~*~*~*~

Meike schleppte ihre schwere Reisetasche vom Bus zur Jugendherberge.

»Soll ich dir tragen helfen?« Grinsend lief Karsten neben ihr her.

»Nein, danke. Ich schaff das sehr gut allein«, erwiderte Meike schnippischer als beabsichtigt. Das fing ja gut an. Auf der Fahrt hatte sie ein großes Gespräch mit Karsten noch vermeiden können. Sie war im Bus hin und her gewandert, hatte sich zwischenzeitlich immer wieder bei der einen oder anderen Schülergruppe niedergelassen, nur um nicht längere Zeit in seiner Nähe sitzen zu müssen. »Du kannst ja den Schülern helfen, wenn du so viel Energie übrig hast.« Auf Meikes Stirn bildeten sich tiefe Falten.

»Na, na, Frau Kollegin. Warum so gereizt? Es liegt doch eine schöne Woche vor uns. Und wenn die Kids erst mal schlafen . . .« Vielsagend hob er eine Augenbraue.

Meike wurde schlecht. »Vergiss es!«

»Ich liebe Frauen, die wissen, was sie wollen.« Karsten lachte hämisch. »Und noch reizvoller ist es, wenn sie sich ein wenig zieren. So wie du.«

Meike ließ ihre freie Hand in ihre Jackentasche gleiten, und sofort spürte sie das kleine Stückchen Papier, das ihr Kraft gab. Ach, Franzi, wie gern wäre ich jetzt bei dir.

Kurz darauf waren alle an der Jugendherberge angekommen.

»Wartet hier. Ich werde uns anmelden, und dann verteilen wir die Zimmer«, wies Meike ihre Schülerinnen und Schüler an. Hoffentlich waren die Zimmer der Begleitpersonen möglichst weit voneinander entfernt. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass es keine gute Idee war, mit Karsten ein paar gemeinsame Tage zu verbringen. Aber sie hatte keine andere Wahl gehabt, als ihr Direktor sie gefragt hatte.

Einen Moment später kam Meike mit den Schlüsseln zurück. Sie teilten die Schüler nach Geschlecht auf, und Meike brachte die Mädchen zu ihren Schlafräumen, Karsten die Jungs. Meike machte die Kinder mit allen Regeln vertraut. »Und jetzt packt erst mal eure Sachen aus. In einer Stunde treffen wir uns im Eingangsbereich, und dann unternehmen wir eine kleine Wanderung, um die Umgebung kennenzulernen. Also zieht euch entsprechend an. Denkt daran, an der Küste ist es meist etwas kühler«, schloss Meike ihre Ausführungen ab.

Die Mädchen nickten, aber Meike wusste, sie hätte ebenso gut Spanisch sprechen können – es wäre genauso wenig angekommen. Seufzend machte sie sich zu ihrem Zimmer auf. Natürlich hatte sie kein Glück gehabt: Karsten schlief direkt nebenan.

»Wir sehen uns gleich zum Wandern?« Karsten stand in seiner Zimmertür, als habe er nur auf Meike gewartet.

»Lässt sich wohl kaum vermeiden.« Am liebsten hätte Meike mit ihren Blicken giftige Pfeile abgeschossen. Aber Karsten ließ sich davon nicht beeindrucken.

»Jetzt zier dich doch nicht so.« Abschätzig glitten seine Augen an Meikes Körper entlang. »Sonst bist du doch auch offener. