Kapitel 19

Der Graue


Also ist es doch eine Lüge gewesen: mein Leben. 

Rowarn lag einsam in seiner düsteren Zelle und grübelte ruhelos, ununterbrochen. Hier drin gab es nichts Lebendes außer ihm, keine Ablenkung, keinen Trost. Aber immerhin war es in dem Verlies weniger finster als in seiner Seele.

Ein Dämon war es also, der in ihm lauerte, der ihn unberechenbar und gefährlich machte. Wie hatte er nur glauben können, er sei ein Rithari? Diese blindwütige Raserei, die Besessenheit im Kampf, rührte nicht von einer Krankheit her, sondern von der Seite der Finsternis. Von ... Nachtfeuer, dem Mörder seiner Mutter. Dem Vertrauten von Femris. Dem Zwielichtgänger.

War es tatsächlich möglich, dass die Velerii nichts von dem Dämonenblut in ihm geahnt hatten? Warum hatten sie so sehr betont, dass Rowarn nicht der Zwiegespaltene sei? Behauptet, der Zwiegespaltene müsse ein Wesen besonderer Art sein, mit Eigenschaften, die er nicht besäße? 

Wenn es doch nur so wäre!

Erneut drohten ihn die Gefühle zu überwältigen. Er lag starr und knirschte mit den Zähnen. Er durfte sich nicht gehen lassen! 

Der Boden war hart, das dünne Strohlager bot kaum Bequemlichkeit. Rowarn schwitzte und fror abwechselnd, je nachdem, wie tief er sich in seine Gedanken verstrickte. Immer nur kurz konnte er sich in den Schlaf flüchten, bevor ihn die schmerzenden Knochen weckten, wenn sie umgebettet werden wollten.

Es gab Dämonen, die sich für den Regenbogen entschieden hatten, so wie Fashirh. Rowarn respektierte den Roten Dämon, aber er fürchtete ihn auch als fremdes Wesen, mit dem er nie vertraut sein würde. Sie waren zu verschieden, und Rowarn wollte nicht im Entferntesten so sein wie Fashirh. Oder irgendein anderer Dämon. Erst recht nicht wie Nachtfeuer.

Tränen brannten heiß auf seinen Wangen, und sein Innerstes stand in Flammen. Hätte ich doch nie gefragt ... aber wie hätte ich ahnen sollen ... dass die Wahrheit so unendlich grausam sein kann! Er hatte Rache geschworen am Mörder seiner Mutter, und nun musste er sich gegen den eigenen Vater stellen. Ob Nachtfeuer ahnte, dass er einen Sohn hatte? Wie war es überhaupt dazu gekommen?

An dieser Stelle seiner Überlegungen konnte Rowarn sich nicht mehr beherrschen. Er sprang auf, drängte sich in die düstere Ecke neben dem schmalen Sichtloch und übergab sich schluchzend. Es war unvorstellbar für ihn, wie es damals zu seiner Zeugung gekommen sein mochte. Seine Mutter und der Mörder ... nein. Was mochte er ihr angetan haben ... wie hatte sie es überhaupt ertragen können, Rowarn in sich heranwachsen zu spüren ...

Hör auf, dachte er, während er weiter würgte. Hör auf, sonst wirst du wahnsinnig. Denk nicht daran. Nicht daran!

Manchmal versuchte er, sich mit einer Art trockenem Humor zu trösten: Kein Wunder, dass ich der Zwiegespaltene bin. Das muss einen doch in Stücke reißen. Doch diese Art Witz war nie seine Stärke gewesen, und er fühlte sich dadurch nicht im Geringsten besser.

Rowarn hegte so gut wie keinen Zweifel mehr daran, dass er nun doch der Zwiegespaltene war. Er war ein wahrhaftiger Sohn von Regenbogen und Finsternis, beide Seiten vereinten sich in ihm, konnten jedoch keine wahre EINHEIT mehr bilden. Der Ewige Krieg war entstanden, weil die EINHEIT zerbrochen war und die GETRENNTEN erkannten, dass sie nie wieder zusammenkommen konnten. Rowarn war damit zweigeteilt. Der Zwiegespaltene! Der Gedanke ließ sich nicht verdrängen, und nichts konnte seinen Magen beruhigen, ob sich etwas darin befand oder nicht. Schon immer hatte Rowarn damit zu kämpfen gehabt, sich bei starker Erregung übergeben zu müssen. Jetzt waren die Anfälle schlimmer denn je, und Rowarn versank tiefer und tiefer in Selbstmitleid, Ekel und Grauen vor sich selbst.



Rowarn wusste nicht, wie viel Zeit seit seiner Gefangennahme vergangen war. Seine Welt war nahezu dunkel und sehr klein. Drei Schritte lang, zweieinhalb Schritte breit. Kaum Möglichkeit zur Bewegung.

Auch seine Gedanken kamen nicht voran, sie drehten sich beständig im Kreis, bis ihm schwindlig wurde. Einen Moment lang hielt er dann inne, und alles kam zur Ruhe. Bis es wieder von vorn begann.

Endlich lag er doch einmal still. Begrüßte die Gefangenschaft und die Dunkelheit um sich. Monster wie er gehörten eingesperrt, vom Licht ferngehalten, sodass sie nicht einmal sich selbst sehen konnten. Er hielt die Augen die meiste Zeit geschlossen, damit er sein eigenes Schimmern nicht wahrnahm. Das naurakische Erbe in ihm. Alles das, was gut war. Und für ihn jetzt unerträglich.

Hatte Ylwa deswegen so geweint, als sie ihr Neugeborenes bei den Velerii ließ? Hatte sie bereits gewusst, dass ihr Dämonenkind der Zwiegespaltene war, der allein das Tabernakel nutzen konnte? War Rowarn deswegen am Leben geblieben, weil er die Aufgabe erfüllen musste?

Ich verstehe es einfach nicht, dachte er ein ums andere Mal, wenn er den Gedankenkreis von neuem begann. Warum weiß ich dann nichts? Habe nie gespürt, dass ich zwei Seiten in mir trage? Fühlte mich auch nie mit dem Tabernakel verbunden, nicht einmal in Ardig Hall, als ich dem Splitter ganz nahe war? Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie dieses Ding aussieht, oder was es bewirken soll, wenn die Bruchstücke wieder zusammenkommen.

Auch in seinem Inneren hatte sich nichts verändert, seitdem er seine Herkunft kannte. Es hatte nichts bewirkt oder Verborgenes in ihm erweckt. Außer Selbsthass.

