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Meike betrat das Schulgebäude. Lust auf das Fest zum Ende des Halbjahres hatte sie eigentlich nicht, aber sie hatte keine andere Wahl. Jede Klasse, auch ihre eigene, hatte ein Projekt vorbereitet, das nun allen präsentiert werden sollte.
Meike hätte den Samstag lieber zu Hause verbracht. Wahrscheinlich allein auf der Couch mit einem Buch. Sie seufzte. Genauso hatten die vergangenen Wochenenden auch ausgesehen. Seit dem Weihnachtsfest war sie sonntags nicht mehr zu ihren Eltern gefahren; ihr Vater sprach noch immer kein Wort mit ihr. Fünf Wochen Funkstille.
Und von Franzi hatte sie auch nichts gehört. Anfangs hatte sie sich jeden Tag gefragt, ob Franzi ihren Brief überhaupt gelesen hatte. Hatte diese Fremde ihr den Umschlag vielleicht gar nicht ausgehändigt? Irgendwann hatte Meike sich zwingen müssen, die Grübelei aufzugeben. Sie musste ihr Leben wieder in die Hand nehmen. Franzi wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Das musste sie akzeptieren.
»Frau Jakobs, gut, dass Sie da sind!« Carolin kam auf sie zugestürmt. »Das Poster fällt immer von der Wand. Sie müssen uns helfen.«
Froh, sich direkt mit Arbeit ablenken zu können, folgte Meike ihrer Schülerin in den Klassenraum. Im Gegensatz zu sonst herrschte hier Betriebsamkeit. Alle Schüler waren bereits da und eifrig damit beschäftigt, die letzten Vorbereitungen zu treffen. Jeder hatte seine Aufgabe und ging ihr gewissenhaft nach. Meike half, wo es noch nötig war.
»Hallo, Meike.« Wiebke spähte um die Ecke. »Hast du Lust auf einen Kaffee?«
Meike sah sich noch einmal im Klassenraum um. Es war alles aufgebaut, und die Präsentation und Erklärung des Projekts für die interessierten Besucher sollten die Schüler ohnehin selbst übernehmen. Außerdem waren bereits einige Eltern da.
»Ja, gern«, entschied Meike deshalb. »Ich denke, ich kann euch allein lassen«, wandte sie sich an ihre Schüler.
Alle nickten. »Natürlich«, tönte Simon, der Klassensprecher. »Wir bekommen das schon hin.«
»Daran habe ich keinerlei Zweifel.« Meike grinste. »Benehmt euch.«
Gemeinsam mit Wiebke ging sie in den Pausenraum, in dem Waffeln, Kaffee und andere Getränke verkauft wurden.
Franzi nahm noch einmal den Flyer vom Spiegel an der Garderobe und betrachtete ihn. Lange hatte sie überlegt, ob sie wirklich zu Meikes Schulfest gehen sollte. Zwar hatte Meike sie eingeladen, aber wollte sie sie wirklich dabei haben? Franzi hatte sich bei Meike noch nicht einmal für den Brief bedankt, aber inzwischen war schon so viel Zeit verstrichen . . . vielleicht hatte Meike sie längst vergessen.
Sie selbst konnte Meike jedoch nicht vergessen, niemals. Sie liebte Meike, egal, wie sehr und wie lange sie sich dagegen gewehrt hatte. Das musste sie Meike sagen. Sie würde Meike verzeihen, wenn diese noch wollte. Viel zu lange hatte sie damit gewartet. Es war an der Zeit. Mehr noch, es war längst überfällig.
Eilig machte sich Franzi fertig. Schmetterlinge flatterten wild in ihrem Bauch. Die Treppe hinunter flog sie beinahe. Als sie im Auto saß, konnte es ihr nicht schnell genug gehen. Sie verfluchte jede rote Ampel. Aber ihrer Aufregung und Vorfreude konnten all diese Verzögerungen keinen Abbruch tun.
Endlich sah sie die Schule vor sich. Der Parkplatz war überfüllt, aber Franzi hatte dennoch Glück, eine kleine Lücke zu finden. Auf dem Weg ins Schulgebäude entdeckte sie Meikes Wagen. Ihr Herz machte einen Freudensprung. Sie war da.
Bunte Schilder wiesen den Besuchern den Weg zu den einzelnen Projekten. Aber wo sollte sie nach Meike suchen? Dann entdeckte sie an der Wand des Eingangsfoyers ein Plakat, auf dem jedes Projekt mit Klasse und Klassenlehrer aufgelistet war. Franzi fuhr mit dem Finger darüber, bis sie Meikes Namen fand. Sie merkte sich die Raumnummer und begab sich auf die Suche.
Es dauerte eine Weile, bis sie am Ende eines Flures fündig wurde.
