Kapitel 22

Flucht von Sternfall



Kurz vor der Dunkelheit wurde Rowarn wie jeden Abend in seiner Zelle eingesperrt. Er setzte sich ans Gitter und sah hinaus. Die Tageshitze war einer milden Nachtluft gewichen, und sogar eine kleine Brise wirbelte durch die Schluchten und spielte mit Rowarns Haar. Die Feuer im Lager loderten, es wurde gegessen und getrunken, und Mädchen und Frauen bewegten sich zwischen den Zelten und den Felsenhäusern. Ein Halbmond ging soeben auf – bereits der zweite Mondwechsel, den Rowarn hier verbrachte.

Immerhin brach morgen Gonarg mit seiner Truppe auf. Ein Teil des Heeres sollte zudem in eine andere Schlucht verlagert und mit einer bald erwarteten Verstärkung zusammengelegt werden. Es würde also einiges los sein, was für die Vorbereitung der Flucht nur gut sein sollte.

Sobald Femris wieder erwachte und bei Kräften war, sollte das neue Heer bereitstehen. Aber was hatte der Unsterbliche dann vor? Gegen wen wollte er ziehen? Oder würde er Dubhan abriegeln, weil er einen Angriff des Heermeisters von Ardig Hall erwartete? Rowarn zweifelte keinen Moment daran, dass es niemandem gelingen würde, Noïrun gefangen zu nehmen. Gonargs Tage waren gezählt, immerhin ein Trost. Ob Femris tatsächlich Rowarn gegen Noïrun benutzen wollte? Wenn der Unsterbliche erst die ganze Wahrheit herausfand ... nein. Dazu durfte es nicht kommen, lieber würde Rowarn sich zuvor umbringen.

»Rowarn!«, erklang ein scharfes Flüstern, und er sah auf. Ein Schatten huschte heran und kauerte sich auf der anderen Seite des Gitters nieder. Der junge Ritter traute seinen Augen nicht. »Gaddo? Was tust du hier?«

»Wir müssen reden«, antwortete der Soldat.

»Ich wüsste nicht, worüber.«

»Aber ich möchte, dass du es verstehst.«

Rowarn zog unwillig die Brauen zusammen. »Was gibt’s da zu verstehen? Moneg hat uns verraten, und du hast mitgemacht.«

»Moneg fühlte sich zuerst von allen verraten und verkauft, selbst von mir«, sagte Gaddo leise. »Er konnte es nicht verwinden, dass damals überhaupt niemand auf seiner Seite war.«

»Aber warum hast du dann bei diesem Verrat mitgemacht?«, fragte Rowarn verständnislos. 

»Ich ... hatte keine Wahl. Ich wollte ihn zurückhalten, aber er war wie wahnsinnig. Ich weiß nicht, warum er das getan hat. Bis zum Schluss habe ich versucht, ihn daran zu hindern, und dann war es zu spät, auch für mich.« Gaddo wich Rowarns Blick aus. »Aber wenigstens habe ich begriffen, dass es überhaupt kein Zurück mehr gibt, wenn wir zu Dubhani gemacht werden. Ich wusste bisher nicht, was das bedeutete, denn wir haben sie alle gleichermaßen so bezeichnet. Aber es gibt Unterschiede ...«

»Ja, das habe ich inzwischen auch begriffen. Wir werden zu willenlosen Kreaturen gemacht, im Gegensatz zu den Warinen und freiwilligen Söldnern. Wobei mich der Gedanke tröstet, dass es euch genauso trifft.« Rowarn war versucht, auszuspucken. »Verrätern nimmt man die Treue nicht ab.«

»Aber so weit muss es doch nicht kommen«, meinte Gaddo. Vorsichtig blickte er sich um.

Rowarn riss die Augen auf. »Denkst du ernsthaft, ich höre dir weiter zu? Für wie dumm hältst du mich?«

Gaddo wedelte beschwichtigend mit den Händen. »Ich meine es ernst, Rowarn. Wir könnten alle zusammen fliehen. Ein willenloser Dubhani zu werden ... allein von der Vorstellung wird mir schlecht. Ich wollte nie, dass so etwas passiert. Aber ich hatte Angst, mich gegen Moneg zu stellen. Doch jetzt geht es zu weit, da mache ich nicht mehr mit. Ich werde nicht zulassen, dass ich mich selbst verliere. Es gibt also nur einen Weg: Ich muss dir helfen!«

»Und warum fliehst du nicht allein?«

»Das schaffe ich nicht. Da sind zu viele Hindernisse.«

Rowarn schüttelte den Kopf. »Das ist doch Irrsinn. Mit deiner Beteiligung am Verrat hast du genau wie Moneg dein Todesurteil unterschrieben, selbst wenn du uns zur Freiheit verhilfst. Fürst Noïrun wird das niemals ungesühnt lassen.«

Als er daraufhin Tränen in Gaddos Augen sah, stutzte er. Aus dem Soldaten brach hervor: »Ich konnte ihn doch nicht im Stich lassen.«

Dem Nauraka fiel es wie Schuppen von den Augen. »Beim Lichte Lúvenors, du liebst ihn«, stieß er hervor. »Weiß Moneg das?«

»Natürlich nicht.« Gaddo schüttelte den Kopf. »Er verabscheut Männer wie mich. Dabei ... bin ich gar nicht so. Ich meine, früher ... bevor ich mich verpflichtet hatte, war ich mit einem Mädchen zusammen. Ich hatte sogar vor, eine Familie mit ihr zu gründen. Doch dann begegnete ich Moneg, und das veränderte alles. Was sollte ich denn tun? Kannst du dein Herz beherrschen?«

Rowarn konnte es nicht fassen. »Diesen grobschlächtigen, rücksichtslosen, gefühllosen Kerl, der den ganzen Tag nichts anderes tut, als seinen eigenen Körper anzubeten? Der weder Vernunft noch Verstand hat, weder Mitgefühl noch Reue kennt? So einen liebst du?«

