Kapitel 43

Sonne und Mond


In den nächsten Tagen hatte Rowarn kaum Gelegenheit durchzuatmen, geschweige denn Zeit, einmal für sich zu sein. Es gab so viel zu besprechen, und es brauchte lang, bis Rowarn das ganze Lager gesehen hatte und alles über die Aufstellungen wusste. In dieser Zeit lernte er sehr viel von Felhir und saugte alles begierig in sich auf. Überall wurde er begeistert begrüßt, und er sah neue Zuversicht und Hoffnung. Noïrun und Angmor wurden glücklicherweise nicht ein einziges Mal erwähnt; auf irgendeine geheimnisvolle Weise schien jeder begriffen zu haben, dass dieses Thema tabu war. Oder man wollte sich lieber einer Hoffnung hingeben anstatt einer womöglich schmerzlichen Wahrheit. Olrig und Rowarn hielten sich an die Vereinbarung, den Trumpf erst im Frühjahr auszuspielen, wenn der Fürst und der Visionenritter eintreffen würden.

Abends schwirrte Rowarn der Kopf, doch er wusste, dass er nicht nachlassen durfte. Er stellte auch dem Baron, mit dem er bald Freundschaft schloss, viele Fragen. Mit Solvan und Olrig besichtigte Rowarn eine Mine und die riesige Schmiede, die den Reichtum Eisenwachts garantierten. »Ich hoffe, dass hier eines Tages nicht nur Waffen und Rüstungen gefertigt werden«, bemerkte der junge König. »Von woher bekommt eigentlich Femris seine Ausrüstung?«

»Aus Warinland und aus dem Süden, jenseits der Grenze von Valia«, gab der Baron Auskunft. »Dort heuert er auch Söldner an.«

»Haben wir eine Möglichkeit, das zu unterbinden?«

»Nein. Genauso wenig wie umgekehrt.« Solvan zeigte ihnen die riesige Rüstungskammer. »Im Augenblick fertigen wir vorwiegend für das Heerlager. Wir werden gut gerüstet sein.« Solvan richtete den Blick auf Rowarns Waffengürtel. »Ich wollte mir übrigens schon lange dein Schwert ansehen.«

Rowarn reichte es ihm. »Es ist nur ein Ersatz. Mein eigenes Schwert steckt in Femris. Lady Arlyn war so freundlich, mir dieses hier zu überlassen.«

Der Baron hob prüfend die Klinge und ließ sie durch die Luft sausen. »Es ist ein gutes Schwert, aber denkbar ungeeignet für dich.« Murmelnd schritt er die Reihen ab und kam schließlich mit einem Anderthalbhänder zurück. Das mit glattem Leder umwickelte Heft war in der Mitte leicht verdickt, um der Hand besseren Halt zu geben. Ein klarer Sonnenstein besetzte das Zentrum des goldfarbenen Knaufs. Die Parierstange war nach unten gebogen und mit geschwungenen Symbolen verziert. Die Klinge war breit genug, um mit der Breitseite Hiebe auszuteilen. Unterhalb der Parierstange waren auf beiden Seiten schön geschwungene Zeichen eingeätzt, umrahmt von Verzierungen, die Rowarn von den Lehren seiner Muhmen her kannte: Arlúvanen – Sonnenaufgang, und Niamolaren – Mondschattenzweig.

»Probier diese Waffe mal aus«, forderte Solvan ihn auf. »Aber sei vorsichtig, die Schneide ist äußerst scharf.«

Rowarn wog das Schwert in der Hand. Es war ungeheuer leicht und das Gewicht genau ausgeglichen. Geeignet für einen stundenlangen Einsatz auf dem Feld. Er vollzog zuerst ein paar vorsichtige Übungen, dann trieb es ihn davon, und er tanzte mit dem Schwert durch die Halle. Seine Augen leuchteten noch stärker als sonst, als er schließlich wieder vor seinen Freunden stand. »Es ist ein wundervolles Schwert.«

»Halte die Schneide nach oben.« Solvan ließ ein hauchfeines Seidentuch fallen. Als es auf die Schneide fiel, wurde es sauber in zwei Teile durchtrennt und sank langsam zu beiden Seiten zu Boden.

Rowarn pfiff durch die Zähne. »Es ist scharf.«

»Luvian«, sagte der Baron stolz. »Das Schwert von Sonne und Mond. Ein Meisterstück. Es hat eine lange, traditionsreiche Geschichte und wurde von Helden getragen. Mein Vater, der eine Vorliebe für alte und kostbare Dinge hatte, trieb es auf. Ich weiß nicht wo, und ich weiß nicht, womit er es bezahlte. Er schenkte es mir zur Hochzeit, doch an mich ist es verschwendet.« Er hob die Schultern und grinste breit. »Ich kenne mich gut aus mit Metall und Waffen, aber ich kann sie nicht benutzen. Ich bin vermutlich der schlechteste Kämpfer des Landes.« Als Rowarn ihm das Schwert zurückgeben wollte, hob er abwehrend die Hand. »Es wäre mir eine Ehre, wenn du es für mich trägst, mein König. So lange schon staubt Luvian hier vor sich hin, das hat es nicht verdient. Verkaufen will ich es nicht, das wäre diesem Schwert nicht angemessen. Mögest du es nun in die letzte Schlacht um Waldsee tragen.«

»Aber ...«

»Es ist kein Geschenk, vielmehr ein Tausch. Ich nehme Lady Arlyns Schwert dafür. Die Geschichte dazu wird mir zu guten Geschäften verhelfen.«

Rowarn nahm das Schwert staunend an sich. »Dann nehme ich gerne an und werde es in deinem Namen auf dem Feld führen. Ich fühle mich sehr geehrt, Solvan.«

»Du machst mir damit eine große Freude«, versicherte der Baron. »Es ist wie für dich geschaffen, und wahrscheinlich hat es all die Jahre auf dich gewartet. Würde mich nicht wundern.«



Eines Nachmittags, als Rowarn sich im Heerlager aufhielt, begann der Boden zu zittern, und ein fernes Donnern war zu hören. Alle hielten inne und richteten den Blick nach Norden, wo eine gewaltige Schneewolke zu sehen war, die über die Hügel herabwallte.

»Was kann das sein?«, fragte Felhir staunend.

»Das sind die Pferde aus Inniu!«, rief Rowarn, rannte zu Windstürmer und galoppierte dem Donner entgegen. Und da kamen sie auch schon über die Hügel, als wären sie aus dem Schnee geboren, stürmten wiehernd und mit wehenden Mähnen den Abhang hinunter. Viele Soldaten liefen ihnen rufend und winkend entgegen, in aller Eile wurde das Gatter der bereits vorbereiteten Koppel geöffnet, in das die Herde kurz darauf hineinströmte wie ein Gebirgsbach in eine schmale Schlucht. Wiehernd und schnaubend drängelten sich Schimmel, Rappen, Füchse und Braune, ein unübersichtliches Gewirr aus zuckenden Ohren, fliegenden Mähnen und geblähten Nüstern.

Knapp achtzig junge Männer und Frauen trafen mit der Herde ein, die von Felhir in Empfang genommen wurden, während Rowarn die Pferde in Augenschein nahm. Sie waren nach der langen Reise ein wenig abgemagert, aber ansonsten in hervorragendem Zustand; man würde sie ein paar Tage auffüttern, und dann konnte mit der Ausbildung begonnen werden. Alle hatten glänzende, lebhafte Augen, keines war älter als acht Jahre. Schneemond und Schattenläufer hatten nur die Besten ausgewählt.

»Wie viele Pferde besitzen deine Muhmen, wenn sie derart viele kräftige junge Tiere entbehren können?«, fragte Solvan erstaunt.

»Ich weiß nicht genau, zwischen zwei- und dreitausend«, antwortete Rowarn. »Sie laufen meistens das ganze Jahr frei durch die Berge, wenn sie nicht für Zucht und Ausbildung oder den Verkauf gebraucht werden.«

Auch Olrig war beeindruckt. »Wie viele haben den Weg zu uns geschafft?«

»Etwa hundertneunzig«, gab der Anführer der Rekruten Auskunft, ein kräftiger junger Bursche namens Kol. Sein Gesicht war derb, aber gutmütig. »Wir haben unterwegs ein paar verloren, drei mussten wir wegen Verletzungen töten.«

»Gab es Ärger mit den Dubhani?«, wollte Rowarn wissen.

»Ja, aber jedes Mal war ihnen bereits eine Patrouille aus Ardig Hall auf den Fersen, sodass wir nahezu unbehelligt weiterziehen konnten. Ansonsten haben wir uns abseits aller Wege gehalten und uns nach der Karte orientiert, die Schattenläufer uns gegeben hat. Eine sehr gute Karte.« Kol starrte Rowarn an, dann verneigte er sich hastig. »Verzeiht, ich habe Euch nicht gleich erkannt, Herr. Es ist mir eine Ehre, Euch dienen zu dürfen.«

Bevor Rowarn etwas dazu sagen konnte, nestelte der Rekrut einen ziemlich zerknitterten Brief aus einer Tasche, der das Siegel der Velerii trug – ein stilisierter Pferdekopf unter einem Weidenzweig. Aus einer anderen Tasche kramte er ein ebenfalls zerknittertes, verschnürtes und versiegeltes Päckchen. Das Siegel war sehr alt und zeigte das Wappen von Ardig Hall. »Hier, das soll ich Euch übergeben. Und da ist noch etwas.« Suchend blickte der junge Mann sich um, dann hellte sich sein Gesicht auf. »Ah! Da kommt er ja.« Er winkte einem letzten Nachzügler zu, der soeben mit einem Beipferd bei ihnen ankam. Kol ergriff die Zügel des Zweitpferdes und reichte sie Rowarn. »Dies ist ein Geschenk, aber nicht für Euch, soll ich dazu sagen.«

Begeistert betrachtete Rowarn den feurigen jungen Hengst. Sein Fell schimmerte wie Kupfer und Gold. Mähne und Schweif wallten lang und dicht herab; er besaß eine kräftige, muskulöse Statur und einen kurzen Rücken, der schnelle, enge Wendungen erlaubte. Sein Kopf war fein und edel, die Augen klar und groß. Es gab nur einen einzigen Mann, für den dieses edle Ross gedacht sein konnte. »Gut«, sagte er. »Er soll im Stall bei unseren Pferden untergebracht werden.« Dann ließ er sich entschuldigen und zog sich auf sein Zimmer in der Burg zurück, um den Brief zu lesen; auf den Inhalt des Päckchens war er besonders gespannt.


Lieber Sohn,

deine Muhmen grüßen dich. Wenn du diesen Brief liest, sind die Pferde und auch die Rekruten hoffentlich wohlbehalten in Eisenwacht eingetroffen.

Hier bei uns ist alles wie immer. Zweimal haben Räuberbanden geglaubt, uns Scherereien machen zu müssen. Die einen waren versprengte Dubhani, die anderen eine zusammengewürfelte Truppe aus Deserteuren und Taugenichtsen. Aber wir sind leicht mit ihnen fertig geworden, und nun herrscht Winterruhe.

