

Arlyn nickte. »Selbstverständlich. Ich werde mich nicht heraushalten, wenn es um Femris geht. Die Kranken werden euch nicht stören, sie sind in ihren Häusern gut untergebracht und können auch dort versorgt werden. Es sind ohnehin nicht mehr viele da; zu dieser Jahreszeit ist das ganz normal.«

»Du bist eingeladen, an unseren Beratungen teilzunehmen«, sagte Olrig. »Dein Rat ist uns sehr willkommen.«

Noïrun nickte, als sie ihn fragend ansah.

Sie lächelte. »Achtundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit für einen Menschen. Du bist nicht mehr so stürmisch.«

»Oh, ich lenke es nur in andere Bahnen«, meinte der Fürst. Er ergriff Arlyns Hand und führte sie kurz an seine Lippen. »Ich danke dir für alles.«

»Ich habe schon viel von deinen Verführungskünsten gehört«, schmunzelte sie, entzog ihm ihre Hand und wünschte ihnen noch einen guten Abend.

»Hast du damals um sie gefreit?«, fragte Olrig, kaum dass die Tür geschlossen war.

»Sicher. Ohne Erfolg, wie du dir denken kannst.« Der Fürst winkte Ragon und Tamron, die gerade hereinkamen, und zu seiner Überraschung fand sich auch Angmor in ihrem Gefolge. Bevor sich die Tür schloss, schlüpfte gerade noch Graum herein.

»Spät, doch wir sind hier«, sagte der Unsterbliche. »Aber wo ist denn nun Rowarn, der uns zusammengerufen hat?«

Olrig deutete mit dem Daumen nach oben. »Er ist schlafen gegangen, es ging ihm nicht gut. Irgendetwas Schlimmes quält ihn.«

»Vielleicht hängt es damit zusammen, was er uns heute Abend sagen wollte«, überlegte Tamron mit besorgter Miene. Er wandte sich an den Visionenritter. »Was könnte das sein, Angmor? Du warst zuletzt mit ihm zusammen.«

Bevor der Maskierte antworten konnte, wurden sie von einem mächtigen Poltern, schrillen Schreien, die nach Todesangst klangen, und dem Geräusch berstenden Holzes unterbrochen.

»Was ist das für ein Getöse da draußen?«, wunderte sich Olrig, und Noïrun drehte sich mit dem Becher, aus dem er gerade trinken wollte, und blickte hinter sich aus dem Fenster. 

»Verdammt, das ist der Junge.« Der Fürst ließ den halb geleerten Becher fallen, ohne darauf zu achten, dass der Inhalt in alle Richtungen spritzte und seine Freunde traf. Er stieß sich ab, sprang mit einem gewaltigen Satz über den Tisch und war schon aus der Tür, noch bevor einer der anderen überhaupt begriffen hatte, was das zu bedeuten hatte. Olrig fasste sich als Erster und rannte hinterher.



Als Rowarn zu sich kam, fand er sich im Freien wieder, nackt, das blanke Schwert in der Hand, und um ihn war Blut. Entsetzt starrte er auf die zerfetzten Bälge der Kaninchen, die zwischen den zertrümmerten Käfigen lagen. Der Kräutergarten war verwüstet, es sah aus wie auf einem Schlachtfeld.

Nur langsam dämmerte es Rowarn, wo er sich befand. Vor ihm stand Noïrun mit erhobenen Händen und redete auf ihn ein, doch die Worte drangen erst jetzt in sein Bewusstsein. 

»Rowarn, komm endlich zu dir. Schau mich an! Ich bin es, Noïrun! Kein Feind. Sieh her. Konzentriere dich. Leg das Schwert nieder und beruhige dich.« 

Von der anderen Seite näherte sich Olrig langsam mit gezücktem Schwert.

»Was ...«, fing Rowarn fassungslos an und ließ das Schwert fallen. Ihm wurde schwindlig, und er taumelte.