»Sein Körper ist doch anbetungswürdig«, flüsterte Gaddo tief beschämt. »Zumindest war er es, bevor du ihn verunstaltet hast.«

»Das ist für dich unbedeutend, da du niemals in den Genuss dieses Körpers kommen wirst. Gaddo, du bist ein Idiot«, stellte Rowarn fest. »Nein, das genügt nicht: Ein Schwachsinniger. Wie konntest du dich nur auf etwas derart Aussichtsloses einlassen? Konntest du dich nicht mit unerfüllten Träumen begnügen?« 

Gaddo schüttelte den Kopf. »Ich bin ihm verfallen, auf Gedeih und Verderb, und muss in seiner Nähe sein. Anders ist es nicht erträglich für mich. Ich kann nicht ohne ihn leben. Ich will es nicht.«

»Immerhin, das wird dich vor Noïruns Schwert retten, denn er würde niemals einem armen Irren etwas antun.« Rowarn schüttelte den Kopf. »Wie soll es jetzt weitergehen? Wenn du mir zur Flucht verhilfst, verrätst du Moneg letztendlich doch.«

Gaddo sah einen Hoffnungsschimmer und wurde eifrig. »Ich werde ihm nichts sagen und ihn dann mitnehmen, am besten bewusstlos. Vorwürfe kann er mir machen, wenn wir frei sind.«

Rowarn lachte trocken. »Er wird dich umbringen, denn es gibt dann keinen Ort mehr, wo er noch hoch erhobenen Hauptes hingehen könnte.«

»Das wäre doch die beste Lösung für mich, oder nicht? Ich kann schließlich nirgends ohne Moneg hin«, sagte Gaddo unglücklich. »Aber wenigstens sind wir dann noch wir selbst.«

Rowarn überlegte. Worauf ließ er sich da ein? Es gab nicht den geringsten Grund, Gaddo zu trauen. Aber was hatte er schon zu verlieren, außer dem Leben? Schlimmstenfalls hätte er weitere Schmerzen zu erdulden, die Heriodon ihm ohnehin früher oder später angedeihen ließe. Hier bleiben konnte er nicht, und für Angmor galt dasselbe. Und für Tamron. Die beiden würden irgendwann sterben, wenn ihnen die Kraft zu lange abgesaugt wurde. »Das gefällt mir nicht«, sagte er.

»Mir auch nicht«, versetzte Gaddo. »Aber wir sind aufeinander angewiesen, das ist mir bewusst geworden. Gemeinsam könnten wir es schaffen. Der Visionenritter kann uns mit seiner Gabe beschützen.«

Rowarn hütete sich zu sagen, dass es damit im Augenblick nicht weit her war. »Tamron ist auch mit dabei.«

»Dann sind es schon zwei Bewusstlose ...«

»Rate mal, welchen von beiden wir mitnehmen werden, wenn eine Entscheidung getroffen werden muss.«

Gaddo zuckte zusammen. »Ich kann dir ebenso wenig trauen wie du mir. Wollen wir uns darauf einlassen?«

»Also gut.« Rowarn nickte. Er war inzwischen so verzweifelt, dass er nach jedem kleinen Halm griff, der ihn aus dem Sumpf ziehen könnte. »Komm morgen um dieselbe Zeit wieder, dann sage ich dir, was du zu tun hast. Halte dich tagsüber fern von mir, das wird sonst schnell auffällig. Und jetzt geh, bevor Moneg dich sucht.«

Gaddo verschwand ohne ein weiteres Wort.

Rowarn saß noch lange nachdenklich am Gitter.



Am nächsten Tag passte Rowarn den Zeitpunkt ab, als Heriodon sich mit Tracharh in einem anderen Winkel der Schlucht traf, und ging zu Angmor. Die Wachen ließen ihn wie stets anstandslos durch, sein Status als Knappe des Heermeisters war allgemein anerkannt.

Einige der Zellen in diesem Gang waren inzwischen leer. Rowarn lief eine Gänsehaut über den Rücken, als er sich vorstellte, was mit den Gefangenen geschehen sein mochte. Einige von ihnen hatten sich in den letzten Tagen kaum mehr gerührt und nichts mehr zu sich genommen. Die Übrigen waren kaum besser dran, und Rowarn eilte an ihnen vorüber, ohne genau hinzusehen.

Er atmete auf, als er Angmor bereits am Gitter stehen sah. Heute schien es ihm gut zu gehen. Vielleicht, weil Rowarn das Dämonentier gefüttert hatte?

»Herr, ich weiß, was Euch die Kräfte absaugt«, flüsterte er, kaum angekommen. Er beschrieb das Wesen, seine Gefühle, und was er ihm als Nahrung übergeben hatte. 

»Und du hast das überstanden?«, sagte Angmor erstaunt. »Geht es dir wirklich gut?«

Rowarn grinste vergnügt. »Ja, mir fehlt nichts. Allerdings hätte ich ohne Gonarg wahrscheinlich nicht überlebt. Er hat mich rausgezogen. Es ist von Vorteil, dass sie mich von großer Bedeutung für Femris halten. Sie stellen mich auf die Probe, wollen aber nicht, dass ich sterbe.«

»Scheint mir auch so. Heriodon ist nicht dumm. Er muss annehmen, dass Ylwa deine Mutter war. Sicher möchte er herausfinden, welche Fähigkeiten in dir stecken und wie viel du ertragen kannst. Jedoch darf er dich nicht zu sehr gefährden. Solange Femris nicht von dir weiß und entschieden hat, was mit dir geschehen soll, bist du also sicher.«

»Ich will nicht abwarten, was dann geschieht. Aber sagt mir, Herr: Ist das ein Dämonentier im Graben?«

Der Visionenritter nickte. »Der Verdacht liegt nahe. Wie es aussieht, stammt es aus den Außenlanden. Vielleicht ist es mit dem Himmelsstern abgestürzt. Manchmal werden diese Geschöpfe in solchen Sternwanderern als Eier abgelegt und von der im Inneren herrschenden Gluthitze ausgebrütet. Femris hat sich das irgendwann zunutze gemacht. So erklärt sich meine Schwäche. Aber dagegen können wir etwas tun.«

»Ich weiß«, sagte Rowarn eifrig. »Gonarg hatte ein Mittel zu sich genommen, das ihn vor dem Absaugen der Lebenskraft schützte. Ich werde es Euch beschaffen, noch heute.«

»Gut. Bereite alles für die Flucht morgen vor, wir werden in der Abenddämmerung aufbrechen.«

»Wie genau ...« Rowarn erschrak, als Angmor ihn plötzlich packte und dicht zu sich ans Gitter zog.