Und trotzdem bin ich ... Rowarn, flüchtete er sich in Trotz, wenn er die Kraft dazu aufbrachte. Der Rowarn, der glücklich in Inniu aufgewachsen ist, liebevoll von den Velerii erzogen, die nichts Böses in ihrem Ziehsohn sahen. So sehr kann sich niemand verstellen. Ich hätte es irgendwann gemerkt, wenn sie mir gegenüber Abscheu empfunden hätten. Meine Muhmen haben mich nicht belogen. Sie haben es wirklich nicht gewusst. Ich wünschte, sie würden es auch nie erfahren ... was müssten sie dann von mir denken ...

Eine winzige Möglichkeit gab es noch, dass alles nur ein böser Alptraum war, der sich eines Tages einfach auflöste: nämlich dass Angmor, der Visionenritter, sich täuschte. Rowarn hatte ihm nach dem Kampf gegen Femris zu viel zugemutet, ihn zu stark aufgerüttelt, dass es ihn seine letzten Kräfte gekostet hatte. Womöglich hatte Angmor die Bilder zu verschwommen gesehen und daher falsch gedeutet. Das blieb als letzter Rest Hoffnung, an den Rowarn sich klammerte, um nicht endgültig zu verzweifeln.



Hin und wieder wurde er in seinen Gedankenkreisen unterbrochen. In annähernd regelmäßigen Abständen, soweit Rowarn es einschätzen konnte, bekam er durch eine Klappe etwas zu essen hereingeschoben, einen Krug mit sauberem Wasser und einen Teller mit etwas Fleisch und Brot und getrockneten Früchten. Man wollte ihn demnach bei Kräften und gesund erhalten, vermutlich bis entschieden war, was mit ihm geschehen sollte.

Irgendwann zählte Rowarn mit und schätzte auch, wie viele Verteilungen er bis dahin versäumt hatte. Es war an der Zeit, sich wieder um die Welt dort draußen zu kümmern. Er konnte nicht für alle Zeiten klagend daliegen und sich im Selbstmitleid ertränken. Eines Tages musste es weitergehen. 

Er war am Leben, und Angmor hoffentlich auch. Also sollte Rowarn als Erstes einen Weg finden, hier herauszukommen. Der Kampf war noch lange nicht vorbei – jetzt erst recht nicht. Das schuldete er Angmor, der nur seinetwegen in Gefangenschaft geraten war. Was aus Rowarn-dem-Monster wurde, konnte ihm egal sein. Aber der Visionenritter musste befreit werden. Er war der wichtigste Kämpfer für den Regenbogen.

Nach zwanzig Mahlzeiten, als Rowarn sich einigermaßen auf den Rhythmus eingestellt hatte, öffnete sich plötzlich die Tür zu seinem Verlies. »Mitkommen«, schnarrte die raue Stimme eines Warinen.

Rowarn stand auf und betrat blinzelnd den durch Fackeln erleuchteten Gang. Nun würde er endlich erfahren, wo er sich befand. Er war erst im Verlies aus der Bewusstlosigkeit erwacht, in die der Soldat Moneg ihn geschlagen hatte. Vielleicht hatte man ihm zusätzlich ein Mittel eingeflößt, um ihn länger ruhigzustellen, denn auch ein solch heftiger Schlag hätte ihn nicht länger als eine oder zwei Stunden außer Gefecht setzen dürfen. Aber es musste mehr, sehr viel mehr Zeit vergangen sein, denn rings um Ardig Hall gab es kein Gefangenenlager des Feindes. Also hatten sie ihn wahrscheinlich weiter Richtung Osten gebracht, vielleicht sogar bis jenseits des Goldenen Flusses, wo Rowarn noch nie gewesen war.

Wenn Moneg den Dubhani alles über Rowarn erzählt hatte, wussten sie von seiner unkontrollierbaren Raserei bei außergewöhnlicher Erregung, die ihm die Kräfte von mindestens vier starken Männern bescherte – Grund genug also, ihn während des Weges bewusstlos zu halten.

Moneg, diese krumme kleine Seele, die ihn nur aus Rache an den Feind verraten hatte! So war Rowarn in Gefangenschaft geraten, und dadurch auch Angmor, was niemals hätte geschehen dürfen.

Insgesamt vier Warinen erwarteten ihn draußen vor der Zelle, die breiten, kurzen Schwerter im Anschlag, und nahmen Rowarn in die Mitte. Wäre er ein normaler Gefangener gewesen, nicht der Zwiegespaltene, hätte er jetzt einen gewissen Stolz empfunden, so stark bewacht zu werden. Denn er wog ein ganzes Stück weniger als ein Warine und war sehr viel jünger als diese gestandenen Soldaten. Einst waren sie Zwerge gewesen, die einen Bund mit Dämonen eingegangen waren und nun deren Lebensessenz in sich trugen. Das machte sie zu langlebigen, gefährlichen Geschöpfen, die nur für den Kampf lebten.

Es folgte ein kurzes Wegstück, wobei sie an einer Reihe von ähnlichen Türen wie der seinen vorbeikamen. Dann trat Rowarn aus dem Felsen hinaus in eine tiefe, weite Schlucht mit hohen Steilwänden ringsum und einem Graben in der Mitte.

Es war früher Morgen, ein paar schräge Sonnenstrahlen schafften es bereits, die gegenüberliegenden Felskanten zu erhellen. Ein tiefblauer Himmel spannte sich über der Schlucht. Rowarn sah Felsbauten, die ins Gestein geschlagen worden waren, und weitere vergitterte Verliese, Vorratslager und viele höhlenartige Eingänge zu Unterkünften. Es herrschte geschäftiges Treiben, wie in jedem Heerlager. Der Unterschied zu Ardig Hall lag nur darin, dass hier hauptsächlich Warinen umherliefen, einige Menschen und sehr wenige Zwerge. Und an einer hohen Stange wehte das Banner von Femris: das geborstene Tabernakel, dessen sieben Splitter nahe zusammenrückten, in Rot und Gold auf schwarzem Grund.

Allerdings waren auch die Geräusche anders. Im Lager von Ardig Hall war ein stetes Stimmengeschwirr zu hören gewesen, viel Gelächter und häufig Gesang, auch tagsüber bei der Arbeit. Hier aber wurde nur wenig gesprochen, hauptsächlich hallten Befehle von den Felsen wider.