»Olrig, bleib stehen«, sagte der Fürst und hob die Hand, um den Freund aufzuhalten. »Er kommt zu sich.«

Der Kriegskönig ließ das Schwert sinken und verharrte.

»Große Götter, was hab ich getan«, stieß Rowarn hervor.

Noïrun antwortete besänftigend: »Noch nichts Schlimmes, glücklicherweise.« 

»Die Kaninchen sind da bestimmt anderer Meinung«, brummte Olrig.

Der Fürst ging einen Schritt auf Rowarn zu. »Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«, fragte er.

»Ich ... ich weiß nicht ... Ich ging zu Bett, und dann ...« Rowarns Augen weiteten sich, als er sich erinnerte. »Heriodon ... ich habe versucht, ihn zu töten ...«

Der Fürst zuckte zusammen. »Heriodon«, stieß er hervor, und klirrender Hass färbte seine Stimme.

Rowarn hörte es und wollte noch mehr erklären, doch da überwältigten ihn Grauen und Schmerz, und er stürzte schreiend zu Boden, schlug um sich, und Schaum quoll aus seinem Mund.



»Olrig, hol Arlyn, schnell! Das ist verdammt ernst!«, rief Noïrun, und der Zwerg rannte ins Haus zurück. Der Fürst packte Rowarn, der sich in Krämpfen wand, und drückte ihn nieder, redete ununterbrochen auf ihn ein. »Junge, beruhig dich! Du bist jetzt außer Gefahr. Niemand kann dir mehr etwas antun.« Er zog ein Tuch aus seiner Tasche, drehte einen Knebel und drückte ihn Rowarn in den Mund. »Verschluck bloß nicht deine Zunge, Kind ...« 

Er hielt Rowarns Kopf mit einer Hand, strich ihm mit der anderen die verschwitzten Haarsträhnen aus der Stirn. »Sch-scht, alles ist gut, konzentrier dich auf meine Stimme. Bleib wach, halte dich an mir fest, es ist gleich vorüber.« Rowarns Lider flatterten, von den Augen war nur das Weiße zu sehen. Noïrun konnte ihn nur mit Mühe halten und gleichzeitig seinen um sich schlagenden Armen und Beinen ausweichen. Immer wieder bäumte Rowarn sich auf, und unartikulierte Laute drangen aus seiner Kehle. »Götter, was hat er dir angetan ...« Noïruns Stimme bebte.

Er sah auf, als Olrig, Arlyn und Angmor angehastet kamen. Zu dritt mussten sie den tobenden jungen Mann festhalten, damit die Heilerin ihm den Knebel abnehmen und ein Mittel einflößen konnte. Alle atmeten auf, als er ruhiger wurde.

»Gut gemacht«, sagte Arlyn lobend zu Noïrun. »Woher wusstest du ...?«

»Ich weiß, wie man mit ... Rithari umgeht«, antwortete der Fürst gepresst. Er blickte den Visionenritter an. »Was hat Heriodon mit ihm gemacht? Wieso haben wir das nicht erfahren?«

»Heriodon?« Arlyn fuhr auf. »Er wagt es, diesen Ort anzugreifen?«

»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Angmor auf Noïruns Frage. »Er spricht nicht darüber.«

»Natürlich tut er das nicht! Er schweigt aus Furcht und Scham, wie jeder, dem so etwas widerfährt«, fuhr der Fürst den Visionenritter an.

Angmor fuhr unbewegt fort: »Auf der Reise hierher hatte er einen ähnlichen Anfall, aber seither nicht mehr. Ich habe angenommen, er wäre Heriodons Einfluss entkommen.«

»Nur, solange er nicht an sich selbst zweifelt und nicht zulässt, dass seine Ängste ihn beherrschen«, sagte Noïrun zähneknirschend. »Aber ein langlebiger, wenn nicht unsterblicher Visionenritter, der wahrscheinlich tausendmal so alt ist wie Rowarn und über alles erhaben, kann dem natürlich nicht ausreichend Bedeutung beimessen und findet es nicht weiter erwähnenswert.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Angmor.