Sehr leise, aber eindringlich zischte er: »Hör genau zu, Junge. Du bringst mir das Mittel, damit ich Hilfe herbeirufen kann. Ich komme dann von allein frei und werde Tamron mitnehmen. Du musst Pferde beschaffen und für die nötige Ablenkung sorgen. Warte draußen auf uns. Bring genügend Schnüre mit, damit wir Tamron im Sattel festbinden können, für die Flucht muss das einstweilen genügen. Es muss alles sehr schnell gehen.«

»Aber wie weiß ich, ob ...«

»Du wirst das Zeichen erkennen, keine Sorge. Und jetzt spute dich, damit du mir bald das Mittel geben kannst.«



Auf einmal sollte es jetzt sehr schnell gehen. Rowarn konnte es kaum glauben und hatte Mühe, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Er fragte sich allerdings, welche Hilfe Angmor wohl herbeirufen wollte.

Die dringlichste Aufgabe war aber zuerst, an das Mittel heranzukommen. Wie hieß es doch? Alanium, hatte Gonarg gesagt. Rowarn hatte eine ungefähre Vorstellung, wo es sich befinden mochte. In der Höhle, wo die Vorräte gelagert und das Essen für die Gefangenen zubereitet wurde, gab es eine Kammer mit allen möglichen Kräutern und Mitteln. Rowarn hatte den Koch darin schon verschiedene Essenzen aus den Regalen nehmen gesehen, wenn er für Heriodon besondere Tränke zubereiten sollte. Auch Gonarg hatte ab und zu etwas geholt. Die Kammer war natürlich verriegelt, aber das sollte für Rowarn kein allzu großes Hindernis darstellen. Es wäre nicht die erste Vorratskammer, in die er einbrach. In seinen Kindertagen hatten Rubin und er regelmäßig die weggesperrten Naschereien von Rubins Mutter geplündert. Die gute Frau hatte nämlich die besten Honigklumpjes hergestellt, die man sich vorstellen konnte. Natürlich hatte sie die Diebstähle jedes Mal bemerkt und nicht nur Maulschellen verteilt, sondern zudem bessere Schlösser an der Tür angebracht. Aber auch die Kinder lernten dazu. Dafür nahmen sie gern die Strafe in Kauf. Die Hand von Rubins Mutter war viel zu liebevoll, um ihnen ernsthaft wehzutun.

Also wartete Rowarn am besten einen günstigen Moment ab, wenn der Koch die Höhle verließ, und dann war er hoffentlich schnell genug, bevor er erwischt wurde. Kurz vor der Essensverteilung musste er sich ohnehin dort einfinden, aber es schadete nichts, wenn er ein wenig früher dran war.

Der Koch, ein stämmiger Zwerg, wunderte sich allerdings. »Was willst du denn schon hier? Hast du nichts anderes zu tun?«

»Im Augenblick nicht. Der Heermeister ist anderweitig beschäftigt, und Gonarg ist bereits aufgebrochen. Vielleicht will man mich auch ein wenig schonen, nachdem ich gestern das Ding im Graben gefüttert habe und beinah dabei draufgegangen bin.«

»Soll mir recht sein. Da du schon mal hier bist, kannst du mir gleich helfen, ich habe heute eine Menge zu tun.« Der Koch gab ihm ein langes, scharfes Messer und wies auf ein großes Fleischstück, das ein Knecht soeben herbeischleppte. »Schneiden.«

Rowarn übernahm die Aufgabe, still und unauffällig, wie er sich immer gab. Hin und wieder kamen Warinen herein und erkundigten sich nach dem Fortschritt der Zubereitung. Wie es schien, hatten sich einige Befehlshaber zu einer Besprechung versammelt und verlangten ungeduldig nach Bewirtung. Sie wollten sicherlich Heriodons Abwesenheit nutzen, um ein paar besonderen Genüssen zu frönen, die ihnen sonst vorenthalten wurden. Das kam nicht zum ersten Mal vor. Rowarn hatte diese Möglichkeit bereits bei der Planung des Ausbruchs mit einbezogen, schließlich hatte er lange genug alle Vorgänge im Lager beobachtet. Es spielte ihm in die Hände, die Zeichen standen günstig.

Der Koch wurde zusehends nervöser und scheuchte Rowarn herum. Schließlich öffnete er sogar die Tür zur bewussten Kammer und trug ihm auf, ein bestimmtes Kräuteröl zu suchen, und ein Pulver zur Verbesserung des Wohlbefindens. »Dann sind sie friedlicher und lassen uns vielleicht in Ruhe«, bemerkte der Zwerg schwitzend. Auch er war vor Angriffen der Offiziere nicht geschützt und setzte alles daran, zu überleben.

»Wie finde ich diese Sachen?«, fragte Rowarn.