Rowarn wurde zu einem der Felshäuser geführt, und unterwegs sah er weitere Gefangene von Ardig Hall. Sie trugen Halsringe, von denen Ketten zu Armen und Beinen herabführten. Die Ketten ließen gerade so viel Bewegungsfreiheit, dass die Gefesselten für Lasten und andere niedere Arbeiten eingesetzt werden konnten. Die Gefangenen wirkten niedergeschlagen und zugleich merkwürdig teilnahmslos, aber ausreichend ernährt. Ihre Bewacher, die überall postiert waren, trugen dreischwänzige Peitschen mit Dornen am Ende, aber sie setzten sie nicht ein. Sie waren nicht einmal besonders aufmerksam. 

Den einen oder anderen der Gefangenen kannte Rowarn flüchtig, aber es blickte niemand zu ihm. Er war froh, dass keiner seiner Freunde darunter war.

Vor der Tür zum Felsgebäude waren zwei bullige Menschen postiert. Einer der Wachtposten öffnete und bedeutete Rowarn, einzutreten.

Der Raum, durch Felslöcher mit Tageslicht erhellt, war schmucklos. Auf einem Arbeitstisch lagen Schriftrollen und Ledereinbände verstreut, ein Stuhl stand davor und ein großer Lehnstuhl dahinter. Darauf saß der Mann in der grauen Rüstung, den Rowarn kurz nach dem Fall von Ardig Hall das erste Mal erblickt hatte, in Angmors Zelt.

Er hatte den Helm abgenommen, und Rowarn sah das grobschlächtige Gesicht eines Warinen, das aber zugleich erstaunlich menschenähnliche Züge aufwies. Auch der Körperbau des Mannes ähnelte mehr dem eines außergewöhnlich starken, mittelgroßen Menschen. Ein Mischling, wie es aussah. 

So wie Rowarn. Er spürte, wie sich gleich wieder sein Magen umdrehte, aber noch hatte er sich in der Gewalt.

»Nimm Platz«, forderte der Mann ihn auf, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Er setzte gerade mit seinem Ring Siegel auf mehrere Schriftstücke.

Rowarn kam der Aufforderung schweigend nach. Der Stuhl hatte nur eine sehr kurze Rückenlehne, die kein bequemes Sitzen gestattete, und er war niedriger als der Lehnstuhl gegenüber. Kaltes Schweigen herrschte im Raum, nur ab und zu zischte es leise, wenn das über die Kerzenflamme gehaltene Wachs zu heiß wurde und zu brennen anfing.

Der junge Nauraka rührte sich die ganze Zeit nicht und saß, so weit es möglich war, in entspannter Haltung. Um sich abzulenken, zählte er die kleinen Schatten an der grob strukturierten Wand, die vor dem Licht herwanderten.

Schließlich wandte der Mann in der grauen Rüstung Rowarn die volle Aufmerksamkeit zu. »Ich bin Heriodon«, stellte er sich mit rauer Stimme vor. »General und neuer Heermeister von Femris dem Unsterblichen.«

Rowarn blieb unbewegt.

»Du bist der Knappe des Fürsten Noïrun«, fuhr der General nach einer Weile fort.

Rowarn korrigierte ihn nicht. Wenn Heriodon nur über diese Information verfügte, umso besser. Moneg hatte wahrscheinlich die beschämende Wahrheit, dass Rowarn schon nach kurzer Zeit zum Ritter geschlagen worden war, nicht über die Lippen gebracht. Moneg der Verräter, der Rowarn während der Ausbildung so lange geschmäht hatte, bis es dem jungen Nauraka zu viel geworden war. Sein Temperament ... nein: Der dämonische Teil in Rowarn hatte die Kontrolle übernommen und Moneg beinahe umgebracht. Das und die Rückstufung zum einfachen Fußsoldaten hatte der Mann Rowarn nie verziehen. Dass sein Hass allerdings so tief verwurzelt sein könnte, deswegen Verrat an Ardig Hall zu üben und nicht nur Rowarn, sondern auch den Visionenritter an den Feind auszuliefern, hätte Rowarn niemals geglaubt.

»Stehst du treu zu deinem Herrn?«, wollte der Heermeister wissen.

»Natürlich«, antwortete Rowarn stolz. »Ihr könnt mich foltern, so viel Ihr wollt, ich werde Euch nichts über ihn verraten, noch über irgendeinen anderen.«

Heriodon lächelte leise. »Ah, dieses Pathos erinnert mich an einen anderen leidenschaftlichen jungen Mann. Mutig, trotzig und furchtlos stürmte er vorwärts, wo selbst Dämonen schaudernd wichen. Ganz so wie du, mit demselben Feuer in den Augen. Ich glaube dir. Eine Folter erübrigt sich also, schon weil ihr die Schlacht verloren habt, und damit auch Ardig Hall, sodass es derzeit kaum etwas gibt, was du mir verraten kannst.«

»Was habt Ihr stattdessen mit mir vor?«, wollte Rowarn wissen.

»Du wirst mein Knappe«, verkündete der graue Mann prompt. »Ich habe Verwendung für dich.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Du kannst dich weigern, du kannst versuchen zu fliehen, und wirst am Ende doch nur feststellen, dass beides sinnlos ist.« Heriodon pfiff leise, und Rowarn lief es eiskalt den Rücken hinunter, als er ein Zischen hörte. Die kaum verheilte Narbe seiner rechten Hand schmerzte plötzlich.

Eine schillernde Federschlange schwebte aus dem Schatten eines Mauervorsprungs heran und kreiste langsam um ihren Herrn.

»Ihr ...«, stieß Rowarn heiser hervor. »Ihr habt damals den Chalumi befohlen, meinen Fürsten zu töten.«

»Leider mit mäßigem Erfolg«, bemerkte Heriodon, und sein Lächeln vertiefte sich. Umso kälter wurde es im Raum. »Du warst es, nicht wahr? Du hast ihn gerettet. Leugne es nicht, die Chalumi wittert das Gift in dir.«

»Welches Gift ...«

»Du hast dich soeben verraten. Die kleine Narbe an deiner Hand, die du gerade reibst, stammt von einem Chalumi-Biss. Du hast dein Leben einem Wunder zu verdanken, und einer großen Heilkunst. Wer das getan hat – so jemanden könnte ich in meinem Heer gut brauchen!«

»Damit kann ich Euch nicht dienen«, versetzte Rowarn kühl. »Ich war damals im Fieber und kann mich an nichts mehr erinnern.«

»Selbstverständlich nicht«, stimmte Heriodon zu. Sein Tonfall machte deutlich, dass er kein Wort glaubte. »Darauf kommen wir später einmal zurück. Jedenfalls hat derjenige dich geheilt, Junge, was kaum möglich scheint, und das Gift neutralisiert. Es kann dir nicht mehr schaden. Trotzdem trägst du es noch im Leib. Die Chalumi können es riechen. Es dauert Jahre, bis das Gift vollends ausgeschieden ist.«

Rowarns Selbstbewusstsein schmolz dahin. Er spürte feine Schweißperlen auf der Stirn. Dieser Mann war überaus gefährlich. Er kämpfte und tötete nicht einfach, er war ein Stratege, plante jeden Schritt, hatte genauen Überblick. Er war wie ... die dunkle Seite Noïruns.