Franzi atmete einmal tief durch und straffte sich. In ihren Gedanken hatte sie sich genau zurechtgelegt, was sie Meike sagen wollte, aber in diesem Augenblick fühlte sich ihre Kehle rau und trocken an.
Sie betrat das Klassenzimmer und sah sich nach Meike um, konnte sie aber inmitten von Schülern und Eltern nicht entdecken. »Ist Frau Jakobs nicht hier?«, fragte sie ein Mädchen, das an ihr vorbeilief.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, die ist gegangen.«
»Weißt du denn, wo ich sie finden kann?«
»Vielleicht im Pausenraum«, sagte die Schülerin. Sie erklärte Franzi den Weg.
»Danke«, verabschiedete sich Franzi und folgte den Anweisungen des Mädchens, um den Raum zu finden.
Der Duft von Kaffee und Waffeln stieg ihr in die Nase. Hier musste es sein. Sie stieß die Tür auf und trat ein. Stimmengewirr empfing sie. Suchend blickte sie sich um.
Und da stand sie, an einen Stehtisch gelehnt, die Kaffeetasse in der Hand. Ihre blonden Haare fielen locker auf ihre Schultern. Sie lächelte.
Franzis Herz setzte einen Schlag aus, ehe es viel zu schnell weiterpochte.
Von der Seite näherte sie sich Meike, die sie noch nicht bemerkt hatte. Vorsichtig tippte sie gegen Meikes Arm. »Hallo, Meike.«
Ein überraschtes smaragdgrünes Augenpaar richtete sich auf sie. »Franzi.«
»Ich gehe dann mal besser.« Erst jetzt bemerkte Franzi die andere Frau, die noch am Tisch stand. Die Fremde zwinkerte Meike zu und verschwand in der Menge.
»Was . . . äh . . . was machst du denn hier?«, stammelte Meike.
»Du hast mich doch eingeladen. Schon vergessen?« Franzi schmunzelte. Dann wurde sie ernst. »Wenn es dir lieber ist, dass ich wieder gehe, ist das kein Problem.«
»Nein, bitte bleib.« Meike strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Möchtest du etwas trinken?«
Franzi schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht können wir uns kurz unterhalten.«
»Komm mit.« Meike nahm Franzis Hand. Franzis ganzer Körper begann zu kribbeln.
Kurz darauf standen sie draußen vor dem Hintereingang. Meike hatte Franzis Hand wieder losgelassen, aber Franzi konnte sie immer noch in ihrer spüren.
»Ich freue mich wirklich, dass du gekommen bist.« Meike senkte den Blick. »Auch wenn ich ehrlich gesagt gar nicht mehr damit gerechnet habe.«
Franzi starrte auf ihre Schuhspitzen. »Ich brauchte etwas Zeit.«
»Hast du meinen Brief bekommen?« Meikes Stimme klang brüchig.
»Ja, Elli hat ihn mir gegeben.«
»Elli?« Meikes Finger spielten nervös miteinander.
»Eine Freundin, die zufällig zu Besuch war, als du vorbeigekommen bist. Ich war gerade im Bad«, erklärte Franzi. Die genauen Details ließ sie weg. Sie spielten keine Rolle.
»Nur eine Freundin?«, flüsterte Meike. »Ich dachte . . .« Sie brach ab.
Franzi nahm Meikes Hände in ihre. Sie sah Meike tief in die Augen. »Meike, ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt.«
Meike schluckte. »Heißt das, du verzeihst mir?« Freudentränen kullerten ihre Wangen hinunter.
Franzi fuhr ihr lächelnd mit den Fingerspitzen durchs Gesicht, um die Tränen wegzuwischen. »Wenn du das noch möchtest.«
»O Franzi, ich wünsche mir nichts mehr.« Überglücklich nahm Meike Franzi in den Arm und schmiegte sich an sie. Franzi spürte Meikes pochendes Herz an ihrer Brust, spürte Meikes Zittern. Meike flüsterte: »Ich liebe dich auch.«
Ihre Lippen trafen sich sanft und doch voller Leidenschaft. Der Kuss ließ Franzi all ihren Schmerz vergessen.
»Ich werde dich niemals wieder verleugnen«, wisperte Meike.
Franzi fuhr ihr zärtlich über den Arm. »Ich weiß.«
»Möchtest du denn demnächst noch mit mir nach Paris?« Meike lächelte. »Mein Geburtstagsgeschenk. Du erinnerst dich?«
»Die Stadt der Liebe. Du und ich. Wie könnte ich da widerstehen?« Franzis Finger strichen sanft über Meikes Hals, ehe sie ihr die Lippen mit einem erneuten Kuss verschloss. Dieses Mal war sie sich sicher. Es war für immer.
ENDE