»Es ist alles beschriftet, Dummkopf!«, rief der Koch ungeduldig und rannte zwischen zwei Kochstellen hin und her. »Bei so vielen Flaschen, wie soll man da sonst den Überblick behalten? Auf dem Glas mit dem Öl steht Livuu, und das Pulver befindet sich in einem Holzkästchen mit der Aufschrift Furfo. Lesen kannst du doch, oder?«

»Nur die Schrift der Hochsprache.«

»Bestens. Und jetzt spute dich!«

Die kleine Kammer war halbdunkel, aber Rowarn hatte keine Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Die Wände waren vollgestellt mit Regalen, auf denen unüberschaubar hunderte Flaschen, Gläser, Kästchen und Dosen aufgereiht waren. »Wo genau muss ich denn suchen?«, rief Rowarn ratlos in die Küche, denn alles stand durcheinander, oder war zumindest nach einem System sortiert, das er nicht erkannte.

»Verflixt, muss ich das etwa auch noch selber machen?«, schrie der Koch aufgebracht. »Links stehen die Würzmittel, geradeaus findest du alles für die Heilung, rechts sind die Zutaten für besondere Getränke, und neben der Tür alles übrige!«

»Also das Öl links, und das Pulver rechts«, murmelte Rowarn und fing an zu suchen. Das Alanium musste sich demnach auch auf der rechten Seite befinden, doch hier schien das Durcheinander noch unübersichtlicher.

Endlich hatte er das Öl gefunden, doch das Pulver entzog sich seinem scharfen Blick. Dafür machte sein Herz einen Satz, als er auf einem Brett eine Art Phiole mit der Aufschrift »Al.« fand, ganz bescheiden nach hinten gerückt und sehr unauffällig. Das musste es sein!

»Wo bleibst du?«, fegte die halb zornige, halb panische Stimme des Zwergs herein und riss ihn aus seinen Gedanken. »Wir werden beide noch als Hauptgang enden!«

»Ich hab’s!«, rief Rowarn erleichtert und griff nach dem kleinen Holzkästchen. Er hastete zurück in die von Dunstschwaden eingenebelte Küche. 

Der Koch riss ihm die Mittel aus der Hand, verriegelte die Kammer und wandte sich Rowarn wieder zu. Ohne Vorwarnung tastete er den jungen Mann von oben bis unten ab. »Nur, um sicherzugehen, dass du nichts eingesteckt hast«, brummte er. »Ich kenne euch doch, du wärst nicht der Erste.«

Rowarn war froh, dass er keine Zeit mehr gehabt hatte, das Alanium einzustecken. Zwei Warinen kamen soeben herein, und der Koch rief, während er eilig das Öl und das Pulver einrührte: »Wir sind fertig! Helft mir beim Tragen, das kann ich nicht alles allein übernehmen.«

»Was ist mit dem Jungen?«

»Der ist für die Gefangenen zuständig und hat bei den hohen Herrn nichts verloren. Wir haben schließlich noch andere Arbeit zu erledigen.«

Rowarn erhielt die Anweisung, das Essen für die Gefangenen umzufüllen. »Du weißt, was du zu tun hast, also beeil dich! Heute muss alles schneller gehen, und ich habe sonst keine Hilfe.«

Rowarn fing an, das Essen umzufüllen, während der Zwerg und die beiden Warinen schwer beladen die Höhle verließen. Sobald sie aus der Sicht waren, hastete er zu der Tür. Leider hatte der Koch trotz seiner Eile das Schloss wieder vor die Kette gehängt, aber wenigstens war es nicht auf magische Weise gesichert. 

Rowarn fand rasch das geeignete Stück Draht und machte sich an die Arbeit. Er grinste, als kurz darauf das Schloss aufsprang. Er schlüpfte in die Kammer, nahm schnell die Phiole an sich und verstellte die anderen Flaschen so, dass die Lücke nicht auffiel. Schnell versperrte er wieder alles und schleppte schon wenige gepresste Atemzüge später die Kessel nach draußen.



Unbemerkt steckte Rowarn Angmor die Phiole zu, als er das Essen brachte. Sie wechselten nur ein paar kurze Worte; es war alles gesagt und geplant. Natürlich hätte Rowarn eine Menge Fragen gehabt, doch er vertraute dem Visionenritter und wartete einfach ab. Im Lager herrschte viel Bewegung und Aufbruchstimmung. Das würde, soweit Rowarn es mitbekommen hatte, auch die nächsten Tage noch so bleiben. Wie es aussah, war jetzt der denkbar günstigste Moment für die Flucht.

Am Abend konnte er es kaum erwarten, dass Gaddo zu ihm kam. Hoffentlich ließ er Rowarn nicht im Stich! Doch es war kaum dunkel, als der Soldat schon herbeihuschte, vorsichtig nach allen Seiten sichernd.

»Morgen bei Beginn der Abenddämmerung«, ließ Rowarn ihn wissen. »Bist du noch dabei?«

»Natürlich, mehr denn je. Ich hab schon ein Schlafmittel für Moneg vorbereitet.« Gaddo war aufgeregt, er schien es kaum mehr erwarten zu können. »Er glaubt immer noch, dass es ihm hier besser gehen wird. Ich kann ihm nicht klarmachen, dass Verräter wie er ... wie wir ... nirgends gern gesehen sind. Auch Gonarg wird das noch erfahren, wenn er seinen letzten Auftrag ausgeführt hat.«

Rowarn nickte. »Aber wenigstens haben wir den Mistkerl schon aus dem Weg, und um den Fürsten braucht mir wegen ihm nicht bange zu sein.« Er rückte so nah wie möglich ans Gitter. »Weißt du, wie und wo die Chalumi gefüttert werden?«

»Die fliegen nachts doch gar nicht.«

»Antworte!«

»Nein, aber ich kann es rauskriegen. Ich habe überall Zutritt im Lager.« Gaddo grinste selbstironisch. »Man hält mich auch hier für einen Schwachkopf.«