Heriodon fuhr fort: »Die Chalumi wissen immer, wo du bist. Du kannst dich deshalb überall frei bewegen, ich habe nichts dagegen. Als mein Knappe musst du das schließlich auch.«

»Ich bin nicht Euer Knappe«, sagte Rowarn leise. »Ich bin Euer Gefangener.«

»Heute magst du es so bezeichnen, und morgen anders«, bemerkte Heriodon gleichmütig. »Ich werde dein Lehrmeister sein, denn es gibt noch viel zu lernen für dich.«

Rowarn setzte sich gerade hin. »Nicht an diesem Ort.«

»Das sagst du, ohne dies hier zu kennen?« Heriodon beugte sich vor und faltete die Hände. »Was weißt du Grünschnabel denn von Femris? Wie lange bist du schon im Heer, hm? Einen Mondwechsel? Zwei?« Er schüttelte leicht den Kopf. »Du maßt dir ein Urteil an über etwas, von dem du nicht die geringste Ahnung hast. Du hast uns lediglich aus der Ferne gesehen und weißt nur das, was man dir eingeflüstert hat. Wenn du eines Tages ein guter Ritter sein willst, solltest du auch bereit sein, beide Seiten kennenzulernen, und zwar vorbehaltlos. Du kannst nichts beurteilen, von dem du nur eine Seite kennst.«

Rowarn musste einräumen, dass an diesen Worten etwas dran war. Um den Feind besiegen zu können, musste er ihn kennen. Dies war die Gelegenheit dazu. Er würde sich demnach fügen und alles aufsaugen wie ein Schwamm. »Findet Ihr niemanden mehr zum Anheuern, dass Ihr mich bekehren wollt?«

»Jeder ist uns wichtig, der Talent und Einsatzbereitschaft zeigt«, sagte Heriodon. »Es wäre Verschwendung kostbaren Materials, dich zu erschlagen oder einzusperren. Das gilt für die meisten Soldaten Ardig Halls, und natürlich erst recht für den Visionenritter.«

Nun konnte Rowarn seine Gefühle kaum mehr verbergen. »Wie ... geht es ihm?«

»Gut, selbstverständlich. Ich werde ihn Femris übergeben, sobald dieser uns nach Dubhan ruft. Der Unsterbliche wird sich außerordentlich freuen, dass wir seiner endlich habhaft geworden sind, nach der langen Zeit.« Der graue Mann grinste. »Was hast du da eigentlich gemacht, an seiner Seite, in der Kleidung eines Ritters?«

»Ich hatte den Auftrag, ihn zu schützen«, murmelte Rowarn. »Ich habe versagt. Mein Fürst wird mich in Schande davonjagen.«

»Ja, dein Fürst täte gut daran, dich maßzuregeln für dieses Versagen. Aber er wird keine Gelegenheit mehr dazu bekommen. Ich dulde allerdings ebenfalls kein Versagen, und wenn ich unzufrieden bin, setzt es Stockschläge oder Peitschenhiebe, mein junger Held. Unter meiner Führung wird nicht gefaulenzt. Im Gegenzug wirst du viel lernen. Und bald wirst du das Banner des Unsterblichen mit Stolz tragen.«

»Niemals!« Rowarn merkte, wie hohl und leer sein Schrei verhallte. Er machte sich lächerlich durch seine Unbeherrschtheit. Es klang fast so, als habe er Angst oder wäre unsicher. Dabei war er überzeugt – doch musste er sich deswegen verteidigen?

»Verlass dich drauf. Du bist sehr jung und wankelmütig, wie alle deines Alters, und wenn du erst einmal die ganze Geschichte kennst, wirst du anders denken.« Heriodon erhob sich und näherte sich Rowarn. Seine felsgrauen Augen waren kalt wie ein nasser Stein im Herbst. »Und jetzt sag mir deinen Namen.«

Rowarn wollte es nicht, denn er wusste, dass er sich damit in die Gewalt des Generals begab. Er wäre dann offiziell sein Knappe, sein Untergebener, vor aller Welt. Mit dem Namen gewann der General die Herrschaft über den Gefangenen, wenn er ihn richtig zu benutzen verstand. Und daran zweifelte Rowarn nicht.

Doch er konnte auch nicht lügen, denn Moneg hatte Rowarns Namen sicher schon verraten. Es blieb ihm keine Wahl. Aber es fühlte sich an, als würde er sich selbst hergeben.

Gequält gab er preis: »Ich bin Rowarn.«

Täuschte er sich, oder zuckte da ein Muskel im sonst reglosen Gesicht des grauen Mannes? Hatte er den Namen doch nicht schon vorher gewusst? Aber was war daran auffällig? Für einen Moment fiel die Maske, und Rowarn sah ein Wesen, das älter als ein Mensch war. Mindestens ein Jahrhundert, wenn nicht mehr.

»Ein alter Name, das sagt mir sein Klang. Aber ich kann mich momentan nicht erinnern, wo ich ihn schon einmal gehört habe«, sagte Heriodon. »Jedenfalls ist es kein Name für einen Menschen.«

»Davon weiß ich nichts«, versetzte Rowarn, und es war nicht gelogen.

»Du hast recht, und es ist auch bedeutungslos«, stellte der Heermeister fest. »Dein Dienst beginnt nun. Lagermeister Gonarg wird dir alles Weitere sagen.«



Draußen wartete derselbe Warine auf Rowarn; zumindest glaubte er das. Es war nicht leicht für ihn, sie auseinanderzuhalten. »Mitkommen«, befahl der Soldat. Er führte den jungen Nauraka tiefer in den Fels hinein, in einen breiten Seitenweg der Schlucht, wo viele Höhlungen ins Gestein getrieben waren, teils untereinander verbunden. Ein großes Heerlager für die Dubhani. Rowarn war überrascht. Er hätte geglaubt, dass Femris seine Truppen bei sich untergebracht hätte. Doch das hier schien der Hauptsammelpunkt zu sein. Gut geschützt, wie es aussah.