Olrig versuchte zu beschwichtigen: »Lass gut sein, Noïrun.«

Der Fürst gab nach. »Ja.« Er sah zu Angmor auf. »Wir hätten ihm helfen können, darum geht es.« Er schüttelte den Kopf. »Unser Fehler, dass wir es so weit kommen ließen. Ich hätte mehr auf ihn achten sollen.«

Graum kam angeschlichen, maunzte leise, schnupperte an Rowarns Gesicht und leckte es dann behutsam, zärtlich ab.

Noïrun ließ ihn gewähren, es konnte Rowarn nur helfen. Wärme und die Nähe anderer brauchte er jetzt, und das im Übermaß. »Können wir ihn mit einem schützenden Bann umgeben, damit er zur Ruhe und mit sich ins Reine kommen kann?«

»Ja, wenn Angmor mir dabei hilft«, sagte Arlyn. »Ich lasse ihn auf sein Zimmer bringen und werde alles vorbereiten.«

Der Visionenritter nickte. »Wir werden einen Weg finden. Ich komme nach, sobald du so weit bist, Arlyn.«

»Gut.« Noïrun ließ Rowarn, der nun ganz ruhig lag, los, erhob sich und trat einige Schritte beiseite. Mit dem Rücken zum Haus gewandt blieb er stehen. Seine breiten Schultern zuckten, und er rieb sich Gesicht und Bart, dann den Nacken.

Inzwischen trafen zwei Helfer ein, wickelten den halb bewusstlosen Rowarn in eine Decke und trugen ihn ins Haus. Arlyn begleitete sie. Rianda und Landi, die mitgekommen waren, sahen ihm besorgt nach und fingen an, die Verwüstung aufzuräumen.

Olrig brummte: »Ich glaube, da braucht noch jemand ein Beruhigungsmittel! So habe ich ihn schon sehr lange nicht mehr erlebt.« Er näherte sich vorsichtig Noïrun. »Freund ...«

Der Fürst fuhr zu ihm herum, seine Augen waren wie ein grünes Leuchtfeuer in der Dunkelheit. »Ich bringe ihn um!«, schrie er, dass es von der Hauswand zurückschallte. Es kam sehr selten vor, dass er die Stimme derart erhob. Und was seit seiner Übernahme der Aufgabe des Heermeisters noch nie vorgekommen war: Er hatte völlig die Fassung verloren. »Mit meinen bloßen Händen, Olrig! Ich reiße ihm das Herz aus und werfe es den Geiern zum Fraß vor. Ich weide ihn aus und verstreue ihn auf nacktem Fels. Ich reiße ihm ein Auge aus und zertrete es vor ihm, damit er dabei zusehen kann, und dann reiße ich das andere aus und zerquetsche es zwischen seinen Zähnen. Ich breche ihm jeden einzelnen Knochen, in winzig kleine Stücke. Und ich verfluche seine Seele, dass sie niemals Ruhe finden möge, und spucke auf sie!«

Olrig sah zutiefst betroffen aus. »Noïrun, du hast dich nicht mehr in der Gewalt ...«

»Nein, das habe ich nicht!«, tobte Noïrun. »Was er dem Jungen angetan hat, kann mich nicht unberührt lassen! Du ... du hast ja keine Ahnung!«

»Er ist der Heermeister von Femris ...«

»Das weiß ich! Doch das ist eine andere Sache.«

Angmor kam hinzu und fragte: »Gibt es eigentlich irgendjemanden, den der Fürst Ohneland nicht kennt?«

Noïruns Gesicht glänzte vor Schweiß. Er bebte am ganzen Körper. Sein Atem ging so schwer, als wäre er einen steilen Berg hinaufgerannt. »Er war mein Lehrmeister«, brach es aus ihm hervor. »Ich war sein bevorzugter Schüler. Ja, ich kenne Heriodon und seine Gelüste, und ja, einst stand ich vor demselben Abgrund wie Rowarn nun!«

»Aber du hast ihn überwunden«, sprach Olrig langsam. Er schüttelte erschüttert den Kopf.