»Vergifte sie.«

»Was?«

»Du hast mich schon verstanden. Vergifte die verdammten Biester! Irgendwann nachmittags. Heriodon wird das beschäftigen, denn wenn er etwas auf der Welt liebt, dann sind es die Federschlangen. Er hängt sie sich manchmal sogar wie einen Halsschmuck um. Und er kann sie uns dann nicht mehr zur Verfolgung hinterherschicken.«

Gaddo zögerte. »Ich weiß nicht, wie ich das anstellen ...«

»Hör zu, entweder du kriegst das hin, oder wir vergessen die ganze Sache!«, zischte Rowarn. »Ich kann nicht alles allein machen. Deine zweite Aufgabe ist ganz leicht. Du kennst mein Pferd Windstürmer?«

»Natürlich, der lebhafte kleine Falbe.«

»Er steht in der dritten Reihe, ungefähr in der Mitte. Unverkennbar zwischen lauter dunklen Pferden, ich habe sie gezielt so zusammengestellt. Die Pferde links und rechts von Windstürmer sind aus Ardig Hall, die kannst du nehmen. Zäume und sattle sie und bring Seile mit. Führe sie in der Dämmerung in die Nähe des Felsgangs, in dem Angmor gefangen ist. Dir wird schon eine Begründung einfallen, wenn du gefragt wirst. Und dann pass genau auf. Sobald sich drin etwas rührt, musst du schnell dort sein. Mit Moneg und Waffen. Klar?«

»Verstanden«, nickte Gaddo. »Das schaffe ich, ich weiß auch schon, wie. Und du?«

»Ich werde kurz vor unserer Flucht die Pferde freilassen, um für Ablenkung zu sorgen«, antwortete Rowarn. »Angmor hat mir außerdem zugesichert, dass er Hilfe herbeiruft. Er sagt, dass wir das Zeichen unschwer erkennen werden.«



In nervöser Anspannung brachte Rowarn die Zeit herum. Er wagte es nicht, noch einmal Angmor aufzusuchen und Fragen zu stellen, doch er platzte fast vor Neugier. Was hatte der Visionenritter vor? Hoffentlich zeigte das Mittel überhaupt Wirkung bei ihm! Und hoffentlich änderten Heriodon und Tracharh nicht ihre Pläne ...

Mach dich nicht verrückt, ermahnte er sich selbst. Du verrätst noch alles.

Zum Glück war Gonarg weit fort. Er war ein Mensch und wäre bestimmt misstrauisch geworden. Als Spitzel musste er über außerordentlich feine Sinne verfügen, die jede Veränderung sofort auffingen.

Aber alles schien wie geplant zu verlaufen. Der Heermeister und sein Vertreter bereiteten den Aufbruch der ersten Einheit vor und hielten sich in einer der Seitenschluchten auf. Es hieß, Femris sei inzwischen erwacht, wenngleich noch sehr schwach und mehr dahindämmernd als bei Bewusstsein. 

Rowarn hoffte, dass Gaddo die Chalumi vergiftet hatte. Zumindest sah er keine mehr herumfliegen, das war wenigstens ein gutes Zeichen. Bis zur Dämmerung dauerte es nicht mehr lange. Von der Hilfe, die Angmor rufen wollte, war aber weit und breit noch nichts zu erkennen. Rowarn konnte sich überhaupt keine Vorstellungen machen, was für eine Art Unterstützung das sein sollte – der Vernunft nach konnte es nur ein Heer sein.

Um sich abzulenken, stellte er heimlich einige Vorräte, Decken und Utensilien zusammen und versteckte sie in der Nähe der Höhle, in der Angmor und Tamron eingesperrt waren. Dann war es endlich so weit. Er sah Gaddo langsam heranreiten, mit Windstürmer an der Hand und noch drei weiteren Pferden am Sattel angebunden. Die Pferde waren alle gesattelt und gezäumt, und in den Seitenhaltern steckten kurze Schwerter neben zusammengerollten Seilen. Niemand nahm Anstoß daran. Rowarn achtete darauf, dass sie keinen Blickkontakt bekamen. 

Von der anderen Seite her näherte sich Moneg. Gaddo stieg in der Nähe der Verliese bei einem Brunnen ab und unterhielt sich kurz mit dem Verräter. Moneg nickte. Er schien keinen Verdacht zu schöpfen. Es war nicht ungewöhnlich, dass Soldaten auf diese Weise auf einen Einsatzbefehl warteten. Und von seinem treuen Schatten würde er eine Hinterlist kaum erwarten. Moneg gähnte und lehnte sich gelangweilt an die Brunnensäule.

Rowarn machte sich auf den Weg zu den Stallungen. Sein langer Schatten ging ihm voraus, und er fühlte die tröstliche Wärme der Sonne in seinem Rücken. In den schrägen Sonnenstrahlen tanzten winzige schillernde Insekten mit langen Schwanzfäden, die sich im Reigen ineinander schlangen und sich im Wirbel wieder lösten. 

Die Sonne stand so tief, dass sie die Seitenschlucht gar nicht mehr erreichte. Der Übergang war schlagartig, als hätte jemand in einem verdunkelten Zimmer alle Kerzen bis auf eine gelöscht. Das Licht war diffus, Konturen und Farben flossen ineinander zu verwaschenem Blau und lösten die Grenzen zwischen Hell und Dunkel auf. Die tagsüber finster wirkenden Höhlen, die jedes Sonnenlicht aussperrten, wirkten jetzt heller und offener und erforderten kaum mehr Umgewöhnung für die Augen. Die Pferdeleiber verschwammen zu einer einzigen Masse, die leicht hin- und herwogte, ab und zu aufstampfte und schnaubte. Rowarn wusste, nach welchem System die Pferde angebunden waren. Bei Alarmsignal konnten sie blitzschnell gelöst und fortgebracht werden. Das wollte er nun zu seinem Vorteil nutzen.