Auf den größeren Freiflächen wurde eifrig geübt. Rowarn wagte nicht, sich vorzustellen, dass es noch mehr solcher Seitenschluchten gab. Andererseits war Femris’ zahlenmäßige Überlegenheit von den Truppen Ardig Halls zunichte gemacht worden; erst die Verstärkung hatte den Sieg erringen können. Aber das reichte bei weitem nicht, wenn Fürst Noïrun entkommen war und ein neues Heer aushob.

Kein Wunder, dass die Gefangenen »umerzogen« werden sollten: Der Unsterbliche brauchte dringend Nachschub. Und wenn er dafür dem Feind die eigenen Truppen entziehen konnte, umso besser.

Vielleicht gehöre ich hierher, dachte Rowarn niedergeschlagen. Noïrun hat einst zu mir gesagt, dass viel Dunkelheit in mir lauert. Er hat damals wohl schon geahnt, dass ich zur Hälfte der Finsternis entstamme.

Der Warine führte ihn zu einer der großen Höhlen, wo einige Soldaten zusammenstanden. »Ich bringe den neuen Knappen«, schnarrte er und zog sich zurück.

Einer der Männer drehte sich um. Er war ein Mensch. Mit einer Augenklappe. 

Ragon.



Rowarn erinnerte sich noch ganz genau an die erste Begegnung, als Olrig, Noïrun und er Ardig Hall erreichten und ein Reiter ihnen entgegengekommen war. Der Kriegskönig hatte ihn erfreut begrüßt, wie einen Freund. Ragon war einer der Berater des Heermeisters.

Doch auch er war ein Verräter. Ragon ... Gonarg ... natürlich. Wie viele Verräter hatte Femris noch bei ihnen eingeschleust? Wie lange schon? Kein Wunder, dass Ardig Hall verloren hatte! Der Unsterbliche hatte nur auf den Moment warten müssen, bis der magische Schutzwall zusammengebrochen war. Dann hatte er alle Trümpfe in der Hand!

Rowarn fühlte einen bitteren Geschmack im Mund. Er überlegte kurz, ob er auf den Verräter losgehen und ihn bespucken sollte. Aber wozu? Alles war verloren. Rowarn würde sich keine Blöße geben und Distanz wahren. So tun, als wäre er nicht wirklich hier. Nichts an sich heranlassen und nur an die Flucht denken.

»Ah, der junge Rowarn«, bemerkte Ragon, oder vielmehr Gonarg, wie er wirklich hieß. »Ich habe dich schon erwartet.«

»Das kann ich mir denken«, stieß Rowarn hervor. »Also, was soll ich tun?«

In dem Auge des Mannes blitzte etwas auf. »Ritterlicher Stolz und Würde«, grinste er. »Gut.« Er winkte Rowarn, mitzukommen. »Du kannst bei den Pferden anfangen.« Es ging ein gutes Stück die Schlucht hinter. »Du musst übrigens gar nicht erst an Flucht denken«, fuhr Gonarg unterwegs fort. »Dieses Seitental endet an einer unüberwindlichen Steilwand. Und die Chalumi sind allgegenwärtig.« Er zeigte Rowarn, wo die Pferde untergebracht waren; über hundert, und überall Schmutz und Verwahrlosung. »Die Warinen kümmern sich nicht sonderlich um ihre Reittiere, doch nun bist du ja da. Bring sie auf Hochglanz, und die erbeuteten von Ardig Hall dazu.«

Rowarn nickte schweigend. Harte Arbeit machte ihm nichts. Sie lenkte ab. Und die armen Tiere konnten schließlich nichts dafür.

»Hier wird es bedeutend länger dauern, bis du ein Ritter werden kannst«, sagte Gonarg spöttisch. »Heriodon ist in dieser Hinsicht sehr viel anspruchsvoller als der lächerliche Heermeister von Ardig Hall. Ich glaube ja nicht einmal, dass du zum Knappen taugst, aber vermutlich will er Noïrun persönlich einen Stachel ins Fleisch treiben. Und selbst aus kümmerlichen Taugenichtsen wie dir kann Heriodon passable Krieger formen. Wenn er erst mit dir fertig ist, bist du Noïruns größter Feind.«

»Niemals«, flüsterte Rowarn.

Gonarg grinste. »Der General überzeugt jeden. Und für dich kann es nur von Vorteil sein, dem unheilvollen Einfluss von Noïrun zu entkommen. Sein Interesse an dir ist krank.«

In Rowarns Augen trat ein helles Glühen. »Komm mir niemals zu nahe«, knurrte er leise. »Und sei besser immer bewaffnet.«

»Dein Temperament wird uns sehr von Nutzen sein. Nun tob dich bei der Arbeit aus. Ein Warine wird dich beaufsichtigen, und wenn du trödelst, setzt es Hiebe.«

Rowarn hatte nicht die Absicht zu trödeln. Er würde fleißig sein, Auge und Ohr offenhalten und alles in Erfahrung bringen, was er für eine Flucht brauchte. Die Chalumi fürchtete er nicht, er hatte sie schon einmal besiegt. Und wahrscheinlich durften sie ihn nicht töten, selbst wenn er floh. Der Heermeister würde sich kaum so viel Mühe mit ihm geben, um ihn dann kurzerhand von seinen Wächtern umbringen zu lassen.

Als der Nauraka die Höhle betrat, in der die Pferde dicht an dicht angebunden waren, hörte er über alle Laute hinweg ein helles Wiehern, und die Tränen schossen ihm in die Augen. Windstürmer! Der kleine Falbe war hier! Auf einmal fühlte Rowarn sich nicht mehr so einsam und verlassen. Windstürmer erkannte ihn immer noch, und das Tier kümmerte es nicht, dass sein Herr zur Hälfte Dämon war.



Nachts wurde Rowarn wieder in seine Zelle eingesperrt. Er war an diesem Abend so müde, dass er kaum etwas zu sich nehmen konnte. Nicht einmal zu Gedanken war er mehr fähig. Das Strohlager wirkte einladend, und Rowarn fiel in einen bleiernen Schlaf, kaum dass er den Kopf einigermaßen bequem gebettet hatte.