Es freut uns zu hören, dass Noïrun überlebt hat. Selbstverständlich schweigen wir darüber, doch nachdem er seinen treuen Kupferfuchs verloren hat, wollten wir ihm einen Ersatz geben, der seiner würdig ist. Es kann nicht angehen, dass der Heermeister von Ardig Hall auf einem zweitklassigen Pferd antritt. Übergib dem Fürsten die Zügel mit unseren besten Wünschen. 

Wir hoffen, dass der junge Kol auch daran gedacht hat, dir das kleine Päckchen zu geben. Es ist von ganz besonderem Wert und nur für dich, also öffne es nur, wenn du allein bist. Wir wissen nicht, was sich darin befindet, aber wir hatten den Auftrag, es für dich aufzubewahren und dir zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag zu geben, der hoffentlich noch nicht vorbei ist, wenn du es bekommst.

Damit möchten wir schon schließen, du hast sicher viel um die Ohren. Wir denken an dich,

Schneemond und Schattenläufer


Rowarns Herz schlug ihm bis zum Hals, und seine Finger zitterten leicht, als er das Päckchen wieder in die Hand nahm. Vorsichtig löste er die Verschnürung.

Ein feiner blassgoldener Armreif fiel heraus, außerdem ein königlicher Stirnreif im gleichen Stil, kunstvoll ziseliert und doch schlicht. Darunter lag ein zusammengefaltetes Pergament, das Rowarn nervös öffnete, denn er wusste, von wem dieser Brief stammte.


Mein Rowarn, geliebter Sohn,

wenn du diese Zeilen liest, bin ich nicht mehr. Andernfalls hätte ich den Brief längst vernichtet und dir das Geschenk persönlich übergeben.

Nein, ich habe meinen Tod noch nicht vor Augen, mein kleiner Schatz. Während ich diese Zeilen schreibe, bist du gerade einen Tag alt und ruhst dicht an meinem Herzen. Ich bin in diesem Moment sehr lebendig, genau wie du auch. Ich weiß, alle Eltern empfinden ihre Kinder als die schönsten, aber du, mein Schmetterling, bist wirklich das entzückendste kleine Wesen, das man sich vorstellen kann. Wie aufmerksam deine Augen bereits schauen, und wie zufrieden du gluckst und kicherst! Deine Muhmen können es kaum mehr erwarten, dich bald ganz für sich zu haben. So verliebt in einen Zweibeiner habe ich die Pferdmenschen noch nie erlebt.

Du hast die Augen deines Vaters in seinen wärmsten Momenten, wenn er mir ganz nahe war. Sicher weißt du inzwischen, wer es ist. Eines Tages wird auch er von dir erfahren haben, und dann hat er bestimmt nach dir gesucht. Es ist unvermeidlich, dass ihr einander finden werdet.

Mein Liebling, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Ich muss dich schon sehr bald verlassen. Nicht, weil ich es will, sondern weil ich es muss. Femris – wer das ist, wirst du ebenfalls längst wissen – wird eines Tages herausfinden, dass es dich gibt, und dann bist du in großer Gefahr. Ich mache mir nichts vor, mein Sohn: Noch einmal kann ich seinem Ansturm nicht standhalten. Die Macht von Ardig Hall ist alt und verbraucht, und der Unsterbliche wird mit jedem Jahrzehnt stärker. Es bleibt mir deswegen verwehrt, dich heranwachsen zu sehen. 

Wenn du nun diese Zeilen liest, sind wir uns niemals begegnet, obwohl ich mit deinen Muhmen vereinbart hatte, dass sie dich an deinem einundzwanzigsten Geburtstag zu mir schicken. Verzeih mir, mein Kind, dass ich nicht mehr für dich da bin. Dass du nie von mir wusstest. Ich musste diese harte Entscheidung treffen, und ich hoffe, dass du mich eines Tages verstehen wirst.

Mehr kann ich jetzt nicht sagen, weil mir sonst das Herz bricht. Ich werde dich immer lieben und jeden Tag an dich denken, und jedes Frühjahr werde ich einen Weißen Falken schicken, der mir von dir berichten soll.

Nun zu diesem Geschenk. Du kannst dir sicher vorstellen, für wen es gedacht ist, doch nimm dir Zeit.

Eines Tages, Rowarn, wenn du deine Königin gefunden hast, so binde dich mit diesem Armreif an sie, und kröne sie mit dem Stirnreif. Alle Naurakafrauen von Ardig Hall haben diese Insignien getragen, und da du der letzte männliche Erbe bist, so wäre es mir eine Freude, wenn du den alten Hochzeits- und Krönungsschmuck an deine künftige Königin weitergibst. Ich weiß, du wirst die richtige Wahl treffen. 

Schmuck soll getragen werden und nicht in einer Kiste vor sich hinstauben. Ich habe ihn auch getragen, solange ich mit deinem Vater zusammengelebt habe. Bis zu diesem Moment, um genau zu sein. Jetzt reiche ich ihn an dich weiter. Möge er dich so glücklich machen wie einstmals mich. Das ist alles, was ich dir in diesem Moment geben kann, bevor ich reise, zusammen mit meiner Erinnerung.

In Liebe, deine Mutter


Rowarn saß lange Zeit wie erschlagen da. Alles fügte sich zusammen. Und die Sehnsucht nach Arlyn überwältigte ihn derart, dass er den Entschluss fasste, so schnell wie möglich nach Farnheim zurückzukehren.

Doch zunächst wollte er sich um die Aufstellung der neuen Reiterschar kümmern, denn davon hing sehr viel ab. Mit dieser Verstärkung hatten sie eine starke Einheit, die den Fußtruppen Dubhans um ein Vielfaches überlegen war. Eine schlagkräftige Reitertruppe konnte das Ungleichgewicht der Kräfte zumindest ein wenig wettmachen.

Die Tage vergingen schnell. Doch als Rowarn aufbrechen wollte, kam der Sturm. Sechs Tage lang tobte ein Unwetter aus Schnee und Hagel um die Burg Eisenwacht. Niemand konnte sich mehr nach draußen wagen. Am siebten Tag fand Rowarn draußen eine völlig veränderte Landschaft vor, voll tiefer Schneewehen und neuer Hügel. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel herab.

»Wie sollen wir da durchkommen?«, murmelte der junge König unglücklich. Seit seinem Aufbruch war er ohne Nachricht aus Farnheim, obwohl er drei Briefe an Angmor geschickt hatte. Sicher gab es Gründe für das lange Schweigen – der wahrscheinlichste war, dass der Dämon nie Briefe schrieb. An einen Angriff glaubte Rowarn nicht; Farnheim galt nach wie vor als neutraler und unantastbarer Ort der Heilung, daran würde Femris gewiss nicht rütteln. Und mit Marodeuren wurde sein Vater leicht fertig. Ganz abgesehen davon, dass in den oberen Sphären der Donnervogel-Titan über Farnheim wachte.

»Wir müssen warten, bis die Schneeschmelze einsetzt«, sagte Olrig. »Das wird nicht mehr lange dauern, denn morgen ist Wintersonnenwende. Dann werden die Tage endlich wieder länger, das Frühjahr kommt ...«

»Und ein neues Jahr fängt an!«, fügte Baron Solvan hinzu. »Das wollen wir gebührend und gemeinsam feiern, Freunde, und dann könnt ihr getrost aufbrechen.«



Endlich war es dann soweit. Die Tage des jungen Jahres wurden länger, es wurde rasch milder. Die Schneeschmelze setzte ein, die Wege und Straßen verwandelten sich in schlammige Bachläufe. Trotzdem wollten sie den Aufbruch nicht länger hinausschieben, vor allem Graum trieb es hinaus. »Ich werde hier drin fett und träge!«, beschwerte er sich bei Rowarn. »Diese Zwergenfrauen lassen mich nicht mehr aus ihren Klauen.« Rowarn grinste: »Was für ein schreckliches Schicksal.« Bei sich dachte er: Nicht nur Graum hat es hier gefallen. Er hatte noch nie eine so fröhliche, genussfreudige und trotzdem bodenständige Familie erlebt wie die des Barons. Zudem hatten sie das Land gut im Griff, und gewiefte Kaufleute waren sie darüber hinaus, nicht zuletzt dank Arhilds Geschick. So nah an Dubhan war es nicht einfach, sich so lange gegen den feindlichen Einfluss zu behaupten – noch dazu, da Femris sicher sehr an den Erzen und der Schmiede interessiert war.

»Hat er nicht versucht, dich mit deinem Sohn zu erpressen?«, hatte Rowarn den Baron gefragt.

»Humrig ist freiwillig gegangen«, hatte Solvan geantwortet. »Doch er hat sein Land nicht verraten.«

»Das wundert mich.«

»Nun, da gab es nichts zu verraten – es gibt keinen Geheimweg nach Eisenwacht, und ich habe Vorsorge getroffen, sollte ich je angegriffen werden. Das darf ruhig jeder wissen. Ich setze im Fall einer drohenden Niederlage einen Mechanismus in Gang, der sämtliche Minen einstürzen lässt, und auch die Schmiede wird vollständig zerstört. Nur Arhild und ich wissen, wie man den Einsturz auslöst. Es ist unwahrscheinlich, dass sie und ich gleichzeitig den Tod finden oder in Gefangenschaft geraten. Zwergenfrauen dürfen vor allem niemals unterschätzt werden. Femris würde damit also nichts gewinnen, daher trachtet er danach, auf andere Weise an unsere Waffen und Rüstungen heranzukommen.«

Das beschäftigte Rowarn eine Weile, doch erst kurz vor der Abreise wagte er, die Frage zu stellen: »Warum ist Humrig gegangen?«

Solvan sprach ruhig: »Er ist davon überzeugt, dass Femris im Recht ist.«

Daraufhin fragte Rowarn nicht weiter. 

Doch schon bald beschäftigten Rowarn ganz andere Gedanken.

Je näher sie Farnheim kamen, desto aufgeregter wurde der junge König. Er hatte das Gefühl, als wäre er Jahre fort gewesen, und konnte es kaum mehr erwarten, endlich seine Lady wiederzusehen.

Aber auch Graum und Olrig freuten sich, als sie Haus Farnheim erblickten, mit rauchendem Kamin und in unverminderter, in sich ruhender Stärke. Auch im Tal hatte die Schneeschmelze längst eingesetzt, die Wege waren zum großen Teil geräumt, und von den Dächern und Bäumen tropfte bereits das Schmelzwasser. Der Tag war sonnig und wolkenlos, ein seltsamer Glanz lag über allem. Die Luft war mild und erzählte von kommender Blüte. Der vertraute Frieden lag über allem.

Rowarn hörte Schwerterklirren am nördlichen Ende des Hauses und lenkte Windstürmer dorthin. Voller Freude erblickte der König im Viereck den Fürsten, kraftvoll und elegant wie in alten Tagen, während er Laradim und Reeb gerade die wahre Schwertkunst vorführte. Die beiden Ritter keuchten und schwitzten, ihre Bewegungen wirkten erschöpft und fahrig, wohingegen Noïrun, nur mit Hemd, Hose und geschnürten Stiefeln bekleidet, sich leichtfüßig wie ein Tänzer bewegte. Jeder Schlag saß genau, und er zeigte kein Zeichen von Müdigkeit. Unter dem Hemd zeichneten sich seine Muskeln kraftvoll mit jeder Bewegung ab.