»Ich war älter als Rowarn und innerlich gefestigt, denn ich bin schon seit früher Jugend auf Kampf und Schmerz vorbereitet worden.« Der Fürst strich sich mit zitternder Hand das schulterlange Haar zurück. Er sprach endlich leiser. »Damals schwor ich mir, ich würde das kein weiteres Mal zulassen, und dass Heriodon eines Tages dafür bezahlen muss.« Er ballte die Hände zu Fäusten und stöhnte heiser. »Es macht mich krank zu wissen, dass dieses abartige Schwein den Jungen in seiner Gewalt hatte!«

Der Kriegskönig ließ seine schwere Hand auf Noïruns Schulter fallen und schüttelte sie kräftig. Er war nur wenig kleiner als sein Freund, besaß aber sehr viel mehr Masse, das musste Noïrun zur Besinnung bringen. »Rowarn steht das durch«, sagte er entschieden. »Er besitzt einen starken Willen und hohe Lebenskraft. Er wird es genauso überwinden wie du, und schon sehr bald. Reiß dich jetzt zusammen, alter Freund, und falle nicht in alte Fehler zurück! Das haben wir doch alles hinter uns gelassen, erinnerst du dich? Du lässt dich zu sehr von deinen Gefühlen beherrschen, und das kannst du dir nicht leisten.«

Noïrun schien versucht, Olrigs Hand von der Schulter zu schlagen, hielt sich aber gerade noch zurück. Allmählich gewann sein kühler Verstand die Herrschaft zurück. Seine Schultern sanken nach unten. Erschöpft nickte er. »Ist schon gut, Olrig, es ist vorbei.« 

»Schön.« Der Zwerg drückte seine Schulter noch einmal und zog die Hand dann zurück.

Noïrun blickte zu Angmor. »Und was hast du mit Heriodon zu schaffen?«, fauchte er. So erregt und wütend auf den Visionenritter war er doch noch, dass ihn ehrenvolle Anreden und Distanz nicht mehr kümmerten. »Und Arlyn?«

»Dein Blick reicht tief«, sagte der Visionenritter und nahm den geänderten Umgangston an.

Noïrun winkte zornig ab. »Ein Opfer erkennt Seinesgleichen. Und ich glaube, es gibt kaum jemanden, der nicht bei der Nennung dieses Namens zusammenzuckt. Also, erklär es mir!« 

»Heriodon ist ein besonders mächtiger Warine«, fing Angmor an. »Sein Vater gehörte zu den Ersten, die den Blutsbund mit den Dämonen eingingen, und er wurde damals zum Herrscher des neuen Volkes. Heriodons menschliche Mutter kam viele Jahre später als Sklavin zu ihm ins Schloss. Der alternde Herrscher tat ihr auf die übliche Weise Gewalt an, doch mit weitreichenden Folgen, die sich zehn Mondwechsel später in Gestalt des neugeborenen Bastards offenbarten. Trotzdem erkannte der Herrscher seinen Spätgeborenen als Sohn an und erzog ihn so grausam, wie es bei Warinen Sitte ist. Heriodon wuchs an dieser Härte mehr als alle anderen, und er sah eine große Zukunft vor sich. Er entwickelte ein besonderes Talent, das ihn zum Herrn der Schmerzen machte. Das Dämonenblut half ihm, geistigen Einfluss auf seine Opfer auszuüben, sobald er sie durch Angst und Schmerz in seine Gewalt bekam.«

»Wann war das?«

»Vor etwa einhundertfünfzig Jahren. Als Heriodon alt genug war, brachte er seinen Vater um. Doch zuvor machte er ihm noch ein besonderes Geschenk und erstattete ihm all die Grausamkeit zurück, die er von ihm die Jahre über erhalten hatte. Das war sein Gesellenstück. Für die Herrscherkrone interessierte er sich nicht, sondern überließ sie einem Bruder. Dann zog er durch die Lande, verdingte sich als Söldner und verfeinerte seine Kunst, bis er zum Meister wurde. Doch plötzlich geschah etwas, das ihn zu läutern schien.« 

