Kapitel 53

Im Licht


Rowarn hob die Hände und öffnete die Finger. Die sechs Splitter trieben sacht durch das Weiß. Zuerst schienen sie auseinanderzustreben, dann formierten sie sich zu einem Kreis, schwebten auf und ab, sortierten sich, bis die richtige Reihenfolge entstanden war.

Femris und Tamron verharrten Hand in Hand, starrten gebannt auf die Bruchstücke, ihre Mienen waren entrückt, und ihre Körper lösten sich bereits auf.

Rowarn spreizte die Finger. »Füge dich zusammen«, wisperte er. »Nur noch eine letzte Anstrengung, Femris, Tamron. Das ist eure Aufgabe. Vereinigt euch mit der Macht.«

Die beiden Seelen, die sich so lange einen Körper geteilt hatten, streckten jeweils die freie Hand aus, und die Splitter bewegten sich langsam auf sie zu. Dabei kamen sich die Bruchstücke immer näher.

In dem Augenblick, als die Finger des Zwiegespaltenen das Artefakt berührten, schlossen sich auch die letzten Lücken. Aus den Bruchlinien strömte gleißendes Licht, breitete sich aus und hüllte den Siebten Splitter ein. 

Schließlich sah Rowarn ein brennendes Fanal vor sich, als ob ein neuer Stern geboren würde. Andächtig nahm er den Glanz in sich auf und streckte die Hände aus. 

Nun war es an der Zeit, das Artefakt zu aktivieren, er durfte nicht mehr zaudern. Er spürte, wie sich die beiden Essenzen in seinem Körper miteinander vereinten, auf ganz sanfte und behutsame Weise, sodass ihm zum ersten Mal im Leben nicht davon übel wurde. Aus der Vereinigung erwuchs Macht, wie er sie nie für möglich gehalten hätte. In diesem Augenblick hielt er das Schicksal der Welt Waldsee in seinen Händen, und er konnte darüber entscheiden. Er hatte nun die Kraft, die Welt zu zerstören oder ihr ein neues Gesicht zu geben. Er könnte verändern, was immer er wollte. Alles war sein.

Rowarn lächelte, während das leuchtende Tabernakel in seine Hände schwebte. Es war wie eine Befreiung, und Tränen des Glücks rannen über seine Wangen. Er fühlte sich eins mit allem, war durchdrungen von der Lebenskraft aller Wesen der Welt, erfüllt vom Klang der Weltenmelodie.

Ein letztes Mal atmete er tief durch, um noch einmal seinen Körper zu spüren, auch wenn er in Vergessenheit versinken sollte. Doch für einen kostbaren Moment wollte er sich das erhalten.

Dann öffnete er sich und ließ die Macht hervorströmen, leerte sich ganz und gar.

Sein letzter Gedanke vor dem Erlöschen war: Rowarn, das hast du gut gemacht.



Und die Welt löste sich aus ihrer Starre, der Sturm versiegte. Für einen Augenblick herrschte auf der ganzen Welt Nacht. Und am Himmel erstrahlte ein neuer Stern, der hellste von allen, mit sieben Zacken, unvergleichlich in Anmut und Schönheit. Seine Strahlen erfassten ganz Waldsee, fächerten auf und flossen schließlich zusammen, bis die Welt ganz von einer leuchtenden Aura umgeben war, weithin strahlend in die dunklen Außenlande. Ein leuchtendes Fanal, als sei Waldsee auch als Stern wiedergeboren.

Menschen, Sentrii und Alte Völker, Unsterbliche und Zwerge verließen ihre Zuflucht und gingen staunend hinaus, um den neuen Stern am Himmel zu betrachten und die sanft leuchtende Aura zu bewundern, die das tiefe Schwarz milderte.

Und so wird es jetzt immer sein, erklang eine Stimme in ihren Gedanken, in jedem Einzelnen von ihnen, ohne Ausnahme.

Es ist vollbracht. Von nun an und für alle Zeit ist Waldsee neutral. Durch den Schutz des Tabernakels werden weder Finsternis noch Regenbogen diese Welt zu einer ihrer Bastionen machen können. Solange der Siebenstern leuchtet, solange wird Waldsee einzigartig sein im Träumenden Universum, in Ishtrus Reich. Ein Wahrzeichen und zugleich ein Mahnmal an den Ewigen Krieg. Kein Mächtiger oder Gott kann jemals wieder danach trachten, die Welt in seinen Besitz zu nehmen und auszubeuten.

Dies ist unsere Welt. Dies ist eure Welt. Alle Völker haben ein Recht darauf, in Freiheit zu leben, ohne an die Mächte gekettet zu sein.