Obwohl Lara und Reeb zur Garde gehörten und damit zu den besten Kämpfern Valias, wirkten sie dem Fürsten gegenüber plump und ungelenk. Er hatte gerade die Wahl, sie zu entwaffnen, zu verletzen oder zu töten, und das im Verlauf eines Herzschlags, ohne dass es ihnen vermutlich bewusst war.

Als die beiden Ritter Rowarn bemerkten, traten sie zurück, ließen die Schwerter sinken und verneigten sich. Noïrun drehte sich um, und ein freudiger Ausdruck huschte über sein sonst so strenges Antlitz. Seine grünen Augen funkelten hellwach und lebendig, und nur wenige graue Fäden hatten sich in sein schulterlanges blondes Haar geschlichen. Keine weiteren Spuren seiner schweren Verletzungen waren mehr zu erkennen, als wäre es nie geschehen. Angmors Essenz hatte dem Fürsten sein Leben zurückgegeben. Und vielleicht noch ein bisschen mehr, denn er wirkte jünger, das Gesicht glatter.

»Hallo, Noïrun«, strahlte Rowarn.

»Rowarn!«, rief der Fürst. »Wie schön, dich wohlauf wiederzusehen. Ich war schon drauf und dran, euch zu folgen, aber die Lady lässt mich Tag und Nacht bewachen, und ich konnte niemanden bestechen, mir ein Pferd zu geben.« Er entblößte seine ebenmäßigen Zähne in einem breiten Lächeln. 

»Es geht ja auch mal ohne dich«, erklang Olrigs polternde Stimme hinter Rowarn, und der Zwerg stapfte an ihm vorbei auf den Fürsten zu. Die beiden Männer umarmten sich lachend und klopften sich auf die Schultern.

»Was das Pferd betrifft ...«, fing Rowarn an und deutete hinter sich.

Noïruns Augen weiteten sich, als er den jungen Hengst entdeckte. »Ist es möglich ... er sieht beinahe so aus wie ...«

»Ein Geschenk meiner Muhmen an dich. Sie sind der Ansicht, dass der Heermeister sich nicht auf einem zweitklassigen Pferd zeigen darf.«

Der Fürst war für einen Moment sprachlos vor Freude, berührte vorsichtig die samtweichen Nüstern des Hengstes, der ihn neugierig ansah. Langsam sagte er: »Sein Fell hat die Farbe eines Ahornblatts im Herbst, wenn der Regen darauf abperlt, im neu erstrahlenden Sonnenlicht zwischen den abziehenden Wolken.«

Rowarn lächelte. »Genau das ist sein Name: Rundyr, was Ahornglanz bedeutet in der Sprache meiner Muhmen.«

»So werde auch ich ihn rufen.«

Ein Knecht nahm ihnen Windstürmer und den Schimmel ab, und Rowarn konnte gerade noch nach seinen Reisebeutel greifen. So unkonventionell hatte er die Rückkehr eigentlich nicht geplant, eigentlich hatte er ganz offiziell zum Vordereingang reiten wollen, aber das Wiedersehen mit Noïrun hatte ihn von seinem Vorhaben abgelenkt.

Er stutzte, als er plötzlich eine starke Präsenz spürte, und drehte sich um. Angmor stand vor ihm.

»Vater ...«, sagte Rowarn und lächelte den Visionenritter scheu an. Es hatte Momente der Annäherung gegeben, vor allem nach der Heilung Noïruns. Aber darüber war schon einige Zeit vergangen.

»Ich freue mich, dich gesund wiederzusehen«, sagte Angmor mit gewohnt tiefer, ruhiger Stimme. Seine eisglühenden Augen waren völlig klar. »Bist du zufrieden mit dem, was du vorgefunden hast?«

»Ja ... ja, es ist alles in Ordnung. In einem Mondwechsel werden wir ein großes, leistungsstarkes Heer haben, bereit zum Marsch gegen Dubhan.«

»Gut.«

Ohne ein weiteres Wort ging Angmor, und Rowarn sah ihm wieder einmal betroffen nach.

Noïrun steckte das Schwert ein. »Lasst uns ins Haus gehen und auf Rowarns Rückkehr anstoßen! Dann wirst du mir genauestens Bericht erstatten, und wehe, du vergisst etwas!«

»Das werde ich nicht, ich werde sogar sehr ausführlich sein«, erwiderte Rowarn und lachte schon wieder. »Ich habe eine Menge Aufzeichnungen mit, und Briefe von Felhir und Ragon. In den nächsten Tagen musst du mir berichten, was du während unserer Abwesenheit an Strategien geplant hast, und ich bin sicher, dass wir noch weitere Ideen haben werden. Aber jetzt muss ich erst etwas anderes erledigen.« Er winkte Reeb. »Bitte hol Angmor zurück, und du, Lara, gibst Arlyn Bescheid, dass sie hierher zum Hintereingang kommen soll, denn ... heute bin ich nicht als Gast oder Besucher hier, sondern offiziell, daher muss ich der Herrin meine Aufwartung machen und von ihr die Erlaubnis erhalten, Haus Farnheim zu betreten. Ich möchte, dass ihr alle dabei seid, wenn ich das tue.«

Noïrun verharrte erstaunt und sah Olrig auffordernd an, der grinsend mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihm stand und sich weigerte, auch nur ein Wort zu sagen. Hinter ihm erhob sich Graum in seiner Dämonengestalt und zeigte seine furchteinflößenden Zähne in einem ebenso breiten Grinsen.

Reeb kehrte mit dem Visionenritter zurück, der ein wenig ungehalten wirkte. Rowarn fragte sich, wie sein Vater gleich reagieren würde.

»Es ist seltsam«, begann er mit einem kurzen Blick in die Runde; ziemlich kurzatmig in seiner Aufregung, aber das würde er jetzt auch noch durchstehen. »Ich bin bettelarm, besitze nicht einmal ein Kupferstück, und trotzdem komme ich immer irgendwie zu kostbaren Dingen, und das stets genau im richtigen Moment. Baron Solvan verehrte mir sein Schwert, aber das ist noch lange nicht alles.« Er öffnete das Bündel, legte den Umhang um seine Schultern und setzte den Helm auf. Reeb und Laradim gafften mit offenem Mund, selbst Noïrun war für einen Moment erstaunt.

In diesem Moment kam Arlyn aus dem Haus, und Rowarn musste mehrmals heftig schlucken, so sehr wühlte ihr Anblick ihn auf. Es war beinahe wie bei ihrer ersten Begegnung, ein Lichtstrahl fiel auf sie und ließ ihre Aura wie eine zweite Sonne aufleuchten. Ihre schwarzblauen Augen lächelten ihn an, genauso wie damals, nur dass sie diesmal keine Schale mit Orchideenwasser trug. Rowarns Herz quoll über. Genau das hatte er befürchtet, weil es ihn garantiert zum Stottern bringen würde. Deswegen hatte er den ganzen Weg hindurch geübt, wieder und wieder, um jetzt nicht als ungeschickter Tollpatsch dazustehen.

Doch er sah auch, wie Arlyns Blick auf seinen Helm und den Umhang fiel und sich Staunen über die Wiedersehensfreude in ihrem Gesicht legte. Sie konnte nicht ahnen, was nun auf sie zukam, und das war gut so. Andernfalls hätte ihn längst der Mut verlassen.

»Ich bin der gekrönte König von Ardig Hall«, sprach Rowarn mit beherrschter Stimme weiter. »Baron Solvan von Eisenwacht hat das Zeremoniell übernommen, und Olrig und Felhir waren Zeugen. Als König habe ich nun offiziell das Erbe von Ardig Hall übernommen und vor meinem Aufbruch eine Aufforderung an Dubhan geschickt, mir die drei Splitter zusammen mit einer Unterwerfungserklärung auszuhändigen, um die Friedensverhandlungen zu eröffnen. Andernfalls würde ich im Frühjahr angreifen.« 

Langsam ging er auf die Lady zu. »Dies ist mein erster Besuch in Farnheim als König von Ardig Hall, und ich komme in Frieden und Freundschaft und mit dem Wunsch, unseren Bund zu erneuern und ... dauerhaft zu schließen.«

Arlyn verharrte überrascht, als Rowarn feierlich vor ihr auf ein Knie sank und ihre Hand ergriff.

»Lady Arlyn von Farnheim«, setzte Rowarn nun mit doch leicht zitternder Stimme an, »dene ă danu do círa fārnheĩm, årlyněvī, ich entbiete meinen Gruß Arlyn, der edlen Herrin von Farnheim. ā’staņe denaru varunŏ-me. Und ich bitte darum, mein Herz geben zu dürfen. mylannië, für immer.«

Arlyns goldene Pupillen weiteten sich. Rowarn drehte den Kopf und blickte schüchtern zu seinem Vater hoch, der wie eine schwarze Säule abseits stand. »Habe ich es richtig ausgesprochen?«, flüsterte er. Er hoffte, dass er nicht gerade eine fürchterliche Beleidigung von sich gegeben hatte.

Doch anstelle von Angmor sagte Arlyn: »Ja, das hast du.« Sie hatte ihre Stimme kaum mehr unter Kontrolle, war gerührt und verwirrt zugleich.

»Da bin ich froh«, stieß Rowarn erleichtert hervor. »Graum war schon völlig verzweifelt, weil ich mich so dumm angestellt habe.« Er räusperte sich und blickte ernst zu der Heilerin auf. »Lady Arlyn«, fuhr er mit festerer Stimme fort, »ich bin der König von Ardig Hall, und momentan besitze ich nichts außer den Sachen, die ich trage. Ich stecke mitten in einem Krieg, vor dessen Ausgang sich jeder fürchtet – und ich weiß, es ist der denkbar schlechteste Augenblick, aber wenn wir gemeinsam gegen Femris zu Felde ziehen, sollten wir unser Bündnis auf standesgemäße Art schließen. Ich bin hierher gekommen, um offiziell um Euch zu werben, edle Herrin.« Er nestelte aus einer Tasche den Armreif seiner Mutter hervor und hielt ihn hoch. »Ich bitte Euch, Lady Arlyn von Farnheim, meine Gemahlin zu werden und diesen Bund mit mir einzugehen, solange Ihr mein Herz bei Euch bewahren wollt, mit dem Segen, den Fürst Noïrun Ohneland uns hoffentlich erteilen wird. Ich bitte Euch, als meine Königin an meiner Seite zu leben, die Ihr in meinem Herzen längst seid. Ich bitte Euch, meinen Antrag und die Krone anzunehmen«, hier holte er den Stirnreif hervor und hielt ihn ebenfalls hoch, »um als meine Gefährtin mit mir in den Krieg zu ziehen und dem Feind zu zeigen, dass wir gemeinsam um ein Vielfaches stärker sind als er allein.«

Atemlos hielt er inne und lauschte in die dröhnende Stille hinein. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sein Vater totenbleich geworden war, er hatte den Schmuck erkannt. Auch die anderen, mit Ausnahme von Olrig und Graum, schwiegen und starrten Rowarn entgeistert an. Und zum ersten, zum allerersten Mal schien Noïrun etwas nicht gewusst zu haben und war sprachlos.