Die Tage vergingen von jetzt an schnell. Nach einiger Zeit durfte Rowarn in eine vergitterte Zelle umziehen, wo er freie Sicht auf die Schlucht und den tiefen Graben hatte. Er wurde nie schlecht behandelt, auch nicht geschlagen, obwohl jede Menge Warinen mit Stöcken, Keulen und Peitschen umherliefen. Zu essen gab es genug; es war vom Geschmack her nicht unbedingt abwechslungsreich, aber frisch und nahrhaft. Auch seine Kleidung wurde regelmäßig gereinigt, und er bekam alle paar Tage Gelegenheit, sich gründlich zu waschen. 

Zusätzlich zu seinem täglichen Knappendienst bei Heriodon zog ihn Gonarg zu verschiedenen Arbeiten heran, die allesamt unangenehm waren, doch Rowarn beklagte sich nie. Er verrichtete schweigend alles und beobachtete unablässig die Umgebung. Den Wechsel der Wachen, die Stärke der Truppen, ihre Art zu kämpfen. Nichts entging ihm. 

Da er sich unauffällig verhielt, gewöhnten sich die Dubhani bald an ihn und fingen an, gutmütig zu scherzen, wenn er wieder einmal unter der Last eines Wassertrogs zusammengebrochen war oder beim Schmied in der Gluthitze der Esse neben dem Blasebalg fast dahinschmolz. Rowarn machte die schwere Arbeit nichts aus. Er blieb dadurch in Übung und bewahrte seine Kräfte. Auf die Scherze ging er nicht ein, manchmal lächelte er sogar dazu, und machte weiter.

Es ging ihm erstaunlich gut als Gefangener, und er konnte feststellen, dass auch die anderen angemessen behandelt wurden. Die »Umerziehung« begann also sofort. Bald schon wurden allen die Ketten abgenommen, und sie wurden in Sammelkerkern untergebracht. Rowarn bekam Gelegenheit, mit dem einen oder anderen ein Wort zu wechseln, doch er gab bald auf. Was auch immer mit den Soldaten geschehen war, sie dachten nicht an Flucht. Es schien, als hätten sie sich aufgegeben. Der junge Nauraka hätte sie gern aufgerüttelt, aber er wollte die Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf sich lenken.

»Du bist ein ziemlich kluger Junge«, bemerkte Heriodon einmal, als er an der Schmiede vorbeikam, wo Rowarn neben seinen Tätigkeiten für den Heermeister hauptsächlich eingesetzt wurde. »Aber das ist erst der Anfang.«

»Ihr seid auch sehr schlau«, flüsterte Rowarn für sich. »Und das ist noch lange nicht das Ende.«



Die Zeit verging, und es bot sich keine Gelegenheit zur Flucht. Rowarn wusste immer noch nicht, wo in Valia sich die Schlucht befand und welche Ausgänge es gab. Immerhin zeigten die Warinen ab und zu am Abend, dass Leben in ihnen steckte, wenn sie gemeinsam bei den Feuern aßen und hin und wieder ein wenig (wenngleich für Rowarns Geschmack auch seltsame) Musik machten. Da konnte es sogar vorkommen, dass sie sich auf ihre Art amüsierten und lachten. Manchmal war Rowarn bei der Essensverteilung dabei, doch es ergab sich nie die Möglichkeit, mit einem Soldaten ins Gespräch zu kommen, um Informationen zu erhalten.

Nachdem Rowarn eines Mittags die Knappendienste erledigt hatte, wollte Heriodon noch mit ihm reden. Gonarg stand neben ihm, und Rowarns Augen sprühten vor Hass. 

Heriodon entging dies nicht, und er lächelte fein. »Du scheinst meinen Lagermeister nicht recht zu mögen.«

»Ich hätte nicht erwartet, dass Ihr einem Verräter Euer Vertrauen schenkt.«

Der Einäugige grinste. »Wahrscheinlich ist genau das der Grund. Der Heermeister weiß, woran er bei mir ist.«

»Ja, Gonarg hat mir ausgezeichnete Dienste geleistet. Nur Fürst Noïrun konnte er nach der Schlacht leider nicht gefangen nehmen.« Heriodon trank bedächtig aus seinem Pokal.

»Der Mann ist glatt wie ein Aal, niemand hat ihn je zu fassen gekriegt«, bemerkte Gonarg. »Euren Chalumi ist er auch entkommen.«

»Weil ich sie zurückrief«, erwiderte Heriodon. »Sie wurden anderswo gebraucht.« Er nickte Gonarg zu. »Du kannst dich zurückziehen.«

Rowarn blickte starr geradeaus, als Gonarg an ihm vorbei nach draußen ging. Heriodon wies auf den Stuhl, und er setzte sich.

»Sag mir, welchen Eindruck hast du von diesem Lager?«, kam der General ohne Umschweife zur Sache.

Rowarn musste zugeben, dass bei den Soldaten alles in tadellosem Zustand war und strenge Disziplin herrschte. »Es gibt nur wenige, die brutal oder grausam wirken. Die Gefangenen werden gut behandelt, nicht schlechter als ich.«

»Also kaum ein Unterschied zu Ardig Hall, nicht wahr?«

»Ja. Ich weiß, was Ihr damit bezweckt, nämlich dass unsere Leute zu Euch überlaufen. Aber das wird Euch nicht gelingen. Die Bindung an Ardig Hall besteht aus mehr als nur Söldnertum. Zumindest bei den meisten Soldaten. Für Verräter wie Gonarg oder Moneg kann ich nicht sprechen.«

»Hast du dir je Gedanken darüber gemacht, dass Femris im Recht sein könnte?«, fragte Heriodon.

Rowarn schüttelte den Kopf. »Das ist er nicht, nach allem, was ich hörte. Er hat kein Anrecht auf das Tabernakel.«

»Die Nauraka auch nicht.«

»Das ist richtig. Sie haben das Tabernakel jedoch nur gehütet.«

»Willst du ernsthaft behaupten, die Nauraka hätten das Tabernakel nicht genutzt, wären sie dazu in der Lage gewesen?« Ein Lauern lag in der Stimme des Halbwarinen.

