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»Da seid ihr ja, Kinder.« Regine stand in der Tür und erwartete Franzi und Meike freudestrahlend. Sie reichte Meike die Hand. »Schön, dass du mitgekommen bist. Ich darf doch weiter ›du‹ zu dir sagen, oder? Ich fände es doch komisch, dich jetzt zu siezen, nachdem ich dich schon kenne, seit du ein kleines Kind warst«, plapperte sie munter weiter.

Meike nahm Regines Hand und schüttelte sie. »Selbstverständlich dürfen Sie, Frau Kurz.«

»Dann gilt das aber auch für dich. Nenn mich bitte einfach Regine.« Franzis Mutter lächelte Meike an.

»Gern«, erwiderte Meike.

Franzi mischte sich ein: »So, bin ich jetzt auch mal dran?« Lachend umarmte sie ihre Mutter.

Regine drückte Franzi einen Kuss auf die Wange. »Setzt euch doch ins Wohnzimmer. Wollt ihr etwas trinken? Vielleicht ein Gläschen Wein?«

»Was möchtest du?«, fragte Franzi, an Meike gewandt.

Meike wischte ihre Hände an ihrer Jeans ab. Die herzliche Begrüßung hatte ihre Nervosität zwar beruhigt, aber nicht ganz vertrieben. »Ich weiß nicht.«

»Der Wein ist vorzüglich, ich habe extra eine meiner besten Flaschen kaltgestellt«, pries Regine ihren Wein an. »Ist ja irgendwie ein besonderer Anlass heute.«

»Dann können wir wohl kaum etwas anderes nehmen.« Franzis Mundwinkel zuckten belustigt. »Was meinst du, Meike?«

»Ja, meinetwegen«, gab Meike ihre Zustimmung. Sie nickte leicht.

»Ich hole mal das edle Tröpfchen.« Damit verschwand Regine in der Küche.

»Soll ich dir etwas helfen?«, rief Franzi ihrer Mutter hinterher.

»Nicht nötig«, schallte es aus der Küche zurück.

Franzi setzte sich neben Meike auf das Sofa. »Und? Alles in Ordnung bei dir?« Sie nahm Meikes Hand in ihre.

Aber Meike zog ihre Hand augenblicklich zurück. »Nicht.« Sie sah Franzi nicht an.

»Meine Mutter stört das nicht«, versuchte Franzi Meike davon zu überzeugen, wenigstens diese harmlose Berührung zuzulassen.

»Mich aber.« Meike zog die Stirn kraus.

Franzi seufzte. »In Ordnung. Wie du möchtest.«

»Franzi . . . ich . . .«, stammelte Meike, die Augen starr auf den Boden gerichtet.

»Schon gut.«

Meike schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nicht gut. Aber ich kann das nicht. Noch nicht.«

Wie oft hatte Franzi das jetzt schon gehört. Aber ihr blieb nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren.

Regine erschien wieder im Wohnzimmer. »So, Kinder. Ein leckerer Weißwein für euch. Franzi?« Sie sah ihre Tochter an. »Kannst du mal drei Gläser für uns holen?«

»Natürlich.« Franzi stand sofort auf, um die Gläser aus der Vitrine zu nehmen.

Kurz darauf saßen alle mit ihren gefüllten Gläsern um den Couchtisch.

»So, Meike, erzähl mal. Wie geht es dir? Wir haben uns ja nun schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Das war wirklich schade, dass ihr euch nach der Schule so aus den Augen verloren habt.« Regine lächelte Meike an.

»Mama«, sagte Franzi vorwurfsvoll. »Das ist doch kein Verhör hier.«

Aber Meike räusperte sich. »Schon gut, Franzi.« Sie erwiderte Regines Lächeln. »Ja, ich fand das auch sehr schade. Umso mehr habe ich mich gefreut, als ich Franzi auf unserem Klassentreffen wiedergetroffen habe. Auch wenn ich lange dachte, sie käme gar nicht. Es war schon recht spät, als sie endlich aufgetaucht ist.«

Regine atmete tief durch. »Ja, in den letzten Monaten musste man Franzi regelrecht zwingen, das Haus zu verlassen. Aber ich bin froh, dass sie zum Klassentreffen gegangen ist. Und . . .« Sie machte eine kleine Pause und sah von Franzi zu Meike. »Dass ihr euch gefunden habt.«

Franzi legte ihre Hand auf Meikes Oberschenkel.