»Rowarn«, sagte Arlyn leise und neigte sich zu ihm, damit die anderen sie nicht hören konnten, »hättest du mich nicht wenigstens ein bisschen vorwarnen können?«

»Nein«, wisperte er, »denn ich musste all meinen Mut zusammen nehmen, und es musste geschehen, bevor ich dein Haus betrete. Ich könnte es niemals ertragen, wenn man über dich ... reden würde. Du bedeutest mir alles. Und deshalb kann ich nicht hinein, solange du meine Werbung nicht annimmst.«

Sie runzelte leicht die Stirn. »Dann habe ich also keine Wahl? Ich kann nicht einmal darüber nachdenken?«

Treuherzig blickte er zu ihr hoch. »Zu deiner ersten Frage: Möchtest du eine? Zur zweiten: Hast du das nicht schon lange?«

Da musste sie lachen, und der glockenhelle Klang breitete sich über ganz Farnheim aus und ließ selbst die Leute im angrenzenden Markt innehalten und lauschen.

»Wer so artig in der ehrwürdigen Ursprache fragt, verdient nur eine Antwort«, rief Arlyn laut vernehmlich: »konnéste. Ich nehme an!«

Rowarn sprang auf. Seine Augen leuchteten heller als die Sonne und er strahlte über das ganze Gesicht. Er hätte die Welt umarmen können.

»Hoch Arlyn und Rowarn!«, schrie Olrig daraufhin und warf seinen Helm in die Luft. Graum stimmte dazu einen schaurigen Katzengesang an. Reeb und Lara applaudierten begeistert.

Noïrun lächelte. »Ich werde euren Bund sehr gern besiegeln.«

Rianda, Landi, Korela und einige Mägde kamen neugierig aus dem Haus gerannt, und Arlyn wandte sich ihnen zu.

»Rianda, bereite alles für eine Hochzeit vor«, sagte sie zu der älteren Freundin, die die Urenkelin ihrer Amme war.

Die Frau schlug die Hände vor der Brust zusammen und brach in Tränen aus. »Arlyn! Dass ich das erleben darf! Wann soll sie stattfinden?«

»In drei Tagen am Abend«, schmunzelte die Lady. »Wir brauchen alle Räume, denn die Einwohner von Farnheim müssen genug Platz haben. Und reichhaltig zu essen, dass jeder satt wird, gute Getränke und Spielleute, die zum Tanz aufspielen.«

»Und ein Kleid!«, rief Landi. »Oh, ich werde wunderbaren Stoff und ...«

Arlyn hob die Hand. »Ich habe bereits ein Gewand, und mein künftiger Gemahl ebenso. Kein Prunk, meine Damen, nur gute Bewirtung für alle Gäste, damit ist es genug. Die Zeremonie selbst findet im kleinen Kreise statt, niemand außer unseren Freunden wird dabei sein.«

Rianda und Landi machten enttäuschte Gesichter, die Mägde protestierten lautstark, vor allem wegen der kurzen Frist von nur drei Tagen. Arlyn gab Korela einen Wink, daraufhin scheuchte die Stellvertreterin der Herrin alle zurück ins Haus, und sie liefen kichernd und schwatzend davon.

Rowarn wollte Arlyn in die Arme schließen, aber da trat Angmor dazwischen.

»Einen Augenblick«, sagte er streng, »so einfach geht das nicht. Bei einem Bund unter den Alten Völkern, und erst recht, wenn Dämonen daran beteiligt sind, müssen bestimmte Regeln eingehalten werden.«

Rowarn sah seinen Vater verwirrt an, Arlyn hingegen wirkte neugierig.

»Unter den Alten Völkern ist es eine ernste Angelegenheit, sich das Heiratsversprechen zu geben«, fuhr der Visionenritter fort. »Arlyn, du weißt, welche Fährnisse deine Eltern zu bewältigen hatten. Über zweihundert Jahre lang hat deine Mutter nach deinem Vater gesucht. Doch als sie sich dann gefunden hatten, haben selbst sie sich der Prüfung unterworfen. Und anstelle deines Vaters werde nun ich dafür sorgen, dass ihr die Regeln einhaltet. Um deine Eltern zu ehren, Arlyn, und deine Mutter, Rowarn – und um festzustellen, ob ihr diesen endgültigen Schritt auch wirklich unternehmen wollt. Bei den Zwergen und Menschen können Eheleute sich scheiden lassen, bei den Alten ist es jedoch anders. Für sie hat dieser Bund eine besondere Bedeutung, vor allem, wenn sie Machtträger sind. Das bringt Veränderungen im Gefüge der Welt mit sich und deshalb muss stets das Gleichgewicht gewahrt bleiben.«

Rowarn hatte noch nie eine so lange Rede aus dem Mund seines Vaters gehört, deshalb wusste er, wie ernst es ihm war.

Arlyn wirkte allerdings eher amüsiert, sie schien Gefallen daran zu finden, dass die Erlösung erst nach einigen Tagen der süßen Qual folgen sollte. »Dann bitte ich dich, uns bei den Ritualen behilflich zu sein.«

»Diese drei Tage, die nun bis zur Hochzeit folgen müssen – denn das hast du instinktiv richtig erkannt – dienen der innerlichen und äußerlichen Reinigung gleichermaßen, der Besinnung auf sich selbst und auf die eigenen Ziele«, führte Angmor aus. »Ihr werdet außer zu den Mahlzeiten keine Zeit miteinander verbringen. Die Mahlzeiten dienen der Ehrung der Braut. Dabei wirst du Arlyn aufwarten, Rowarn. So lernst du zugleich, dich zu beherrschen, und was sich ziemt. Solltest du Arlyn außerhalb der Mahlzeiten zufällig begegnen, halte Abstand und den Blick gesenkt. Gehe in Demut an diese große Veränderung deines Lebens heran.«

Noïrun, der wohl die wachsende Verzweiflung auf Rowarns Gesicht erkannte, fragte unverblümt: »Was versteht eigentlich ein Dämon von diesen Dingen?«

Angmor wandte sich ihm zu, und Noïruns Fuß zuckte kurz, er wich jedoch nicht zurück.

»Solche Dinge wissen selbst Dämonen, vor allem, wenn sie lange Zeit in der Welt der Menschen und Alten Völker gelebt haben«, sprach der Visionenritter mit grollender Stimme. »Ich lernte viel von Loghir, und von Ylwa gleichermaßen. Was blieb mir anderes übrig, als ich zum Regenbogen kam!«

»Es soll alles geschehen, wie du es sagst«, warf Arlyn besänftigend ein. »Es ist mir eine Ehre, dass du an meines Vaters statt diese Rolle übernehmen wirst, und ich werde alles befolgen, was du mir aufträgst.« Ihre Augen wurden plötzlich feucht, und sie ging rasch ins Haus.

Rowarn stand völlig verdattert da und errötete, als er seine Freunde breit grinsen sah.

»Willkommen im Joch«, kicherte Olrig.

»Aber ... wie soll ich das ... nach der langen Zeit, und ihr so nah ...«, stammelte er unglücklich. Er hatte sich das sehr viel romantischer vorgestellt nach der langen Trennung, vor allem heute Nacht.

Der Fürst legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sieh es so, Junge«, sagte er schmunzelnd, »dann wird es so sein wie das erste Mal oder sogar noch besser.« Er zwinkerte ihm zu und hob dann auffordernd die Hände. »Nun, es gibt viel zu feiern, doch vorher haben wir eine Menge zu tun. Reeb, Laradim, ihr kümmert euch heute allein um die Ausbildung der Rekruten. Rowarn, Olrig, ihr werdet mir nun alles berichten. Angmor, wirst du dabei sein?«

»Ja«, antwortete der Visionenritter.

»Ich ebenfalls«, miaute Graum und ging voran.

Angmor wartete, bis alle gegangen waren, dann hielt er Rowarn auf. »Sohn ...«

»Ich ... es geht alles sehr schnell, nicht wahr?«, sprudelte Rowarn hervor. »Aber ich musste einfach ...«

»Rowarn«, unterbrach Angmor. »Du musst mir gar nichts erklären, und ich ... bin überwältigt, nicht zum ersten Mal, von Ylwas Weisheit und Voraussicht. Sie wäre wahrscheinlich der beste Visionenritter von uns allen gewesen.« Für einen kurzen Augenblick wandelte sich seine Hautfarbe zu dunklem Blau, und seine Hörner glitzerten wie mit Silberstaub überzogen. Er schien in die Höhe zu wachsen, und dort wo sein finsterer Schatten auf den Boden fiel, schmolz der Schnee. Durch die Erinnerung wurde er für einen Moment wieder jung. »Alles fügt sich zusammen.«

»Und alles nähert sich dem Ende. Ja, ich weiß.« Rowarn nickte. Als er gehen wollte, fügte sein Vater hinzu:

»Eines noch. Tu niemals etwas aus einem Schuldgefühl heraus, und triff keine Entscheidung auf dieser Grundlage. Noch dazu, wenn es gar nicht dich betrifft.«

Rowarn begegnete ruhig seinem Blick. Er wunderte sich nicht, dass sein Vater dies ansprach, denn er hatte in einem Brief kurz die Begegnung mit Femris erwähnt, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. »Du denkst, ich fühle mich deinetwegen schuldig?«

»Wenn es so wäre, wäre es falsch. Du bist nur für deine eigenen Taten verantwortlich, niemals für die anderer.«

»Ich will nur alles tun, dass nicht noch einmal geschieht, was nicht geschehen darf.« Rowarn wandte sich ab und ging auf das Haus zu, dann zögerte er doch und rief seinem Vater zu: »Eines Tages müssen wir darüber reden!«

»Nicht jetzt, Rowarn. Nicht jetzt

Rowarn winkte ab und ging weiter.

Angmor schloss plötzlich mit zwei schnellen Schritten zu ihm auf, als er schon an der Tür war. »Aber ich sage dir etwas anderes.« Noch immer lag der Glanz über dem Dämon, und Rowarn schluckte schwer, überwältigt von seiner Präsenz.

»Dies ist eine glückliche Fügung in vielerlei Hinsicht. Der Bund mit Arlyn wird dich stärken und dir mehr Rückhalt geben. Vor allem den Hütern gegenüber. Und ich glaube, dies war ein weiterer wichtiger Schritt, um das Tabernakel seiner Bestimmung zuzuführen. Ich kann es spüren, es gibt eine Veränderung in der magischen Strömung. Deine Mutter muss das bereits erkannt haben, als du noch nicht einmal geboren warst.« Angmor schüttelte den mächtigen gehörnten Kopf. »Schon, als sie noch ein Kind war, wusste sie mehr als ich. Das faszinierte mich von Anfang an. Niemals hatte es bis dahin jemanden gegeben, der stärker und weitsichtiger gewesen wäre als ich.«

Rowarn schluckte. »Entschuldige, dass ich vorhin so ungestüm war ...«

»Darum habe ich die Aufgabe des Bundführers übernommen. Noch etwas anderes.« Angmors Blick richtete sich auf den Schwertknauf an Rowarns linker Seite. »Was ich da sehe, kommt mir bekannt vor. Zeig mir dein Schwert.«

»Ich habe es von Solvan bekommen.« Rowarn zog die schimmernde Klinge aus der Scheide. Die Maserungen im Metall schimmerten im Sonnenlicht auf.