Während er sich dem Hauptknoten näherte, sah Rowarn sich immer wieder um. Er konnte seine Anwesenheit hier glaubhaft erklären, trotzdem wollte er nicht gesehen werden. Der Himmel über ihm wurde rasch dunkler, schon blinkte ein erster Stern auf. Nur im Westen war es noch hell, und eine vereinzelte Wolke erglühte in rotem Schein. Umso düsterer, beinahe trostlos wirkte es hier unten.

Noch immer war keine Unterstützung zu sehen. Moneg hatte hoffentlich inzwischen die Geduld nicht verloren, und Gaddo nicht die guten Antworten, falls er befragt wurde, was er da mit fünf Pferden machte.

Rowarn richtete den Blick nach vorn – und erstarrte. Er war höchstens zwei Herzschläge abgelenkt gewesen, und doch kam ihm plötzlich ein Warine entgegen, der von irgendwoher aufgetaucht war. Der junge Ritter ging ruhig weiter und erwartete, dass der Soldat auf ihn aufmerksam würde und ihn ansprach; vorher wollte er nichts sagen, um sich nicht durch allzu eifriges Gestammel zu verraten.

Doch der Warine schwieg. Rowarn musste ihm sogar ausweichen, als er stur weiter auf ihn zuhielt. Ohne den Gefangenen zu beachten, schlug der Warine den Weg zum Hauptlager ein.

Rowarn war so verdutzt, dass er stehen blieb und dem Soldaten nachsah. Dann, weil er es nicht glauben wollte, ließ er alle Vorsicht fahren, winkte und ging ein paar Schritte hinterher. Warinen besaßen scharfe Sinne, diese Bewegung konnte ihm nicht entgehen!

Doch er bemerkte nichts.

Was ging hier ... oh, natürlich.

Die Dämmerung.

Rowarn begriff. Bitterer Zorn schwappte in seinen Mund wie fauliges Brackwasser, und ihm wurde übel. Angmor hatte es gewusst. Genau deshalb hatte er diesen Zeitpunkt zur Flucht bestimmt!

Ich bin ein Zwielichtgänger wie mein Vater!, schrie es in Rowarn. Genau wie Nachtfeuer, der Dämon.

All die Jahre war es keinem jemals aufgefallen. Niemand hatte gemerkt, über welche besondere Gabe Rowarn verfügte, immer nur war es um sein Schimmern in der Nacht gegangen. Möglicherweise, weil das Zwielicht immer nur kurz dauerte und keiner so genau darauf geachtet hatte. Und vielleicht, weil ... Rowarn gerade jetzt nicht gesehen werden wollte, darauf hatte er sich konzentriert. Es hing also eventuell von seinem Willen ab. 

Er biss die Zähne zusammen und zwang sich, weiterzugehen. Mach es weiterhin zu deinem Vorteil, ermahnte er sich streng. Es ist eine Gabe, die nichts mit Gut oder Böse zu tun hat. Reiß dich zusammen, Soldat! Deine Gefühle haben hier nichts verloren. Der Plan muss durchgeführt werden, und umso besser, wenn dich niemand dabei sehen kann.

Da, endlich, kam das Zeichen.



Rowarn verharrte erneut, als er ein fernes Grollen hörte. Zu der Wolke hatten sich weitere gesellt, der ganze westliche Himmel schien auf einmal in Flammen zu stehen. Blitze zuckten aus den Rändern, erhellten sie von innen in einem Wetterleuchten.

Im Verlauf weniger Atemzüge braute sich ein trockenes Gewitter zusammen. Schwarze Wolken rasten aus dem Westen heran, türmten sich hoch auf und brachten Blitz und Donner mit. Rowarns scharfe Augen konnten im Zwielicht noch weiter sehen als sonst, und er entdeckte dünne Striche unter den Wolken, die rasch näher kamen. Gewaltige, schmale Schwingen, mehrere Speerwürfe lang, schlugen langsam auf und ab. Spitze Schnäbel, zweimal so lang wie Speere, öffneten sich und begleiteten den Donner mit markerschütternden Schreien.

»Die Donnervögel ...«, hauchte Rowarn. »Das hat Angmor gemeint!«

Die Flucht begann! Nun hatte er es eilig, rannte zum Hauptknoten und riss ihn auf, lief noch einige Reihen weiter und öffnete auch dort Knoten, um die Auflösung schneller voranzutreiben. Mit wilden Schreien und fuchtelnden Bewegungen scheuchte er die vorderen Pferde von ihren Plätzen. Die Tiere gingen verdutzt zunächst nur ein paar Schritte und blieben dann ratlos stehen. Doch endlich begriff ein Hengst, dass sie frei waren und man nichts von ihnen erwartete. Mit schmetterndem Wiehern wendete er auf der Hinterhand und donnerte die Schlucht hinunter. Das war das Signal für die anderen, und es gab kein Halten mehr. Die ersten gingen durch, und bald rasten alle aus den Höhlen, dem Anführer hinterher. In einer gewaltigen Staubwolke gerieten sie schnell außer Sicht.

Schon rannten Soldaten herbei, aber Rowarn war bereits auf dem Rückweg zum Hauptlager, immer noch fast unsichtbar, nicht mehr als ein huschender Schemen im Schutz des Zwielichts, wenn er sich bewegte. Solange er nicht gesehen werden wollte. Aber die Aufmerksamkeit galt ohnehin nicht ihm, dafür gab es zu viel um ihn herum, was gleichzeitig geschah.

Vom Westwind begleitet, rasten die Donnervögel heran. Ihre schrillen Schreie ließen das Blut gefrieren. Der Himmel war in Aufruhr, es krachte und wetterleuchtete ununterbrochen. Rowarn erreichte gerade den Hauptweg, als er von Ferne zwei Gestalten durch die Schlucht herangaloppieren sah. Ein schwarzgrauer Schemen mit wehender langer Mähne und eine hochbeinige gefleckte Katze. Graum und Aschteufel! Wie ... wie hat er das nur geschafft ... Rowarns Herz sprengte ihm fast die Brust vor Aufregung. Jetzt glaubte er nicht nur, sondern wusste, dass ihnen die Flucht gelingen würde!