Angmor machte eine kurze Pause. Es war ihm unangenehm, weiterzusprechen. »Er suchte einen meiner Ordensbrüder auf und bat um Aufnahme. Er versprach, alle Prüfungen auf sich zu nehmen, sah dies als Sühne für seine schrecklichen Taten an. Und zugleich wollte er beweisen, dass die Warinen, erst recht die Mischblütigen, nicht verdammenswert sind.«

Olrig kratzte sich den Bart. »Habt ihr ihm geglaubt?«

»Nein. Heriodon versuchte es mehrmals, aber er wurde abgewiesen. Schließlich musste er einsehen, dass ihm der Beitritt für immer verwehrt sein würde. Da nahm er furchtbare Rache.« Angmor machte eine unbestimmte Geste. »Das war vor etwa hundert Jahren. Er bot Femris seine Dienste an und verlangte den Rang eines Generals. Im Gegenzug wollte er Femris den Orden auf dem Silbertablett servieren.«

»Bei Lugdurs Essen«, stieß Olrig entsetzt hervor. »Er war es?«

Angmor nickte. »Er fand heraus, wo der Sitz des Ordens lag, und hat sie alle umgebracht. Arlyn war die Einzige, die entkam. Sie war damals acht oder neun Jahre alt. Ich selbst war nicht anwesend, was ich mir vorwerfen muss, andernfalls wäre das nicht passiert.«

»Wie ... war das möglich ...« Olrig konnte es kaum glauben.

»Das habe ich nie herausgefunden. Femris und Heriodon mussten sich zu einem gewaltigen Kraftaufwand zusammengeschlossen haben, um sie alle überwinden zu können. Ich erlebte das Sterben aus der Ferne mit, eilte zum Ordenshaus, konnte aber nur noch die Leichen bergen. Arlyn fand ich erst einen Tag später und konnte es kaum glauben, dass sie noch lebte. Sie hat zwei Jahre kein einziges Wort gesprochen, und als sie sich dann dem Leben zuwandte, hat sie weitere fünfzehn Jahre gebraucht, bis sie mit mir darüber reden konnte. Wobei sie zwar den Tod der Eltern miterlebt hatte, nicht aber das Gemetzel an den anderen. Doch das war unendlich grausam genug, um sie fürs Leben zu zeichnen.«

»Dann bist du also tatsächlich der Letzte deines Ordens?«, sagte Noïrun.

»Ich bin der letzte Visionenritter, wie es allgemein verbreitet wird«, bestätigte Angmor.

»Und nun ist Heriodon Femris’ Heermeister«, erklang unerwartet Rowarns Stimme, und sie wandten sich überrascht zu ihm um. Er war vollständig angekleidet, und aus seinen Augen sprühten blaue Funken in die Dunkelheit. Das Schimmern um ihn war fahl und krank. »Er versuchte, mich zu bekehren, er war besessen von mir. Sein Ziel war es, mit mir einen neuen Orden zu gründen, das ist mir jetzt klar geworden. Aber ich habe seine Pläne durchkreuzt.«

»Rowarn, du ...«, fing Noïrun an, aber der junge Ritter hob die Hand.

»Arlyn wollte mich zurückhalten, aber ich brauche kein Gehätschel, und erst recht keinen Bann«, unterbrach er. »Ich werde allein meine Entscheidung treffen. Lasst mich einfach in Ruhe. Alle!«

Damit verschwand er in der Nacht, Richtung Wald.

»Er schlägt den falschen Weg ein«, sagte Olrig sorgenvoll. »Irgendjemand muss ihn vor dem Fehler bewahren, in die Dunkelheit zu gehen.«

Angmor wandte sich schweigend ab und schritt davon. Graum zögerte, sein Blick glitt immer wieder dorthin, wo Rowarn in die Schatten getaucht war. Dann folgte er mit eingezogenem Schwanz seinem Herrn.