Angmor starrte einen langen, schweigenden Moment darauf. »Luvian«, sagte er dann. »Lichtsängers Schwert, das als verschollen galt.«

»Lichtsänger? Ist das nicht ...«

»Der berühmteste aller Velerii, ja. Er sang nach der Titanenschlacht, bis seine Stimme brach. Er starb vor seiner Zeit.«

Rowarn war überwältigt und beschämt zugleich. Solvan hatte ihm nie gesagt, wie wertvoll diese Klinge war!

»Was für ein bedeutungsvoller Augenblick«, fuhr Angmor fort. »Ja, wahrhaftig, alles fügt sich zusammen und kommt an seinen Platz. Hüte dieses Schwert gut, mein Sohn, denn es wurde in den frühen Tagen Waldsees geschmiedet und musste seither nie geschärft werden. Es soll für dich das Sinnbild des wiedererstehenden Ardig Hall sein. Verliere es nicht gleich wieder, so wie das andere.«

»O weh«, flüsterte Rowarn.

»Aber trotz allem ist es nur ein Schwert«, sagte sein Vater daraufhin und ging ins Haus.



Die Nachricht sprach sich wie ein Lauffeuer herum, und ganz Farnheim summte bald wie ein Bienenstock vor Geschäftigkeit. Rowarn hatte keine Zeit nachzudenken, denn er war den ganzen Tag und häufig auch noch nachts mit Noïrun zusammen. Inzwischen war Nachricht aus Dubhan eingetroffen – eine abgeschlagene Hand, die einen Fetzen der Fahne von Ardig Hall hielt. Eine deutliche Antwort, die sie alle nur noch mehr in ihrer Entschlossenheit bestärkte. Arlyn sah Rowarn in diesen Tagen wie befohlen nur zu den Mittags- und Abendmahlzeiten. Er war glücklich, ihr seine Aufwartung machen zu dürfen, auch wenn dies nach genauen Verhaltensmustern ablaufen musste. Er durfte dabei nicht einmal in der Haltung einen Fehler machen. Doch Rowarn verstand inzwischen, worin der Reiz dieser formellen Werbung lag, und er zeigte sich gemäß dem Ritual ebenso zurückhaltend und kühl wie Arlyn, ohne ins Schwanken zu geraten. Er kostete die Qual aus, denn umso schöner würde dann die Erlösung sein, wie Noïrun es vorhergesagt hatte. Gemäß Angmors Anweisungen führte er auch die Reinigungsrituale durch und musste zugeben, dass er sich tatsächlich von Stunde zu Stunde besser fühlte, freier und gelöster. Und voller Gewissheit, dass er das Richtige tat. Er gehörte zu Arlyn, und sie zu ihm.

Allerdings war er manchmal doch am Ende seiner Geduld. »Warum muss es so kompliziert und streng geregelt sein?«, fragte er einmal, als er bis tief in die Nacht eine bestimmte Übung, eine Schale Rosenwasser für die Finger zu reichen, wieder und wieder verpatzte.

»Eine solche Prüfung kann nicht schwer genug gestellt werden«, antwortete Angmor. »Erst recht nicht bei so besonderen Wesen, wie ihr es seid.«



Als der Tag gekommen war, stand Rowarn zwei Stunden vor dem Morgengrauen auf und ging allein im nächtlichen Wald spazieren. Nicht einmal Graum, sonst stets sein unauffälliger Schatten, hatte sein Davonschleichen bemerkt.

Es war kalt, aber der schneidende Frost war gebrochen. Rowarn kuschelte sich in seinen Winterumhang und genoss die frische Luft. Still ragten die dunklen Stämme der Bäume um ihn auf, nichts regte sich. Über ihm glitzerte der Sternenhimmel zum Greifen nah. Nur Ishtrus Träne strahlte weit entfernt, und rechts daneben fiel Rowarn zum ersten Mal ein dünner Staubschleier auf – die Überreste des zerstörten Mondes, von dem Arlyn erzählt hatte. Früher hatte er nie darauf geachtet.

Rowarn fühlte sich eins mit sich und der Welt, zufrieden und für alles gewappnet. Als er ein bläuliches Leuchten zwischen den Bäumen auf sich zukommen sah, konnte er es kaum fassen, und für einen Moment war er in Versuchung, so schnell wie möglich zum Haus zurückzulaufen und Angmor zu alarmieren. Aber vielleicht würde die Aurengestalt ihm dorthin folgen, und dann würde Arlyn ...

»Du wagst dich hierher?«, zischte er, als der Unsterbliche bei ihm verhielt.

»Ich sagte dir, dass wir uns bald wiedersehen«, erwiderte Femris. »Du gehörst mir.«

»Aber dieser Ort ist heilig ...«

»Und ich bin weder stofflich noch übe ich meine Macht aus. Doch du solltest allmählich wissen, dass du nirgends vor mir sicher bist. Du kannst mir nicht entkommen.«

»Ich fliehe nicht«, sagte Rowarn ruhig, obwohl er innerlich aufgewühlt war. »Aber ich werde dir auch nicht folgen, und ich gehöre dir ganz gewiss nicht.«

»Weil du glaubst, einer anderen zu gehören?« Femris lachte spöttisch. »Glaubst du, du wirst stärker, indem du Arlyns Macht an dich bindest?«

»In erster Linie geht es mir um Arlyns Schutz«, machte Rowarn deutlich. 

»Es gibt keinen Schutz für sie«, zischte Femris. »Dieser Bund wird euch beide vernichten. Jede Bindung ist der Grundstein für einen Angriff.«

»Davor fürchte ich mich nicht«, erwiderte Rowarn mutig. »Du bist allein, selbst Tamron hat dich verlassen. Es gibt niemanden, der dir Rückendeckung bietet. Das ist doch das Wesen der Finsternis, nicht wahr? Die Einsamkeit. Die Bindung an die Leere.«

»Sie ist das Gleichgewicht.«

»Was ist das schon ohne Harmonie, Femris. Lichtlos und kalt! Genau das wird dich erwarten, wenn du dem Ruf der Finsternis weiter folgst.«

»Du hast keine Vorstellung«, flüsterte Femris düster, »zu welchen Dingen ich fähig bin. Und was ich tun werde, wenn das Tabernakel vollständig in meinem Besitz ist.«

»Dann wirst du vielleicht noch tiefer fallen als wir alle«, versetzte Rowarn. Innerlich graute ihm. Femris stieß keine leeren Drohungen aus, er wusste genau, wozu er fähig war. Nicht auszudenken, wenn er tatsächlich das Tor für die Finsternis öffnete ...

Femris hob die Hand. »Wenn du Arlyn wirklich schützen willst, dann gehe nicht den Bund mit ihr ein, und lasse sie hier im Schutz Farnheims. Andernfalls wirst du sie verlieren und auch dich selbst.« Er wandte sich zum Gehen, dann fügte er noch etwas hinzu: »Du kannst nicht immer darauf vertrauen, rechtzeitig gerettet zu werden.«

Rowarn stutzte. »Der Waldlöwe ...«, flüsterte er. »Er war also wirklich da? Es war keine Illusion? Wer war er?«

»Das spielt keine Rolle mehr«, sagte Femris ruhig.

Eine eiskalte Hand griff nach Rowarns Herz. »Du hast ... ihn ...«

Der Unsterbliche lächelte grausam und schritt durch die Bäume davon. Alles um ihn verdorrte. Rowarn wusste, dass Femris nur gekommen war, um ihm zu zeigen, dass es keine Barrieren für einen Mächtigen wie ihn gab, nicht einmal den heiligen Boden Farnheims.

Der junge Mann stürzte ihm nach, obwohl er wusste, dass er die Aurengestalt nicht aufhalten konnte. »Wie konntest du nur?«, schrie er. Er stockte, als Femris sich ihm noch einmal zudrehte, und ein Schauer des Entsetzens lief ihm über den Rücken hinab.

»Meine letzte Warnung an dich, Rowarn«, sprach Femris so kalt, dass dem König ein eisiger Frosthauch ins Gesicht wehte. »Bring mir die Splitter. Andernfalls wirst du alles verlieren, woran dein Herz hängt. Tausende werden sinnlos sterben, und dieses Land wird zugrunde gehen. Ich werde keine Gnade walten lassen. Es liegt allein an dir.«

Damit war er fort, und Rowarn blieb erschüttert zurück. Als er sich umdrehte, sah er Angmor am Wegerand auftauchen, als dieser gerade aus dem Zwielicht trat.

»Hat er recht?«, fragte er verzweifelt.

»Er ist gnadenlos, ja«, antwortete der Visionenritter. »Und er würde sogar Arlyn mit eigenen Händen töten, wenn er dazu in der Lage wäre. Du hast ihn nicht nur tief in den Leib getroffen, sondern auch in seine Seele.« Langsam ging er auf seinen Sohn zu. »Er ist allein, Rowarn, genau wie du gesagt hast.« Dann legte er ihm behutsam die schwere Hand auf die Schulter. »Du aber nicht.«

Einen langen Moment standen sie still voreinander, und Rowarn hatte das Gefühl, als würde ihm eine schwere Last von den Schultern genommen. Unwillkürlich dachte er an Baron Solvan, der seinen einzigen Sohn an den Feind verloren hatte und dennoch an seiner Überzeugung festhielt.

Er durfte sich nicht einschüchtern lassen. Er liebte Arlyn, und er wollte sie an seiner Seite. Sie nun zu verlassen, damit sie in Sicherheit in Farnheim bliebe, wäre die dümmste aller Entscheidungen, denn die Lady würde sich deswegen niemals zurückziehen oder davon abhalten lassen, Femris weiterhin die Stirn zu bieten. Sie hatte sich entschieden. Jeder Einzelne seiner Freunde hatte sich entschieden und würde es nicht verstehen, wenn Rowarn nun plötzlich umschwenkte. Er würde sie damit alle verraten und enttäuschen.

Und ... sein Vater war hier. Bei ihm, in diesem Moment.

»Ich bin sehr reich«, flüsterte Rowarn.

Angmor drehte sich um. »Trödle nicht, Sohn, wir haben viel zu tun.«



Kurz vor Sonnenaufgang fanden sich alle oben bei den Kaskadenfällen ein. Arlyn trug ein schlichtes dunkelblaues, silberdurchwirktes Kleid und einen langen Fellumhang, Rowarn die königlichen Insignien. Noïrun legte Rowarns rechte und Arlyns linke Hand übereinander und umwickelte sie mit einem goldenen Band. Dann hielt er seine Hand darüber und sprach: »Das Leben ist ein Kreis. Wir enden dort, wo wir beginnen. Mit diesem Versprechen werden zwei Kreise miteinander verbunden, verschmolzen zu einem starken Band, unzerreißbar, unzerstörbar. Ein Herz wird in andere Hände gegeben, ein Leben dem anderen anvertraut.«

Rowarn fühlte Arlyns weiche, warme Hand auf seiner, während er das Gelübde sprach, und er lauschte dem Klang ihrer Stimme, als sie ihr Versprechen sang. Ihm war schon fast, als wären sie Eins, als schlügen ihre Herzen im selben Takt, und ihre Auren verschmolzen miteinander.