Das gesamte Heerlager war auf den Beinen, doch kein Oberbefehlshaber sagte, was zu tun war. Verwirrt, ohne Führung, rannten die Dubhani durcheinander. Die Donnervögel waren nun heran, überall schlugen Blitze ein, und Feuer brach aus. Die meisten Soldaten konzentrierten sich auf das, wofür sie ausgebildet waren – den Kampf. Sie versuchten, einen Feind auszumachen, gegen den sie sich formieren konnten. Andere machten sich daran, die Brände zu löschen, die sich rasch ausbreiteten. Von verschiedenen Seiten wurden widersprüchliche Anordnungen geschrien und schwirrten wie entfesselte Heuschrecken durch das Lager. Offiziere sprachen sich gegenseitig die Befehlsgewalt ab und gingen einander fast an die Kehle.

Niemand kam darauf, dass dies nur zur Ablenkung für eine Flucht diente. Die Warinen rannten an Rowarn vorbei, ohne auf ihn zu achten. Das Licht hatte sich bereits geändert, nun konnte er nicht mehr ungesehen durchs Zwielicht wandeln. Dennoch fiel er zwischen all den kreuz und quer herumlaufenden Soldaten nicht auf.

Gaddo und Moneg warteten immer noch am Brunnen, und Rowarn lief zu ihnen. Windstürmer spitzte die Ohren, regte sich sonst aber nicht. Er war ein bestens ausgebildetes Kriegspferd, das sich und seinen Herrn nicht verriet. Moneg verlor augenscheinlich soeben die Geduld und forderte Erklärungen, denn er schrie Gaddo zusammen. Als er Rowarn kommen sah, verstummte er aber und ging in Abwehrstellung.

»Tut mir leid, Moneg«, sagte da Gaddo. Bevor sein Freund reagieren konnte, hatte er ihn zu Boden geschlagen. Er beugte sich über den Bewusstlosen und flößte ihm eine Flüssigkeit ein. Dann bat er Rowarn: »Hilf mir, ihn aufs Pferd zu heben.«

»Vergiss es«, versetzte Rowarn und sah sich suchend um. »Da kommen sie«, flüsterte er, und ein helles Strahlen glitt über sein Gesicht.

Aschteufels schwere Hufe dröhnten auf dem Boden, und sein donnerndes Wiehern übertönte sogar das Gewitter. Der Wind brauste mit ihm um die Wette, rüttelte an Zelten und Verschlägen, stürzte um, was nicht fest genug verankert war. Graum stieß ein wütendes Gebrüll aus und sprang die ersten Soldaten an, die es wagten, sich ihm in den Weg zu stellen. Fetzende Prankenschläge rissen sie um, und der Schattenluchs setzte den Weg ungehindert fort. Der riesige schwarzgraue Hengst stampfte ohne anzuhalten durch die Reihen und trampelte alles nieder, was ihm im Weg war.

»Rowarn.«

Der junge Ritter zuckte zusammen und fuhr herum. Angmor stand vor ihm, auf seinen Schultern den bewusstlosen Tamron. Freude durchfuhr Rowarn. »Herr ...«

»Hilf mir.«

Gemeinsam hoben sie den Unsterblichen auf eines der bereitgestellten Pferde und verschnürten ihn. Auch Gaddo hatte seinen Freund inzwischen in den Sattel gewuchtet und festgezurrt.

Aschteufel traf derweil bei ihnen ein, gefolgt von Graum. Weiterhin war das Durcheinander zu groß, und es ging alles so schnell, dass niemand auf sie achtete. Aber das würde sich gewiss bald ändern.

»Er trägt immer noch Sattel und Zaumzeug«, sagte Rowarn fassungslos.

»Natürlich«, versetzte der Visionenritter, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. »Es ist seine Pflicht.« Er zog den Sattelgurt fest, gürtete sich mit dem Schwert, das in einer Schlaufe an der Sattelseite hing, steckte Dolch, Messer und Handaxt ein. »Aufgesessen«, befahl er. »Wir müssen los.«

»Ich komme gleich nach«, sagte Rowarn, dem gerade noch die Ausrüstung einfiel. Er schwang sich auf Windstürmer und trieb ihn quer über den Platz zu dem Versteck.

Aus der Höhle der Gefangenen taumelte ihm ein verwundeter Warine entgegen, die Hand auf eine stark blutende Kopfwunde gepresst. Er stockte, als er Rowarn erkannte. »Alarm!«, schrie er. »Sofort hierher! Ausbruch!«

Mit einem raschen Schwerthieb brachte Rowarn ihn zum Schweigen, doch dadurch zog er die Aufmerksamkeit erst recht auf sich. Einige Soldaten in der Nähe horchten auf und erfassten endlich die Lage. »Alarm!«, riefen sie im Chor, um sich Gehör zu verschaffen. »Wachen, hierher! Gefangenenrevolte!«

Rowarn hastete zu dem Versteck und holte die Sachen. Er wagte trotz der Eile einen eiligen Blick in den Gang mit den Verliesen. Aus sämtlichen Zellen waren die Gitter gerissen, und überall lagen tote Soldaten. Angmor musste sich unter großem Getöse befreit haben.

Rowarn hatte erwartet, dass eine Flucht möglichst still und unauffällig vonstattengehen sollte. Aber für einen Mann wie Angmor galt das wohl nicht.