Rowarn zögerte. »Nein«, gab er dann ehrlich zu. »Aber das ändert nichts daran, dass Femris im Unrecht ist. Das Tabernakel ist nicht für ihn bestimmt.«

»Nun, dann würde es doch wohl kaum schaden, wenn er es zusammensetzt? Warum warten wir nicht einfach ab, was dann passiert?« Heriodon legte die Fingerspitzen aneinander. »Der Krieg wurde von Ardig Hall begonnen, nicht von Femris.«

»Das kann man sehen, wie man will«, erwiderte Rowarn. »Femris hat eine Forderung gestellt, die ihm verwehrt wurde. Sie mit Waffengewalt zu wiederholen, kann kaum der richtige Weg sein. Noch dazu, da er keinen Anspruch auf das Tabernakel hatte.«

»Was berechtigt die Nauraka dazu, sich als Hüter zu bestimmen? Weswegen sollte Femris verwehrt werden, dasselbe zu tun?«

»Aus welchem Grund sollte Femris die Aufgabe als Hüter übernehmen wollen?«

Heriodons graue Augen glitzerten wie ein mit Reif überzogener Fels im Mondlicht. »Wegen des Gleichgewichts, junger Rowarn.«

Unruhig bewegte Rowarn sich auf dem Stuhl. »Ich habe davon gehört, dass es ins Schwanken geraten sein soll.«

»Die Finsternis ist das Gleichgewicht«, versetzte Heriodon leise. »Femris ist dazu berufen worden, den Ausgleich wiederherzustellen. Die Nauraka haben durch ihre Unbedachtheit alles in Gefahr gebracht.«

»Oder genau das Richtige getan«, versetzte Rowarn.

»Und da ist überhaupt kein Zweifel in dir?«

Rowarn wusste, dass er jetzt einen Fehler machte, als er dem Blick des Generals auswich. Aber er wollte nicht, dass Heriodon in seinen Augen las und dadurch erkannte, welcher Kampf in ihm tobte. Wie viel Angst er hatte. »Die Finsternis ist mein Feind«, flüsterte er.

»Und genau das ist dein großer Irrtum«, sagte Heriodon unerwartet sanft. »Die Finsternis ist deine Lebenskraft, dein Gleichgewicht. Ohne sie kannst du nicht existieren. Niemand kann ohne die Finsternis leben. Harmonie allein genügt nicht. Wenn der Regenbogen im Ewigen Krieg siegt, ist das Träumende Universum verloren. Und mit ihm alles, was sich darin befindet. Es löst sich auf, als wäre es nie gewesen, wenn Ishtru erwacht.«

»Eines Tages werden wir das nicht mehr verhindern können.« Rowarns Gesicht verzerrte sich gequält. Diese Unterhaltung wühlte zu viel in ihm auf. »Solche Diskurse führen zu nichts. Ihr mögt glauben, dass es so ist, doch der Ewige Krieg ist weit von uns entfernt. Ich aber bin sicher, dass Femris Waldsee in den Untergang treibt, wenn wir ihn gewähren lassen und das Tabernakel in seine Hände gerät.« Nun erst richtete er seine Augen wieder auf Heriodon. »Habt Ihr je von dem Schwarzen Annatai Tar’meso gehört?«

Der General musterte ihn prüfend. »Worauf willst du hinaus?«

»Er ist ein Mächtiger«, antwortete Rowarn, »der im Dienst der Finsternis steht. Es heißt, dass selbst Dämonen ihn fürchten. Es heißt auch, dass Femris ihm mit dem Tabernakel womöglich den Weg bereiten wird, um Waldsee zu einer Bastion der Finsternis zu machen.«

Heriodon sprang auf. Dann kam er um den Tisch, seine Hand schoss vor und schloss sich wie eine eiserne Klaue um Rowarns Nacken und drückte unerbittlich zu. »Was redest du da?«, zischte er. »Was weiß ein Halbwüchsiger wie du von solchen Dingen?«

Rowarn ächzte vor Schmerz, er stand kurz vor einer Ohnmacht und bekam kaum mehr Luft. Heriodon wusste ganz genau, wo die Schmerzzonen lagen. Er konnte Qualen bereiten, ohne die Haut anzuritzen oder grausige Instrumente einzusetzen. Das Wasser lief Rowarn aus Augen, Mund und Nase. Er konnte nicht schreien, und die Augen quollen ihm aus den Höhlen.

»Wer bist du?«, schrie der General.

Fast war Rowarn so weit, die Wahrheit zu sagen. Seine Schläfen pochten, seine Füße begannen zu zappeln, je länger der Schmerz andauerte. Doch stattdessen stieß er wimmernd hervor: »Ich werde das nicht zulassen ... Ich bin ein Diener von Ardig Hall und habe mich verpflichtet ...«

Heriodon ließ ihn los, und Rowarn stürzte vom Stuhl. Krämpfe schüttelten ihn, und er lag zuckend und hilflos da, ohne Kontrolle über seinen Körper. Nicht einmal nach dem Biss der Chalumi und der Behandlung ohne Betäubung hatte er solche Schmerzen empfunden. 

Der General lehnte sich an den Tisch. »Was will Noïrun von dir?«

»Was wollt Ihr von mir?«, schluchzte Rowarn. Er wollte sich aufrichten, aber seine Arme waren wie gelähmt. Von seinem Nacken her wurde er langsam taub. Wie von Ferne hörte er Heriodon befehlen: »Schafft ihn weg.«

Zwei Warinen packten jeweils einen Arm und schleiften ihn nach draußen, den ganzen Weg bis zu seinem Verlies. Sie warfen ihn hinein. Klirrend fiel die Gittertür ins Schloss und wurde verriegelt.



Die Nacht war dunkler als alles, was Rowarn zuvor erlebt hatte. Nicht einmal sein eigener Schimmer konnte sie erhellen. Von draußen drangen keine Geräusche herein, er sah auch nicht den üblichen Feuerschein. Es war völlig still.

Was ist mit mir?, dachte er ängstlich. Bin ich blind und taub geworden? Er tastete sich über den Boden; sein Körper schmerzte immer noch. Er begriff nicht, was Heriodon mit all dem bezweckte. Es gab doch sicher andere Möglichkeiten, ihn in Dienst zu pressen.

Als er an eine Wand stieß, drückte Rowarn sich dagegen und zog die Beine an. Er rollte sich zusammen, hielt sich an sich selbst fest. Er darf mich nicht schwankend machen, dachte er verzweifelt. Nichts von dem, was Heriodon zu mir sagte, darf mich berühren. Alle Anhänger von Ardig Hall haben aus Überzeugung gehandelt, und es kann nicht sein, dass alle irren. Noïrun für die Menschen, Olrig für die Zwerge, Tamron für die Unsterblichen. Femris ist der Feind, er muss bekämpft werden. Er hat meine Mutter ermordet ... ermorden lassen, durch einen Dämon, der mein Vater ist. 