Nie wieder wird es eine Schlacht wie auf dem Titanenfeld geben, denn auch die Götter müssen sich daran halten, dass niemand über alles herrschen darf. Der Platz reicht für alle.

Und weil Waldsee neutral ist, wird diese Welt von nun an Asyl gewähren: jedem, der verfolgt wird, jedem, der dem Ewigen Krieg entsagen will, jedem, der den Frieden sucht. Niemand wird abgewiesen, ganz gleich, was er getan hat, und er wird in Ruhe leben können, solange er das Gesetz der Neutralität nicht bricht.

Auf euch warten nun harte Jahre, meine Kinder, denn die gewaltige Macht des Tabernakels hat unsere Welt tief verwundet. Doch wir können sie wieder aufbauen und heilen. Neue Bündnisse werden geschlossen, und ehemals verfeindete Völker werden sich gegenseitig helfen.

Diese Welt gehört nun euch. Geht sorgsam damit um. Und habt keine Sorge – niemand kann euch mehr von außen bedrohen.

Und zum Zeichen, dass ein neues Zeitalter anbricht, gebe ich euch etwas zurück, das euch von nun an immer an diesen großen Augenblick und an denjenigen erinnern soll, der dies ermöglicht hat.

Und da, überall auf der Welt sichtbar, ging ein neuer Mond am Himmel auf, groß und leuchtend und schimmernd wie Perlmutt.

Diejenigen, die sich noch daran erinnern konnten, flüsterten: Perlmond. 

Sie flüsterten es auch im Lande Valia, vor Dubhan der Lichtlosen, auf dem Schlachtfeld, und nicht wenige sanken dabei auf die Knie.

Und der Feind stand still und staunte nicht minder, und dann legte er die Waffen nieder.

Da wich die Nacht von Valia, und die Nachmittagssonne erstrahlte wie zuvor. Die Krieger sahen zum Himmel hoch, der nun violett war, nicht mehr blau, und so wirkte, als ob er mit einem glitzernden Schleier überzogen wäre, durch den ferne Sterne funkelten, am hellsten aber der Siebenstern. Und tief am Horizont stand der große schimmernde Perlmond.

Lúvenor hatte der Welt zurückgegeben, was im Krieg der Titanen verloren gegangen war: sein gütiges Auge, das fortan über alle gleichermaßen wachen würde, selbst über die Götter.



Sein erster Gedanke war: Was war das?

Sein zweiter: Habe ich geträumt?

Der dritte: Können Tote träumen?

Beim vierten Gedanken wusste er seinen Namen wieder, und das verwunderte ihn am allermeisten.

Rowarn schwebte hoch in den Sphären, mitten im Sternenhimmel, wie damals bei den Dämonenfrauen, nur noch höher. Er sah den Stern des Tabernakels und den Perlmond, er hatte alles gehört und gesehen und staunte nicht wenig, auch wenn er nicht wusste, ob es eine Vision oder Wirklichkeit gewesen war. Aber darauf kam es nicht mehr an. Diesmal habe ich wirklich alles richtig gemacht.

Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, ließ er sich dahintreiben. Fühlte er sich gut? Genau genommen fühlte er im Augenblick gar nichts. Die Welt sank langsam unter ihm hinweg, glitzernd wie ein Kristall. Über ihm waberte ein heller Nebelstreifen, auf den er zuschwebte. Als er schließlich hineintauchte, fühlte er sich von Licht und Wärme umgeben, wie in dem Augenblick, kurz bevor er das Tabernakel zusammengeführt hatte. Als die Erleuchtung über ihn kam und alle Rätsel gelöst wurden.

Er merkte, dass er von etwas aufgenommen und schützend umhüllt wurde, und blickte sich um. Ihm schien, als könne er eine riesige Nebelgestalt erkennen, zwischen deren Pranken er gerade eingefangen worden war. Über Rowarn schwebte ein mächtiger Katzenkopf mit wallender Mähne, der dem Waldlöwen des letzten Winters erstaunlich ähnlich sah.

Lúvenor?

Die Lefzen des gewaltigen Löwen verzogen sich zu einem vergnüglich wirkenden Schmunzeln. Er zwinkerte. Dann wies er mit einer Pranke tiefer in den Nebel hinein und schob Rowarn sacht weiter dorthin.