Alles, was danach kam, verschwamm in seiner Erinnerung, denn er hatte nur noch Augen für seine Königin. Rowarn nahm die Glückwünsche und Umarmungen der Freunde entgegen, er aß und trank auf der Feier, doch ihm war, als wäre dies alles so weit weg wie die Sterne und nur die Sonne wäre ihm nah.



Einen halben Mondwechsel später war die Macht des Winters endgültig gebrochen, der Schnee dahingeschmolzen, und die ersten Frühlingsboten durchbrachen den kaum getauten Erdboden. Noïrun und Angmor konnten es kaum mehr erwarten, Farnheim zu verlassen. Auch Rowarn und Arlyn trafen ihre Vorbereitungen, und bald lag nur noch die Entscheidung vor ihnen, wann sie aufbrachen.

Rowarn wollte eines Morgens vor dem Frühstück mit dem Fürsten darüber sprechen, doch dieser war nicht in seinem Zimmer. Also ging er nach draußen und sah sich um, doch er konnte Noïrun auch hier nirgends entdecken. Niemand sonst war schon wach, es war ein stiller, früher Morgen, die Luft weich und mild. Langsam schlenderte Rowarn durch den Park in den Wald hinein und wich bald vom gewohnten Pfad ab. Die ersten jungen Farnblätter glitzerten nass in der gerade erwachten Sonne, und Dampf stieg von den heißen Quellen auf und waberte über die Wipfel. In den Zweigen regte sich allmählich Leben, gefiederte Sänger übten schon zarte Töne für ihre Hochzeitslieder.

Dann glaubte Rowarn eine weitere leise Stimme zu hören und folgte ihr. Erstaunt hielt er inne, als er den Fürsten erkannte, der auf einer kleinen Lichtung vor einem großen Baum kniete. Zwischen den Wurzeln wuchs ein früher Moosteppich mit blauen Blumen. Noïrun hatte eine Honigwabenkerze vor sich aufgestellt, die sanft flackerte. Daneben stand eine kleine Schale aus Metall, glimmende Kräuter verbreiteten einen schweren, süßen Duft. Mit rituellen Gesten streute der Fürst getrocknete Blütenblätter und weitere Kräuter über den Moosteppich und in die Schale, während er leise sang. Rowarn wusste, dass er augenblicklich gehen sollte, aber der Zauber dieses Moments berührte ihn zutiefst, und er konnte nicht anders als stehen zu bleiben und dem Klang der rauen, melancholischen Stimme zu lauschen.


»›Komm zu mir und halte mich,

mein Lieb, denn verlassen muss ich dich.

Doch geh ich ohne Furcht und Not,

denn siehe, dort ist schon das Abendrot,

so geht meine Sonne unter im Meer des Lebens.‹


So hörte ich sie sprechen und such nun vergebens,

an den Klang ihrer Stimme mich zu erinnern

versuche, hoffe und verlange zu verstehen,

warum gerade sie es war, die musste gehen,

und ich höre in mir nur mein eignes Klagen und Wimmern

und nie mehr ihr sanftes Lachen, voll des Lebens.


›Komm zu mir und halte mich,

mein Lieb, denn verlassen muss ich dich.

Doch geh ich ohne Furcht und Not,

denn siehe, dort ist schon das Abendrot,

so geht meine Sonne unter im Meer des Lebens.‹


Wo mag sie sein, wo mag sie sein?

Die Helfer trugen sie fort im göttlichen Schein

doch nicht Licht ist’s, was mich erfüllt, sondern Schatten,

und so harre ich und kann nicht anders als warten.


›Komm zu mir und halte mich,

mein Lieb, denn verlassen muss ich dich.

Doch geh ich ohne Furcht und Not,

denn siehe, dort ist schon das Abendrot,

so geht meine Sonne unter im Meer des Lebens.‹


Mag sie warten an den Silbernen Gestaden,

so werd ich einst dort nach ihr suchen,

und ich will hier nicht mehr länger klagen

werd auch im Träumen nicht nach ihr rufen.

Dies ist, was uns ausmacht, Fleisch und Blut

und eine Seele, die in der Ferne ruht

so wie auch ich dereinst, wenn ich geh ohne Furcht und Not,

sobald ich sehe das Abendrot.«


Noïrun neigte den Kopf, während der Klang seiner Worte verging, und flüsterte: »Ich weiß, es geht dir dort gut, wo du jetzt bist, Delema, und verzeih mir, dass ich dennoch jedes Jahr an diesem Tag deiner gedenke. Dies ist mein Versprechen, das ich dir gab, vor langer Zeit.«

Rowarn kniete mit klopfendem Herzen neben ihm nieder. Auf seltsame Weise empfand er Trauer, doch zu seinem Erstaunen sah er keinen Schmerz auf dem Gesicht des Fürsten, sondern eine entspannte Ruhe und Ausgeglichenheit, als wäre dies ein Ritual, um aus der Tiefe neue Kraft zu schöpfen. »Verzeih, dass ich dich störe«, sagte er scheu. »Du wolltest allein hier sein.«

»Du störst mich nicht, Rowarn«, sagte Noïrun friedlich und in ungewohnter Sanftheit. Er streute neue Kräuter in die Schale, ließ Wachs hineintropfen und hielt die Flamme daran, bis sich feine weiße Rauchfäden herauskräuselten. »Delema hatte immer gern Menschen um sich, und es hätte sie amüsiert, dass jemand meinem Gesang zuhört, anstatt sich die Ohren zuzuhalten.«

»Aber du singst doch sehr schön«, meinte Rowarn schüchtern. »Und das Lied hat mich berührt.«

»Ich habe es für sie gesungen, als ich sie zu Grabe trug«, sagte Noïrun. »An einem Tag wie diesem, der heiter war und unbeschwert. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht, wobei ich mir bis heute nicht sicher bin, dass nicht auch ein wenig Spott dabei war. Wenn sie hier wäre, würde sie sich vermutlich über meine sentimentalen Anwandlungen lustig machen. Aber ich brauche dies, wenigstens an einem Tag im Jahr: mich nur auf mich selbst zu besinnen und auf meine Gefühle. Erst recht, nachdem ich dem Tode erst vor kurzem so nahe kam und mich ihm gleich wieder entgegenwerfe.«

Eine Weile verharrten sie in stiller Versunkenheit. »Ich weiß so gar nichts über dich«, sagte Rowarn schließlich leise. »Nach dieser langen Zeit.« Er starrte auf seine Finger, die nicht so recht wussten, was sie tun sollten und nervös flatterten. »Ich sollte das vielleicht nicht sagen, aber du stehst mir näher als mein Vater.« Unruhig schnippte er ein herabrieselndes Blatt weg. »Ich bin ein Halbdämon, aber ... er ist mir so fern und unverständlich. Er lebt schon so lange und hat viele Dinge gesehen, die ich nicht einmal annähernd erfassen könnte, selbst wenn ich so alt würde wie er. Uns trennt die Zeit und seine furchtbare Macht. Ich liebe und fürchte ihn zugleich, doch ich fühle mich ihm nicht so verbunden wie dir.«

Noïrun schwieg. Sein Blick ging in die Ferne. Nach einer Weile begann er: »Ich bin sechsundvierzig Jahre alt und habe drei eheliche Kinder. Einen Sohn und eine Tochter aus erster Ehe und einen Sohn aus zweiter, der vielleicht gar nicht meiner ist. Er dürfte etwa acht oder neun Jahre alt sein. Er war noch sehr klein, als ich ... ging. Meine erste Frau ... Delema ... der Name bedeutet Frühlingserwachen im alten Dialekt ihres kleinen Volksstammes. Ihre Sippe kam damals nach Valia, um sich hier niederzulassen. Delema war es, die mir half, Heriodons Macht über mich endgültig zu brechen, und sie wurde meine Frau. Wir bekamen Duramin und ein paar Jahre später die kleine Anirim. Bald nach der Geburt unserer Tochter starb Delema. Sie war nie sehr kräftig gewesen, und der Schamane ihres Stammes hatte ihr geraten, keine Kinder zu bekommen. Aber Delema ließ sich nichts einreden, sie wollte um jeden Preis Kinder mit mir haben. Wer wäre ich gewesen, meiner Fürstin zu widersprechen.« Er lächelte in zärtlicher Erinnerung. »Niemand hat sich jemals gegen sie durchgesetzt.«

Rowarn hatte noch nie so viel Liebe in der Stimme des Fürsten gehört. Und ohne jegliche Bitterkeit oder Trauer.

Noïrun fuhr fort: »Unser Junge ist jetzt zwanzig Jahre alt ... das heißt, falls er noch lebt.« Er sah Rowarn an. »Duramin ist ein Rithari.«

Rowarn schluckte erschüttert. Er erinnerte sich, wie er einst selbst befürchtet hatte, ein Rithari zu sein, und der Fürst mit seltsamer Bestimmtheit gemeint hatte, das sei nicht der Fall. Nun erklärte sich sein damaliges heftiges Verhalten. Und nun erklärte sich auch, wieso Noïrun vor einigen Mondwechseln in Farnheim genau gewusst hatte, wie er Rowarn ruhigstellen musste, als Heriodons Einfluss den schweren Krampfanfall verursacht hatte.

»Von seinem ersten Atemzug an«, fuhr Noïrun fort, »brauchte unser Sohn besondere Fürsorge.« Er legte kurz die Hand über die Augen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist, hilflos dabeistehen zu müssen, wenn so ein kleines Würmchen um sein Leben kämpft!«, stieß er heiser hervor. »Die Erstickungsanfälle ... die entsetzlichen Wutausbrüche, bis zur Selbstzerstörung ...« Er schüttelte den Kopf und blinzelte in die Sonne. Sein Gesicht glättete sich wieder, und er lächelte in der Erinnerung. »Aber an den Tagen ohne Anfälle war er der reizendste und hübscheste Junge, den du dir vorstellen kannst. Er lachte gern und viel, war zärtlich und voller Lebensfreude. Natürlich blieb er in seiner geistigen Entwicklung zurück, aber was machte das schon, solange er nicht von den Anfällen gequält wurde. Mit sechs Jahren wurde er so stark und gefährlich, dass wir ihn einsperren mussten, denn wir konnten seine Anfälle nie rechtzeitig vorher erkennen. Trotzdem gaben wir ihm all unsere Liebe und waren so viel mit ihm zusammen wie nur möglich. Die Einzige, der er nie etwas antun würde, selbst im schlimmsten Anfall nicht, ist seine Schwester Anirim. Zu ihr hatte er von Anfang an eine ganz besondere Beziehung, aber auch sie zu ihm. Die beiden waren unzertrennlich. Das war für mich ein Trost, nachdem ich meine Frau verloren hatte ...«

Rowarn wünschte sich, er hätte nicht damit angefangen. Zu sagen, es täte ihm leid, kam ihm wie reiner Hohn vor. Niemand konnte das Leid erfassen, das Noïrun durchlebt hatte. Schweigend legte er ihm die Hand auf den Arm.