Meike zuckte leicht zusammen. Aber sie ließ es geschehen.

»Ich bin auch sehr froh.« Franzis Finger streichelten zurückhaltend über den Stoff von Meikes Jeans.

Meike strich sich eine Haarsträhne aus ihrem geröteten Gesicht. »Ja, das bin ich auch.« In ihrem Schoß verknoteten sich ihre Finger miteinander.

»Wollt ihr schon essen? Ich brauch so eine Viertelstunde.« Regines Blick verharrte einen kurzen Moment bei Franzis Hand, die noch immer auf Meikes Oberschenkel lag.

Franzi nahm einen Schluck Wein. »Also, ich könnte schon etwas essen.« Wie zur Bestätigung ihrer Worte knurrte in diesem Moment ihr Magen.

»Gut, dann gebt mir noch ein bisschen Zeit.«

»Soll ich Ihnen . . . ähm . . . dir etwas helfen?«, fragte Meike.

»Nein, danke, das schaffe ich schon.« Regine lachte.

»Deine Mutter ist wirklich nett«, flüsterte Meike, nachdem Regine wieder in der Küche verschwunden war. »Und . . .« Sie stockte, als kosteten sie die Worte einige Mühe. »Und so ganz anders als meine Eltern.« Ihre Lippen pressten sich aufeinander.

»Ja, Mama ist schon toll.«

»Ich wünschte, meine Mutter und vor allem mein Vater wären ähnlich locker.« Meike umklammerte den Stiel ihres Weinglases und starrte hinein. »Wenn ich . . . Wenn wir . . .« Sie brach ab.

Franzi legte beruhigend den Arm um Meike. »Mach dir doch nicht so viele Sorgen. Was soll denn passieren?«

Meike schloss die Augen und lehnte sich an Franzis Schulter. Das war mehr, als Franzi erwartet hatte. »Du kennst doch meinen Vater. Was meinst du, wie er reagieren würde?«

Franzis Finger fuhren Meikes Arm entlang. »Aber er liebt dich doch. Er wird das akzeptieren.«

Meike stieß verächtlich die Luft aus. »Das denkst du. Er wird das niemals akzeptieren. Eher wird er mich verstoßen.« Meike richtete sich wieder auf, setzte sich gerade hin und strich ihre Bluse glatt. »Aber lass uns von etwas anderem reden.«

Franzi seufzte hörbar. Kaum öffnete sich Meike ihr gegenüber, kaum überwand sie ihre Hemmungen und sprach ihre Ängste und Zweifel aus, war es damit auch schon genauso schnell wieder vorbei, und sie zog sich in Unverfänglichkeiten zurück. Sie war wirklich eine Meisterin darin, ihre Gefühle zu ignorieren und zu verstecken.

»Die Wohnung sieht ganz anders aus als früher«, wechselte Meike prompt das Thema.

»Hm«, murmelte Franzi. »Meine Mutter hat nach dem Tod meines Vaters einiges ausgetauscht. Es hat zwar eine ganze Weile gedauert, bis sie so weit war, aber dann konnte sie die alten Möbel nicht mehr sehen. Es hat sie alles an meinen Vater erinnert.«

Meike nickte. »Das kann ich mir vorstellen.« Sie suchte Franzis Augen. »Wie war das bei dir?«

Franzi beugte sich ein wenig vor, so dass sie mit den Händen ihre Knie umfassen konnte. Sie zögerte ein wenig. »Nach Isabels Tod . . . Erst haben mir die Erinnerungsstücke Kraft gegeben. Aber dann . . .« Ihre Stimme verlor sich zu einem leisen Krächzen. »Ich bin dann von Braunschweig wieder nach Goslar gezogen, und bis auf einige wenige Sachen habe ich das meiste nicht mitgenommen. Ich wollte nicht mehr in dem gleichen Bett schlafen, in dem ich . . .« Sie brach ab. Ihre Zähne bohrten sich in ihre Unterlippe.