Olrig drückte warnend Noïruns Arm. »Es darf dir nicht zu nahe gehen!«, sagte er eindringlich. »Rowarn ist deine Schwachstelle. Du bist der Heermeister! Du musst das in den Griff kriegen.«

»Ich habe mich in der Gewalt, Olrig«, sagte der Fürst. Seine raue Stimme klang so ruhig wie gewohnt.

»Gut«, brummte der Zwerg. »Ich habe nämlich keine große Lust, dich in den Brunnen tauchen zu müssen, um das Feuer in deinem Gehirn zu löschen.«

»Diese Zeiten sind vorbei. Ich habe es dir versprochen.« Noïrun straffte seine Haltung und strich die Kleidung an seiner Brust glatt, eine Geste, mit er er wohl seine Anspannung abstreifen wollte. »Lass uns auf den Schrecken noch etwas trinken und dann zu Bett gehen.«

»Und Rowarn?«

Noïrun sah Tamron am Eingang des Hauses stehen. »Wir sind in Farnheim. Rowarn wird Heilung finden«, sagte er.



Rowarn wanderte fast die ganze Nacht durch den Wald, der still schlummernd um ihn lag; nicht einmal der Wind regte sich. Noch immer tobte der Schmerz in ihm, den Heriodon ihm zugefügt hatte. Der junge Ritter hatte einen schrecklichen Kampf mit seinem Peiniger gefochten. Heriodon war völlig überrascht gewesen, als es Rowarn gelang, seine Ketten zu sprengen. Es war die Dämonenessenz, die in ihnen beiden ruhte, die Rowarn Zugang zum Halbwarinen verschaffte und ihm die Kraft gab, die Fesseln von sich zu lösen. 

Heriodon würde vermutlich lange darüber nachdenken, was geschehen war, denn offenbart hatte der Nauraka sich ihm nicht. Er hatte sich vor allem auf den Kampf konzentriert, auf den Angriff, und das Schwert. Rowarn hatte die Raserei ungehemmt aus sich hervorbrechen lassen.

Besiegen konnte er Heriodon trotzdem nicht. Ihm fehlten die magischen Kräfte dazu. Aber dennoch hatte er seinem Peiniger so sehr zugesetzt, dass er freigekommen war. Nun war er zurück in Farnheim und in Sicherheit. Noch einmal würde es Heriodon nicht gelingen, in diesen Frieden einzudringen. Vor allem würde er eine Weile brauchen, bis er sich vom Widerstand seines »Schülers« erholt hatte.

Aber was sollte Rowarn jetzt tun?

Nein, darüber konnte er heute nicht mehr nachdenken. Er war zu erschöpft, hatte zu Schlimmes durchlitten. Wer wusste, wann ihn der Schmerz wieder verließ. Zuerst brauchte er Stille und Einkehr in sich selbst. Dann würde er weitersehen.

Als er sich dazu entschieden hatte, kehrte er um. Im allerersten Frühdämmer erreichte Rowarn Haus Farnheim, das noch in tiefem Schlaf lag. Leise schlich er die Treppe hinauf in sein Zimmer – und prallte erschrocken zurück, als er Arlyn im Schaukelstuhl schlummern sah. Sie erwachte allerdings sofort, bevor er sich zurückziehen konnte, und stand auf.

»Warum hast du auf mich gewartet?«, fragte er herausfordernd. Er war übernächtigt, ausgezehrt von Schmerz und Angst und wollte allein sein. Traumlos schlafen, ein ganzes Jahr lang. Er brachte keine Höflichkeit mehr auf, konnte seinen Unwillen nicht verstecken, wollte niemanden sehen und sich erst recht nicht unterhalten.

»Du stellst seltsame Fragen«, erwiderte sie. »Noch habe ich dich nicht aus meiner Obhut entlassen, auch wenn du in diesem Haus wohnst.« Sie sah blass und müde aus.