Noïrun legte seine Hand darüber und drückte sie. »Sprechen wir darüber, wie ich mein Land verlor. Es ist schnell erzählt und kein rühmliches Kapitel in meiner Geschichte. Mein eigener Bruder hat mich vom Thron verjagt«, offenbarte er ohne Umschweife und in sachlichem Tonfall. »Meine zweite Frau machte mit Joren gemeinsame Sache. Deswegen weiß ich nicht, ob Andarias Sohn Varon auch meiner ist. Das heißt, es spricht im Nachhinein betrachtet einiges dagegen, doch damals war ich völlig ahnungslos. Deshalb konnten sie mich im Schlaf überrumpeln und des Nachts im Handstreich das Schloss übernehmen, mithilfe der Soldaten dieses Dummkopfes aus Dalim, dem das Miststück wahrscheinlich auch schöne Augen gemacht hat. Bis zu diesem Moment war ich völlig blind gewesen und muss mich selbst schuldig sprechen, dass ich es dazu kommen ließ. Ich musste noch in derselben Nacht aus Lingvern fliehen, meine Kinder und meine Eltern zurücklassen, denn nur so konnte ich hoffen, dass man sie in Ruhe lassen und ihnen nichts geschehen würde.« Er hob die Schultern. »Seit fast sieben Jahren bin ich ohne Nachricht von ihnen. Ich weiß nicht, ob meine Eltern noch leben, was mit Duramin ist, und Anirim ... sie ist jetzt vierzehn. Möglicherweise haben sie schon einen künftigen Ehemann für sie erwählt, um Macht und Reichtum zu mehren ...«

»Du wirst es erfahren«, sagte Rowarn fest. »Sobald dieser verdammte Krieg vorbei ist, kannst du endlich nach Hause gehen. Ich würde dich auf der Stelle wegschicken, aber ich kann ja nicht auf dich verzichten.«

Noïrun lächelte und drückte seine Hand nochmals, bevor er sie zurückzog. »Dies ist eine sehr viel größere und bedeutendere Sache als das Schicksal einer einzelnen Menschenfamilie, Rowarn, und ich habe mich ihr mit Leib und Seele verschrieben. Ich habe genug Abstand zu den Geschehnissen damals gewonnen. Es war gut, dass ich fortging, denn damals hätte ich schreckliche, unverzeihliche Dinge getan. Ich war nicht immer so beherrscht wie jetzt.« Er stand auf. »Genug der düsteren Gedanken! Wenden wir uns wichtigeren Dingen zu.« Er bückte sich, hob Kerze und Schale auf und blies die Flamme aus. »Eines habe ich in meiner Zeit bei den Zwergen gelernt: Auf den richtigen Moment zu warten. Ihre bodenständige, heitere Art hat mich damals zur Vernunft gebracht, nachdem ich zuvor ruhelos und voller Hass durchs Land gezogen und keinem Streit aus dem Weg gegangen war. Ich hätte mich vielleicht sonst selbst zerstört, und mein Land noch dazu.«

Rowarn konnte sich diesen jüngeren, zornigen Fürsten gut vorstellen; er erinnerte sich noch an seinen Gesichtsausdruck, als Morwen hinterrücks angeschossen worden war. Und noch früher, in Madin, als Rayem ihn beleidigt hatte.

Rayem ... Morwen ... es schien beinahe ein Jahrhundert her, dass die beiden im Kampf gegen den Bepheron umgekommen waren. Kurz stach es in Rowarns Herz; vor allem Morwen vermisste er schmerzlich. Sie war etwas ganz Besonderes gewesen. »Denkst du manchmal an Morwen?«, fragte er, während sie den Weg zum Haus einschlugen.

»Jeden Tag«, antwortete Noïrun. »Wenn das hier vorbei ist, werde ich zu ihrer Mutter gehen, bevor ich nach Lingvern heimkehre.« Er warf Rowarn einen Seitenblick zu. »Du trägst keine Schuld daran«, sagte er fast streng. »Morwen hat weise und vorausschauend gehandelt, als sie dir den Schwur abnahm. Wir hätten an diesem Tag sonst auch noch dich verloren und das hätte den endgültigen Untergang von Ardig Hall bedeutet. Und um mich wäre es auch geschehen gewesen, so ganz nebenbei bemerkt, und das hätte mich vor allem wegen Heriodon doch etwas verärgert, weil er sonst immer noch am Leben wäre.«

»Es war ihre Entscheidung, nicht wahr?«, fragte Rowarn leise.

»Natürlich. Sie war trotz ihrer Jugend mein bester Soldat, ein begnadetes Talent. Sie hat genauso gehandelt, wie ich es getan hätte.«

»Aber so jung zu sterben ...«

Noïrun lachte ohne jede Bitterkeit. »Morwen hatte dasselbe wie jeder von uns, Rowarn: ein Leben. So wie Delema. Ich habe nie damit gehadert, dass meine Frau so jung sterben musste, sondern damit, dass sie mich allein und mit gebrochenem Herzen zurückgelassen hat. Aber beide, Morwen wie Delema, haben keinen Tag ihres Lebens vergeudet. Es gäbe für sie keinen Grund zu bedauern, Junge. Daran musst du denken. Natürlich darf der Verlust schmerzen. Aber er darf nicht mit Schuld beladen sein.«

»Du bist ein unglaublicher Mann, das stelle ich nicht zum ersten Mal fest«, bemerkte Rowarn kopfschüttelnd. »Deine Lebensweisheit braucht den Vergleich mit meinen vielen tausend Jahre alten Muhmen nicht zu scheuen. Eigentlich solltest du König von Ardig Hall sein, nicht ich.«

»Das schlag dir aus dem Kopf!«, wehrte Noïrun erheitert ab. »Ich sagte dir bereits, ich trage dich auf meinen Schultern, bis du mich nicht mehr brauchst, und das wird sein, wenn diese Geschichte beendet ist. Aber dann trägst du die Verantwortung allein, oder du suchst dir einen anderen Dummen.«

Rowarn grinste. »Du genießt deine Position als Fürst Ohneland inzwischen ziemlich, habe ich den Eindruck.«

Noïrun zwinkerte still.



Bald waren alle Vorbereitungen getroffen. Arlyn übergab Farnheim in Korelas zuverlässige Hände und stellte zwei Karren mit Arzneien, Verbandszeug, Stärkungsmitteln und dergleichen mehr zusammen, die sie mit vier Heilern nach Eisenwacht schicken wollte.

»Folgendes«, begann die Königin, als sich alle nach dem Morgenmahl zur letzten Besprechung versammelt hatten. »Ich habe lange darüber nachgedacht, wie wir die Hüter der Splitter finden können. Und ich glaube, ich habe eine Lösung gefunden.«

Rowarn war überrascht, denn darüber hatte Arlyn bisher nicht mit ihm gesprochen. Die anderen sahen neugierig zu ihr auf; sie stand am Kopfende der Tafel, neben Rowarn, und trug den zierlichen Stirnreif der Nauraka, ebenso den Armreif, den sie nie abnahm. Rowarn hatte von ihr einen schmalen silbernen Ring bekommen, den er voller Stolz am kleinen Finger der linken Hand trug. Beide Schmuckstücke waren von Noïrun rituell gesegnet worden, als der Bund besiegelt wurde. Bei Angehörigen der Alten Völker konnte dies als magischer Schutz wirken und sogar die Auren miteinander verbinden.

»Noïrun, du und die anderen, einschließlich dir, Angmor, ihr geht wie verabredet nach Eisenwacht und bereitet den Sturm auf Dubhan vor. Ihr greift an, sobald ihr den Zeitpunkt für richtig erachtet.« Dann drehte sie sich leicht zu Rowarn. »Wir beide sollten stattdessen in ein Freies Haus gehen und nach Türen suchen, die zu den Hütern führen.«

Verdutzt sah er zu ihr auf. Diese Lösung war so naheliegend, und er war nicht darauf gekommen! »Natürlich, genau das ist es ...« In einem Freien Haus führten die Türen nicht unbedingt immer dorthin, wo man es erwartete. Noïrun hatte Rowarn nach seiner Verwundung durch den Chalumi-Biss dorthin gebracht, um ihm die Wunder zu zeigen. Dort hatte er auch die denkwürdige Begegnung mit dem Annatai Halrid Falkon und seinem Drachen Fylang gehabt, ihn aber nicht für den Kampf um Ardig Hall gewinnen können.

Der Fürst nickte anerkennend. »Ich hatte Sorge, dass die Suche ein Jahr oder länger dauern könnte, bei den weiten Wegen, die womöglich zu bewältigen sind. Vor allem, da wir keinerlei Anhaltspunkte haben, wo die Hüter sich befinden. Aber ein Freies Haus bietet alle Möglichkeiten.«

»Ist das nicht zu einfach?«, polterte Olrig. »Seit vielen Jahrhunderten sucht Femris nach den Splittern.«

»Er hat auch einen gefunden, wie du weißt, allerdings hat ihn das nahezu alle Kräfte gekostet«, erwiderte Arlyn. »Die anderen Hüter haben sich ihm bis heute nicht offenbart. Bei Rowarn ist das jedoch etwas anderes. Wie er schon einmal sagte: Wenn sie ihn jetzt nicht erwarten und bereit sind, ihm die Splitter auszuhändigen, war ohnehin alles umsonst.«

Beifälliges Nicken ringsum.

»Ich werde euch begleiten«, warf Graum ein, doch Rowarn hob die Hand.

»Nein. Ich brauche keinen Beschützer auf dieser Reise, aber das Heer braucht dich, Graum. Wenn Sherkun mit den Dubhani und seinem eigenen Gefolge eintrifft, werden unsere Dämonen ohnehin in der Unterzahl sein.«

»Aber die anderen Dämonen sind uns unterlegen, keiner von ihnen stammt von Xhy«, knurrte der Schattenluchs.

»Unsere Verbündeten stammen auch nicht alle von Xhy, aber das spielt keine Rolle«, mischte sich Angmor ein. »Ich stimme Rowarn zu, dass er allein gehen muss.«

»Und Arlyn ist solange im Freien Haus in Sicherheit, bis ich alle Splitter habe«, sagte Rowarn.

Arlyn musterte ihn kühl. »Wie kommst du darauf, dass ich die Türen nicht mit dir durchschreiten werde?«

»Weil Femris mir gedroht hat«, offenbarte er. Bisher hatten weder er noch Angmor darüber gesprochen, dass der Unsterbliche Farnheim aufgesucht hatte.