»So, es kann losgehen.« Frohgelaunt trat Regine wieder ins Wohnzimmer. Ihr Blick wanderte zwischen Meike und Franzi hin und her. »Was ist denn hier für eine trübselige Stimmung?« Sie stellte die leeren Teller und Dessertschalen, die sie mitgebracht hatte, auf dem Esstisch ab.

Franzi gab sich einen Ruck. »Es ist alles in Ordnung, Mama. Wir . . . wir haben gerade nur über die Vergangenheit geredet. Über Papa und so.«

»Gut«, gab sich Regine mit der Antwort zufrieden. »Jetzt könnte ich eure Hilfe gebrauchen. Ihr könnt schon mal den Tisch decken, wenn ihr wollt. Besteck müsstest du noch aus der Schublade nehmen.«

Während Franzi und Meike den Tisch deckten, trug Regine zahlreiche Schüsseln herein.

Franzi runzelte die Stirn. »Wer soll das denn alles essen?«

»Ach, zur Not nehmt ihr etwas mit für morgen.« Regine zuckte mit den Schultern. »Du weißt doch, wie ich bin.«

»In der Tat«, sagte Franzi mit einem liebevoll-spöttischen Lächeln.

Meike bemerkte: »Das ist fast wie sonntags bei meiner Familie. Da tischt meine Mutter auch jedes Mal viel zu viel auf, und das, obwohl sie doch mittlerweile wissen müsste, dass am Ende immer jede Menge übrigbleibt.« Sie verdrehte die Augen.

»So sind Mütter eben«, stellte Regine schmunzelnd fest. »Dann nehmt Platz und bedient euch.«

»Danke.« Meike rückte sich einen Stuhl zurecht.

Regine reichte die Schüsseln herum. »Was macht ihr denn nächste Woche?«, erkundigte sie sich dabei.

»Meike fährt auf Klassenfahrt«, erklärte Franzi.

»Ach, wirklich? Das ist toll. Und wo geht es hin?« Regine nahm ein paar Bohnen auf ihre Gabel.

»Nach Norddeich. In eine Jugendherberge«, erwiderte Meike.

»Das stell ich mir sehr aufregend vor«, sagte Regine kauend.

»Na ja«, Meike klang weniger begeistert, »eher ziemlich anstrengend. Ich fahre mit einer zehnten Klasse, und was die Kinder da für Unfug im Kopf haben . . .« Lächelnd sah sie zu Franzi. »Ich kann mich noch gut daran erinnern.«

Für einen Moment versank Franzi in Meikes Augen. Sie spürte das vertraute Kribbeln in ihrer Magengegend.

»Stimmt. Daran habe ich gar nicht gedacht«, lachte Regine. »Ich bin wohl doch noch etwas naiv.«

Meike schoss das Blut in die Wangen. »Ähm . . . So . . . so war das gar nicht gemeint«, stotterte sie.

»Franzi hat mir erzählt, was auf eurer Klassenfahrt passiert ist.«

»Oh.« Kleine Schweißtröpfchen bildeten sich auf Meikes Stirn.

»Mama, jetzt bring Meike nicht so in Verlegenheit«, ermahnte Franzi ihre Mutter streng.

»Was hast du denn? Das ist doch schön.«

»Ja, das war auch schön«, sagte Meike leise. Sie drehte sich zu Franzi, so dass sie ihr tief in die Augen sehen konnte. »Und . . . und das ist es auch immer noch.« Sie lehnte sich ein wenig in Franzis Richtung. Für den Bruchteil einer Sekunde berührten sich ihre Lippen.

Völlig überrumpelt saß Franzi regungslos da. Hatte Meike das gerade wirklich getan? Hatte Meike sie geküsst, vor den Augen ihrer Mutter?

Als Franzi langsam aus ihrer Starre erwachte und zu Meike hinüberschaute, sah sie, wie Meike lächelte. Ihre Augen strahlten.

Offenbar war es tatsächlich kein Traum gewesen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung. Auch wenn es nur Franzis Mutter war.

Franzis Herz machte kleine Freudensprünge. Irgendwann würde Meike mutiger werden. Irgendwann würde ihre Liebe kein Geheimnis mehr sein. Vielleicht nicht morgen, aber irgendwann . . .

Klassentreffen
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