Er hörte Graums Fauchen, als dieser zwei angreifende Warinen umriss. Der Schattenluchs war ihm gefolgt, ohne dass Rowarn es gemerkt hatte, und beschützte ihn. Auffordernd miaute das Tier, schon halb auf dem Sprung. Rowarn schnallte die Ausrüstung fest, beeilte sich, auf den Falben zu kommen, und sprengte den anderen nach, die bereits im Galopp Richtung Graben unterwegs waren. Von allen Seiten strömten die Soldaten nun auf sie zu und mussten dabei immer wieder den in kurzen Abständen überall einschlagenden Blitzen ausweichen. Hoch über ihnen kreisten die riesigen Donnervögel im Zentrum des Gewitters. Jeder Schrei schickte einen Blitz, begleitet von bellendem Getöse.

Graum und Windstürmer hatten Aschteufel schnell eingeholt, und Rowarn keuchte: »Wir werden bald Probleme bekommen.«

»Nein«, antwortete der Visionenritter gelassen. »Die.« Er reichte Rowarn die Zügel von Tamrons Pferd.

Der junge Ritter befestigte sie hinten am Sattel und vergewisserte sich, dass der Unsterbliche gut verschnürt obenauf lag. Gaddo hielt Monegs Tier am Zügel; das überzählige Pferd hatte er mit dazugebunden.

Wie sie allerdings aus der Schlucht kommen sollten, war Rowarn ein Rätsel. Trotz des brausenden Sturms, krachendem Donner und Blitzeinschlägen formierten sich die Soldaten und waren dabei, ihnen den Weg abzuschneiden. Zu Fuß allerdings, denn die freigelassenen Pferde waren noch nicht wieder eingefangen. Immerhin hatten die Fliehenden nicht das gesamte Heerlager gegen sich, das an vielen verschiedenen Fronten beschäftigt war. Und zum Glück war keine Federschlange weit und breit in Sicht. Aber allmählich zog sich der Ring um sie zusammen, so sehr Rowarn auch auf Angmors und Graums Kräfte vertraute. Wie also sollten sie entkommen?

Aschteufel schlug einen Bogen Richtung Norden, den Graben zur Linken lassend, doch auch von dort rückte bereits eine Hundertschaft heran. Die Dubhani konnten sich auf rasche Richtungswechsel einstellen, denn wie Rowarn inzwischen wusste, gab es von hier aus nur einen einzigen offenen, direkten Ausgang aus der Splitterkrone.

Rowarn spürte, dass sie allmählich in den unheilvollen Bannkreis des Wesens dort unten im Graben gerieten. »Herr, was habt Ihr vor?«, rief er. Die Pferde weigerten sich, die unsichtbare Grenze zu überschreiten, und konnten nur mit Mühe am Rand entlang gehalten werden.

Statt einer Antwort parierte der Visionenritter Aschteufel plötzlich durch. Der schwarzgraue Hengst wieherte und bäumte sich auf. Steigend drehte er sich langsam auf den Hinterbeinen, und Angmor zog sein mächtiges, geflammtes Schwert. Sein langer schwarzer Umhang wehte im Wind, und die über ihm zuckenden Blitze ließen den gehörnten Helm aufglühen. 

»Warte!«, rief Rowarn Gaddo zu, hielt Windstürmer an und wandte sich dem immer noch steigenden Hengst zu. 

Ein eindrucksvolles Bild, das musste Rowarn zugeben, und auch auf die nachfolgenden Dubhani zeigte es die gewünschte Wirkung. Sie wogten auseinander und wichen vor dem Visionenritter zurück. Wie mochte das Schauspiel erst wirken, wenn sich der ganze Orden auf diese Weise versammelte!

Angmor streckte das Schwert in die Höhe und rief etwas mit volltönender, weittragender Stimme, die trotz des Getöses zu hören war. Wie als Antwort fuhr ein Blitzstrahl vom Himmel herab, direkt in die Schwertspitze, verzweigte sich knisternd und funkensprühend und umgab den Mann und das Pferd für einen kurzen Moment mit gleißendem Schein. Dann senkte der Visionenritter das Schwert Richtung Graben. Ein schwarzer Flammenstrahl löste sich von der Klinge und schoss auf den lichtlosen Schlund zu.

Rowarn fuhr zusammen, und nicht nur er, als der Strahl mit einem lauten Knall im Inneren des Grabens verschwand. In einer gewaltigen Explosion sprengte es Gestein auseinander, Felsbrocken und Sand wurden ringsum geschleudert. Einige Soldaten wurden von Steinen getroffen und stürzten, die anderen wichen voller Schrecken aus und suchten Abstand zu gewinnen.

Ein schrilles Zirpen drang aus dem Graben und klingelte in Rowarns Ohren. Kurz darauf wurde der monströse Kopf des Dämonentiers sichtbar, als es die mit Widerhaken versehenen Beine über den Grabenrand schob.

Unter den Dubhani brach Panik aus. Viele sanken schreiend, die Hände an die Ohren gepresst, zu Boden. Andere ließen die Waffen fallen und flohen.

Den gewaltigen Stachelschwanz schwingend, verließ das Dämonentier sein Gefängnis und streckte die langen Scherenarme nach den Dubhani aus. Es mochte annähernd so groß sein wie Fylang, der weißgoldene Drache, und es stürzte sich gnadenlos auf die Soldaten.

Rowarn gaffte noch mit offenem Mund, als Aschteufel herangesprengt kam. »Los, weiter!«, rief Angmor, das Schwert schwingend, und galoppierte an ihm vorbei.

Windstürmer zitterte vor Furcht, aber er folgte brav dem schwarzgrauen Hengst, und Tamrons angebundenes Pferd ließ sich tapfer mitziehen. Gaddo trieb sein Tier hektisch an und hielt sich mit Moneg und dem Handpferd irgendwie hinter ihnen.

Angmors Schwert fiel tödlich auf jene tollkühnen Soldaten herab, die den Weg immer noch nicht freigeben wollten, und dann ging es im vollen Galopp durch die Schlucht, aus dem Lager hinaus, den breiten Weg entlang. Sie ließen Chaos und Geschrei hinter sich, und ebenso die Donnervögel, die weiter nach Osten zogen.