Langsam setzte sich die Herrin, ihr Blick drückte deutliche Missbilligung aus. »Es gibt also Dinge, über die wir nicht reden, mein Gemahl?«

»Ja, meine Königin, den Eindruck hatte auch ich vorhin. Doch wir reden jetzt darüber.« Rowarn blickte in die Runde. »Femris ist tatsächlich in der Lage, mit seinem Aurenkörper zu reisen, und er hat mich bereits zweimal aufgesucht.«

»Dann ist es höchste Zeit, zu handeln«, erklärte der Fürst. »Und um Überraschungen zu vermeiden oder vielmehr, dem Feind solche zu bereiten, teile ich euch hiermit ein paar Änderungen in den Plänen mit.«

»Wusst ich’s doch«, brummte der Kriegskönig.

Rowarn war verdutzt. Rechnete Noïrun immer noch mit Verrat? Oder hatte er geahnt, dass Femris sich Zutritt zu Farnheim verschaffen konnte? Er denkt immer an alles

Der Fürst fuhr fort: »Olrig, schick jetzt schon die Nachricht an die Zwerge bei Sternfall, sie sollen nach Eisenwacht ziehen und zum Hauptheer stoßen. Von dort aus wird umgehend der Marsch auf Dubhan beginnen. Laradim, Reeb, ihr seid für den Schutz der beiden Versorgungswagen und die Rekruten verantwortlich. Graum, mir wäre es lieb, wenn du hierfür die Vorhut übernehmen könntest.« Er blickte zu Angmor, der zustimmend nickte.

»Das werde ich gern tun«, sagte der Schattenluchs daraufhin.

»Nehmt die Handelswege, so kommt ihr schneller voran, aber meidet Siedlungen und lagert im Freien«, fuhr Noïrun fort. »Olrig, Angmor, wir drei werden auf dem schnellsten Wege quer übers Land ziehen und nur dann rasten, wenn es unumgänglich ist. Wir haben uns lange genug ausgeruht, also sollten wir einen scharfen Ritt gut überstehen. Ich möchte Eisenwacht in spätestens drei Tagen erreichen.«

Der Kriegskönig brummelte etwas in seinen Bart, und der Visionenritter nickte erneut.

Noïrun wandte sich an Rowarn und Arlyn. »Wir werden die Stellung für euch halten, bis ihr in Dubhan eintrefft. Damit binden wir Femris’ Streitkräfte und lenken ihn von euch ab. So verschaffen wir euch den Zugang in die Burg – und anschließend beten wir alle, dass es gut enden wird.«

Angmor richtete die eisglühenden Augen auf seinen Sohn. »Unsere Hoffnung ruht jetzt auf dir. Einen letzten Pfad musst du noch beschreiten, und wahrscheinlich ist es der Schwierigste.«

»Keiner war bisher leicht, doch ich hatte schließlich die besten Lehrmeister und bin gut vorbereitet.« Rowarn lächelte, ergriff Arlyns Hand und hielt sie an seine Lippen. »Und ich habe die beste Unterstützung, die man sich wünschen kann.«



Auf dem Zimmer, als sie gemeinsam ihre Sachen packten, war Rowarn keineswegs mehr so selbstbewusst. Stumm wartete er auf Arlyns Vorwürfe und war froh, als sie sich ihm endlich zuwandte.

»Warum hast du mir nicht von Femris erzählt?«

»Ich wollte dich nicht beunruhigen. Und es hätte nichts geändert, oder?«

Sie legte ihren Beutel neben die Tür. »Vermutlich nicht. Aber ich habe gespürt, dass dich etwas beschäftigte. Und du zweifelst.«

»Ich weiß«, murmelte er. »Aber es gibt manches, über das ich nicht so einfach reden kann. Und auch nicht will. Das heißt nicht, dass ich dir nicht vertraue. Das tue ich, Arlyn, bis in die letzte Faser meines Seins. Wenn du von mir verlangen würdest, von einem Berg zu springen, würde ich es tun.«

Sie kam zu ihm und strich ihm das Haar aus dem Gesicht. »Das wäre ziemlich dumm«, sagte sie sanft.

»Nicht, wenn du einen Grund dafür hättest ... und du tust nichts ohne Grund«, erwiderte er. »Du bist weise und erfahren, du kennst so viele Dinge, von denen ich noch nicht einmal gehört habe, obwohl ich bei den Velerii aufgewachsen bin. Noch immer kann ich es nicht glauben, dass du den Bund mit mir eingegangen bist.« Oft lag er in der Nacht wach und betrachtete ihren Schlaf. Arlyns Atem war der Atem der Welt, und jede Regung war wie das Grasmeer, das sich im Wind wiegte, wie die flüsternden Wipfel der Bäume und das Gleiten ihrer Finger über das Laken war der Fluss, der in einen See mündete und dort zur Ruhe kam. Die Seele der Welt war in Arlyn lebendig geworden.

Einen langen Moment sahen sie sich still in die Augen. Dann sagte Arlyn: »Rowarn, diese Bedingung muss ich stellen: egal, was geschieht ... du darfst dich niemals für mich entscheiden. Deine Pflicht steht über allem, auch über deiner Liebe zu mir. Das Tabernakel muss geheilt und der Kampf gegen Femris beendet werden, was auch immer es kostet. Das wirst du mir jetzt schwören.«

»Das kannst du nicht von mir verlangen«, sagte er betroffen. »Es gibt für alles eine Grenze, und nicht einmal das Tabernakel -«

»Die Zukunft unserer Welt steht auf dem Spiel«, unterbrach sie. »Das weißt du genau.«

»Ich soll meine Liebe für die Pflicht opfern durch einen Schwur? Nein, niemals!« Rowarn schüttelte heftig den Kopf. »Es gibt immer einen Ausweg!«

»Rowarn ...«

»Nein, sage ich!« Er wandte sich ab und ging hektisch im Zimmer auf und ab. »Ich kann das nicht, verstehst du? Schon einmal hat jemand diesen Eid von mir verlangt, und ...« Ihm brach kurz die Stimme. »Morwen ist tot!«, stieß er heiser hervor.

»Ich weiß«, sagte Arlyn leise. »Noïrun hat es mir erzählt. Und er sagte auch, dass Morwen recht hatte. Dadurch ist viel Unglück verhindert worden ... und wer weiß, vielleicht wäre sie trotzdem umgekommen.«

»Verlangst du deshalb dasselbe von mir?«

»Wir müssen das klären, Rowarn. Jetzt, nicht später.«

»Arlyn ...«, sagte er voller Qual und ergriff ihre Hände. »Ich tue alles für dich, aber bitte verlange keinen solchen Schwur von mir. Ich möchte die Wahl haben ...«

»Ich kann sie dir nicht zugestehen«, sagte sie sanft.

Er war den Tränen nah. »Aber wie könnte ich je ohne dich ...«

Sie berührte sein Gesicht. »Ich könnte nicht damit leben«, wisperte sie. »Niemals könnte ich es ertragen, dass der Krieg meinetwegen verlorengeht. Es wäre schlimmer als der Tod, glaube mir.«

Er ließ den Kopf sinken.

»Du bist jetzt, für diese Entscheidung, der König, nicht mein Gemahl«, fuhr sie fort. »Bedenke dies und wäge erneut ab, ob ich recht habe. Wenn ich dich an diesen Schwur binde, bist du jeglicher Schuld entbunden, sollte es je dazu kommen. Dann weißt du, was du zu tun hast. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, wie ich darüber denke oder entscheiden würde, du weißt es nun. Nur so kannst du stark und ruhig in den Kampf gehen. Du wirst dich nicht in einem entscheidenden Moment mit der Entscheidung quälen müssen. Die nehme ich dir hiermit ab. Femris kann mich auf diese Weise auch nicht als Druckmittel benutzen. Damit bekommt er nie Macht über dich.«

»Wäre dann nicht alles sinnlos?«, flüsterte er.

»Das Gegenteil ist der Fall. Und ... du weißt, dass ich nicht sterbe wie ein Mensch, sondern wie eine Mächtige. Wir bekämen Gelegenheit zum Abschied.« Sie zog seine Hand an sich und hielt sie fest. »Für mich wäre es nicht weniger eine Qual, wenn ich zweifeln müsste, wie du dich entscheidest. Dies ist mein Wille, denn Waldsee bedeutet mir alles, es ist wichtiger als mein ohnehin sterbliches Leben. Respektiere dies bitte, und handle nach der Vernunft. Als König.«

»Also gut«, sagte Rowarn kummervoll, obwohl alles in ihm widerstrebte und die Verzweiflung ihm die Stimme abschnüren wollte. »Ich weiß, du würdest nicht lockerlassen, und ich will deine Achtung nicht verlieren. Du hast sicher gute Gründe, denn du bist so viel älter und weiser als ich. Dann werde ich eben nun als König zu dir sprechen. Ich schwöre dir hier und jetzt, Arlyn, dass ich meine Pflicht nicht vergessen werde, was auch geschieht. Selbst, wenn ich dich verlieren sollte. Du bist von den Alten Völkern und eine Mächtige, du verstehst auf deine Weise, zu kämpfen und wirst immer einen Ausweg finden. Darauf vertraue ich. Ich werde diese Geschichte beenden, selbst wenn ich alles verlieren sollte, wie Femris es mir prophezeit hat. Dann ist das eben mein Schicksal. Und wenn alles vorüber ist und ich meine Pflicht getan habe, werde ich an den Silbernen Gestaden nach dir suchen und mit dir abreisen. Dies kannst du mir nicht verwehren. Wenn ich nicht mit dir leben kann, so werde ich im Tod mit dir vereint sein. Dies ist Bestandteil meines Schwurs. Nimmst du ihn so an?«

»Aber du bist so jung, Rowarn, du kannst ...«

»Arlyn, das ist nun meine Entscheidung. Ich weiß, dass noch ein langes Leben vor mir liegen würde, und gewiss würde ich die eine oder andere Frau finden, die mir das Bett wärmt und die ich vielleicht sogar lieben lerne. Aber ich will dich an meiner Seite. Wenn nicht im Leben, dann im Tod. Das ist mein Bund mit dir, der ebenso unauflöslich ist wie der Schwur.«

Der Ausdruck in ihren Augen berührte ihn tief, erschütterte ihn bis in die Grundfeste seiner Seele. »Ich schwöre es«, wiederholte er, und auf einmal fühlte er Ruhe und Frieden in sich. Die Entscheidung war gefallen. Und er war getröstet, denn er würde Arlyn nicht verlieren, niemals.

»Ich nehme an«, sagte sie leise. »Es ist nur gerecht, dass du mir deine Entscheidung ebenso aufbürdest.«

»Doch das ist nicht alles«, stellte er fest, »das sehe ich dir an.«

»Ich sorge mich, denn ich weiß, wie oft du an dir zweifelst und an der Richtigkeit deines Tuns.«

»Ja, ich zweifle oft, ob ich das Richtige tue, Arlyn – aber ich werde es nie herausfinden, wenn ich den Weg nicht beschreite.«

»Also gut«, sagte sie und lächelte plötzlich. »So sind wir bereit zur Reise.«

Rowarn nickte. Er schloss die Arme um seine Königin und küsste sie. Er spürte, wie sie ihm nachgab, wie ihr schlanker Körper sich an ihn schmiegte. Glücklich hielt er sie fest, ließ ihre Wärme in sich einströmen und spürte ihr Herz im Takt mit dem seinen schlagen.