Zaghafte Neugier erfasste ihn. Was gab es noch alles nach dem Tod? Dies hier glich nicht im Mindesten den Gestaden, an denen er seine Mutter getroffen hatte. Und es war auch nicht die schwarze Mauer seiner Vision, in der er sich am Ende aufgelöst hatte; genau wie er es vorhergesehen hatte. Doch das hatte wohl nur einen kurzen Moment gedauert, denn seinem Gefühl nach hatte er sich gleich darauf zwischen den Sternen befunden. Rowarn war verwirrt und ein wenig ängstlich – und erstaunt, weil er ängstlich war, denn was konnte ihm noch geschehen? Er hatte alles überstanden. Dies hier war vielleicht noch ein letzter Ausklang, bevor seine Seele die Reise antrat. Wenngleich es ein sehr seltsamer Traum war, aber so oft war Rowarn auch noch nicht tot gewesen, um das beurteilen zu können. 

Das Zentrum des leuchtenden Nebels nahm nun seine Aufmerksamkeit gefangen. Etwas wallte dort, das die Umrisse eines Drachen zu haben schien. Dann hatte Rowarn plötzlich das Gefühl, er würde in seiner Bewegung innehalten. Er fühlte Widerstand, als ob er auf festem Boden stünde. Als er sich umsah, schien es so, als sei er auf einer riesigen Hand gelandet, die ihn behutsam hielt. Aus dem Nebel heraus glitzerten zwei Sterne wie Augen.

WILLKOMMEN, MEIN KIND.

Die Stimme war reine Musik, der Klang vollendeter Harmonie. Das Schönste, was er je gehört hatte, vollkommen und rein. Die Stimme redete in keiner Sprache, benutzte keine Silben und Wörter, doch Rowarn verstand trotzdem alles. 

Er erstarrte, und seine Gedanken überschlugen sich. War es möglich, dass ... der ERSTE GEDANKE ...?

Sanftes Glockengeläut (er wusste keine andere Bezeichnung) antwortete ihm. WARUM SOLLTE ES NICHT MÖGLICH SEIN? BIN ICH NICHT DER SCHÖPFER DES TABERNAKELS? DER SCHÖPFER VON WALDSEE?

Ich dachte, ein Wesen wie du sei unbegreiflich.

ABER ICH HABE DIE MACHT, MICH DIR VERSTÄNDLICH ZU MACHEN. ICH BIN ALLES, ROWARN.

Ja, gewiss. Und es war ein sehr tröstlicher Gedanke für Rowarn. Sie waren nie allein und verlassen. Lúvenor hatte sich nicht von seinem Geschenk abgewendet und Erenatar nie von seiner Schöpfung. Der Ewige Krieg mochte dort draußen toben, Erenatar würde den Traum weiterhin davor beschützen.

Rowarn entspannte sich. Er wusste nicht, warum er hier war, warum Erenatar mit ihm sprach. Aber da er nun schon mal da war, wollte er gern ein paar Fragen stellen.

Ist nun alles so gekommen, wie du es geplant hast?

ES IST GESCHEHEN, WAS GESCHEHEN SOLLTE. EIN KLEINER, KURZER SCHRITT AUF ALL DEN WEGEN, ÜBER DIE ICH WANDLE. LETZTENDLICH KOMMT ES IMMER, WIE ES MUSS.

Zu einem hohen Preis für uns. So viele Opfer ...

LEBEN BEGINNT, LEBEN ENDET. DIES IST, WAS ICH EUCH GEBEN KANN, ALS ERSTER GEDANKE DES TRÄUMERS. DOCH ES LIEGT ALLEIN AN EUCH, WAS DAZWISCHEN IST. DARAUF HABE ICH KEINEN EINFLUSS.

Wird der Ewige Krieg dann jemals enden?

AUCH DER EWIGE KRIEG IST NUR EIN SCHRITT. ER WIRD ENDEN, WIE ALLES EINST ENDET. UND DANN WERDEN WIR NEU BEGINNEN. VERTRAUE DARAUF. WIR LASSEN DEN TRAUM NICHT STERBEN. ICH BIN ISHTRUS ERSTER GEDANKE, ICH WEISS, WAS ER WÜNSCHT. ER LIEBT DEN TRAUM, WIE ER UNS ALLE LIEBT. SO, WIE ICH EUCH LIEBE. ALLES MUSS ENDEN UND SICH ERNEUERN. UND DU HAST EINEN GROSSEN BEITRAG DAZU GELEISTET. ZUM DANK HAT LÚVENOR DIR DEINEN MOND ZURÜCKGEGEBEN, DER ALLE DARAN ERINNERN SOLL, WAS PERLMOND, DER ERSTE UND LETZTE DER NAURAKA, DIE DAS MEER VERLIESSEN, FÜR DIE WELT GETAN HAT. 