»Es ist alles meine Schuld«, sagte Rowarn. »Ohne mich hätte Heriodon sich keinen Zutritt verschaffen können. Und dann die Kaninchen ...«

»Vergiss die Kaninchen, Rowarn, es geht nur um dich«, unterbrach sie. »Ich will von dir keine Entschuldigungen hören, sondern wann du dich behandeln lässt.«

»Werd ich nicht schon die ganze Zeit behandelt?«

»Du weißt genau, was ich meine. Wenn du so weitermachst, gefährdest du nicht nur dich, sondern auch die anderen. Insbesondere Noïrun, deinen Heermeister. Glaubst du ernsthaft, er lässt dich als seinen Ritter gegen Femris mitreiten, solange du so im Ungleichgewicht bist? Du öffnest dem Feind Tür und Tor.«

»Sonst noch was?«, fragte er gereizt.

»Rowarn, ich will dir helfen«, antwortete sie sanfter. »Wir alle wollen das. Wenn du es nur endlich zulassen würdest! Du bist auf dem falschen Weg.«

Nun hatte er genug. »Hat denn jeder nur gute Ratschläge für mich? Kann ich nicht einmal für mich allein sein und einfach das tun, was ich will? Habe ich kein Anrecht darauf, eigene Entscheidungen zu treffen?« Er wurde immer lauter, je länger er sprach. »Ich bin alt genug, für mich selbst zu sorgen! Noïrun tut das schon, seit er sechzehn oder siebzehn ist, und wieso muss das bei mir anders sein? So einfach, wie ihr euch das vorstellt, ist es nicht!«

»Wie du meinst«, sagte sie kühl. »Dann nimm auch die Folgen auf dich, die daraus erwachsen.« Leise schloss sie die Tür hinter sich, und trotzdem konnte er aus diesem ganz bestimmten Klick hören, wie zornig sie war.

Unglücklich sank er aufs Bett und vergrub den Kopf zwischen den Händen. Was ist nur in mich gefahren, Arlyn so anzuschreien? Ihr Vorwürfe zu machen? Das kann sie mir doch nie verzeihen!, dachte er verzweifelt. Ich kann nur zerstören, nichts aufbauen. Ich verletze meine Freunde und stoße sie vor den Kopf. Je mehr Anerkennung ich suche, desto schlimmer mache ich alles nur. Alles, was ich anfasse, geht schief. Arlyn hat recht, ich darf Noïrun keinesfalls weiter begleiten. Am besten ist es, ich verschwinde. Gehe weit weg, vor allem fort vom Tabernakel. Was immer der große Erenatar geplant haben mag, auch ein so mächtiges Wesen kann sich einmal täuschen.

Er war sehr müde, seine Glieder wie Blei. Kein Wunder, er hatte nicht geschlafen. Aber das konnte er auch unterwegs. Sobald er außer Sicht war, würde er sich tief im Wald ein Versteck suchen und dort ruhen. Hier jedenfalls wollte er keinen Augenblick länger bleiben. Deswegen würde er auch nicht Windstürmer mitnehmen, es würde zu lange dauern, ihn zu suchen, und es barg die Gefahr, dass jemand auf sein Verschwinden aufmerksam wurde. Bis seine Freunde merkten, dass er fort war, wollte er schon einen ausreichenden Vorsprung haben.

Hastig packte er zusammen, die Ritterfahne und das Wappenhemd ließ er zurück.

Rowarn öffnete die Tür und sicherte nach draußen. Nach wie vor rührte sich nichts, noch nicht einmal die Sonne blinzelte über den Horizont. Er schlich die Treppe genauso lautlos hinunter, wie er sich vor kurzem hinaufgestohlen hatte.

Draußen vor der Tür zögerte Rowarn noch einmal. Seine Augen wurden feucht, aber er schluckte die Tränen hinunter. Es war entschieden und vorbei. 

Rowarn schlug den Weg nach links in den Wald ein, mit großen, schnellen Schritten.