Hätte Nachtfeuer es getan, wenn er davon gewusst hätte? Was wird aus mir, wenn er es jetzt erfährt? Nachtfeuer konnte es nicht wissen. Rowarns Leben wäre wahrscheinlich keine Kupfermünze mehr wert. Im besten Fall würde der Dämon ihn gleich töten. Doch womöglich hatte Femris inzwischen anderes befohlen. Wie viel wusste der Unsterbliche? Hatte er Heriodon genaue Anweisungen gegeben, wie mit Rowarn zu verfahren war?

Aber wo war Nachtfeuer? Rowarn hatte ihn zuletzt gesehen, als der Dämon den bewusstlosen Femris aus der Schlacht holte, kurz vor dem Fall von Ardig Hall. Bisher hatte Rowarn keinen Hinweis darauf erhalten, dass Nachtfeuer sich hier aufhielt. Vermutlich hatte er seinen Herrn nach Dubhan gebracht und beschützte ihn dort. Vielleicht sollte ich mich gar nicht um meine Flucht kümmern, sondern darum, nach Dubhan zu kommen, um endlich Nachtfeuer zu begegnen und meine Rache zu vollziehen. Nachdem Ardig Hall gefallen ist, gibt es ohnehin nichts anderes mehr für mich zu tun.

»Natürlich, alles andere ist dir egal«, sagte jemand laut, und Rowarn fuhr zusammen. Es war seine eigene Stimme gewesen!

»Was passiert mit mir?«, flüsterte er ängstlich.

Angestrengt lauschte er, doch immer noch war es völlig dunkel und geisterhaft still. Als ob er sich nicht mehr im Heerlager befände, sondern weitab davon, tief im Fels verborgen, fern von allem Leben.

Erwachte nun doch das Zwiegespaltene in ihm? Trennte ihn in zwei Teile, Regenbogen und Finsternis, sodass er gegen sich selbst antrat? Rowarn-Licht gegen Rowarn-Dunkel?

Nein, ihm war nicht alles andere egal! Er wusste nicht, was mit Noïrun, Olrig und den anderen war, seinen Lehrmeistern und Freunden, denen er so viel zu verdanken hatte, und die für eine Sache kämpften, die andere begonnen hatten.

Heriodon vermutete etwas in ihm, deshalb behielt er ihn im Auge. Er versuchte mit allen möglichen Tricks, es aus Rowarn herauszubekommen und ihn gleichzeitig auf die Seite der Finsternis zu ziehen. Natürlich, das war die Antwort! Auch Femris wusste es demnach noch nicht. Wenn er nämlich herausbekam, dass sein Heermeister den Zwiegespaltenen in Händen hielt, wäre er sicher höchst erfreut! Denn sobald er alle Splitter vereint hatte, konnte er Rowarn für das Tabernakel einsetzen. Es hieß, dass allein der Zwiegespaltene dazu in der Lage sei, das Tabernakel zu nutzen. Nirgends stand, dass er dies aus freiem Willen tun musste.

Wahrscheinlich kann Heriodon Femris nicht erreichen, um ihn zu fragen, was aus mir werden soll, und bis dahin »kümmert« er sich um mich, will mich gefügig machen und wartet ab, wie der Unsterbliche entscheidet. Und Femris wird es irgendwann herauskriegen, er ist ein Mächtiger. Ich werde es vor ihm nicht verbergen können.

»Und was bedeutet das?«, fragte dieselbe Stimme wie vorhin, die nicht zu ihm zu gehören schien und doch aus ihm kam.

Rowarns Augen brannten, und heiße Wut erfüllte ihn. »Ich darf Nachtfeuer nicht treffen, sondern muss fort von hier und mich irgendwo verstecken, wie ein Feigling. Weil ich zu schwach bin, um gegen die Finsternis zu kämpfen. Weil die Finsternis selbst in mir ist und danach drängt, sich mit Femris zu verbünden.«

Das war die bittere Wahrheit. Wie lange konnte er noch durchhalten? Mit nur einer einzigen Unterhaltung hatte Heriodon ihn erschüttert und aller Kräfte beraubt. Rowarn fühlte sich jetzt noch schwach und entblößt. Er wusste, auf Dauer würde er den Einflüsterungen nicht mehr standhalten können. Das Erbe von Nachtfeuer war zu stark ...

An diesem Tiefpunkt der Erkenntnis angekommen, verbarg Rowarn zitternd den Kopf in den Armen und schämte sich seiner Angst und Schwäche. Er hatte Angmor in die Gefangenschaft gebracht, und nun war er dabei, Ardig Hall aufzugeben, nur weil er nicht mehr die Unterstützung von Olrig und Noïrun hatte. 

Auf sich allein gestellt war Rowarn ein jämmerlicher kleiner Käfer, der sich nicht mehr aufrichten konnte, sobald er auf dem Rücken lag.



Er war wohl ein wenig eingeschlummert, denn es brauchte eine Weile, bis das leise Schlurfen und Schleichen, das rasselnde Atmen in seine Gedanken drang. Rowarn stellten sich sämtliche Haare auf, und das Blut gefror ihm. Er kannte dieses Geräusch. Viel zu gut.

Aber nein, ich bilde es mir nur ein, redete er sich in Gedanken gut zu. Olrig und Halrid Falkon haben mir beide gesagt, dass ich nichts zu befürchten habe, weil die Eliaha in ihrer eigenen Zwischenwelt lebt und mich nicht erreichen kann. Ich brauche keine Angst zu haben.

Aber warum kam das Schlurfen und Keuchen dann näher? Warum konnte er ihm nicht einfach Einhalt gebieten, es wegscheuchen? 

Es war nicht wirklich! Er musste fest daran glauben!

Warum sucht sie mich?, dachte Rowarn bebend. Ich war nicht dabei, damals in der Schlacht auf dem Titanenfeld. Olrig hat sie auch gesehen, aber sie verfolgt ihn nicht. Wieso kann sie mich immer wieder aufspüren? Was will sie von mir?

Nun war das Schlurfen und Schnaufen ganz nahe, Rowarn glaubte, den eisigen Atemhauch auf den Händen zu spüren. Aber er regte sich nicht, weigerte sich, etwas Törichtes zu tun. Es war reine Einbildung, er musste sich nur beruhigen, dann war alles gut. Da war kein kalter Atem auf seinem Handrücken, kein Schnüffeln und Rasseln, kein Klirren wie von Ketten. Alles nur Einbildung. 

Alles ... nur ...

Rowarn hielt es nicht mehr aus. Er riss den Kopf hoch – und starrte genau in die grauenvoll blicklosen Augen der Eliaha, ganz dicht vor seinem Gesicht.