Das ist sehr freundlich. Um nicht zu sagen, eine große Ehre. Das wäre nicht notwendig gewesen, aber ich finde den Mond sehr schön, und ich bin froh, wenn dadurch die Erinnerung an die Titanenschlacht endlich ein wenig verblasst. Irgendwann muss es einen Neuanfang geben, und jetzt scheint der richtige Zeitpunkt dafür zu sein.

DER MOND IST EIN ZEICHEN FÜR ALLE, DASS NUN ZWISCHEN DEN SPHÄREN FRIEDEN HERRSCHEN SOLL. AUF WALDSEE ZUMINDEST IST DER EWIGE KRIEG BEENDET. DIESE WELT IST VON NUN AN NUR FÜR SICH SELBST VERANTWORTLICH. 

Das habe ich in Lúvenors Ansprache gehört. Aber natürlich werden sich die Völker untereinander auch weiterhin bekriegen, wenn es um das Land eines anderen geht, um dessen Frau oder was auch immer.

GEWISS. FÜR DIE MEISTEN HAT SICH NICHTS GEÄNDERT. ABER DAS IST AUCH NICHT WICHTIG. WICHTIG IST, DASS DIE WELT FÜR DIE MÄCHTE NICHT MEHR ANGREIFBAR IST. ICH HABE EIN ZEICHEN GESETZT, DAMIT DIE HOFFNUNG BLEIBT. ICH KANN DEN FRIEDEN NICHT ERZWINGEN, ABER WIR SIND VIELLEICHT AUF DEM WEG DORTHIN.

Das wäre schön. Wenn ich mich hier so umsehe, gefällt es mir außerordentlich gut. Ich liebe meine Welt, doch das Universum hier draußen zeigt erst, wie wundervoll Ishtrus Schöpfung ist.

NENNE MIR DEINEN WUNSCH, KIND, UND ICH WERDE IHN DIR ERFÜLLEN. DAS BIN ICH DIR SCHULDIG.

Oh ... dann ... dann könnte ich also zurück? Ich meine, ich könnte leben?

DU BIST NICHT TOT. DU BIST NUR IN EINE ANDERE EBENE EINGETRETEN. DIE EBENE DER MÄCHTIGEN.

Ich werde nie mehr etwas auf meine Vorahnungen geben.

SIE WAREN NICHT FALSCH. DOCH DU BIST AN EINEN PUNKT HINTER DIE MAUER GELANGT, SOWEIT KONNTEST DU IN DEINER VORAHNUNG NICHT BLICKEN.

Trotzdem überlasse ich die Hellsicht weiterhin besser meinem Vater.

NENNE MIR NUN DEINEN WUNSCH.

Oh ... was kann ich denn wählen?

DU KANNST DAS UNIVERSUM UNTER MEINEM SCHUTZ ALS UNSTERBLICHER WANDERER BEREISEN, WENN DU ES WILLST, UND NOCH MEHR VON DER SCHÖPFUNG KENNENLERNEN. DU BIST FREI.

Da musste Rowarn leise lachen. O Herr, dachte er heiter, das sagst du nur, weil du genau weißt, dass ich mich jetzt nicht einfach davonstehlen werde. Für dich mag die Geschichte des Tabernakels beendet sein, aber die meine beginnt erst. Habe ich recht?

Er fühlte hell strahlende Wärme in seinem Inneren, als der ERSTE GEDANKE sein Gelächter beantwortete. Hingerissen lauschte er den Klängen, für die er niemals Worte finden würde. 

SO SEI ES DENN. DOCH BEDENKE WOHL: WAS DU VON JETZT AN TUST, MEIN KIND, IST DEINE FREIE ENTSCHEIDUNG, KEINE BESTIMMUNG MEHR. ALSO MACH MIR KEINE VORWÜRFE, WENN ETWAS SCHIEFGEHT!

Das werde ich nicht, o Erenatar, antwortete Rowarn vergnügt. Aber es wäre doch Verschwendung, wenn ich nach all den Prüfungen das Erlernte nicht weitergäbe, denkst du nicht?

SO FREI WIE JETZT WIRST DU NIE WIEDER SEIN.

Rowarn dachte an Arlyn, und sein Herz füllte sich mit Liebe. 

Es ist schon gut so, wie es ist, Herr. Mag sein, dass manche sich das ersehnen, was du mir schenken willst. Aber ich bin gern an meine Königin gebunden, und an all das andere werde ich mich schon gewöhnen. Meine Freunde haben so viele Opfer dafür gebracht, da will ich sie nicht enttäuschen.

Er fühlte ein letztes, knospensprießendes und blütenexplodierendes Lachen in sich und spürte, wie sich der ERSTE GEDANKE entfernte. LEB WOHL, WEISES KIND. DIESE WELT IST IN GUTEN HÄNDEN.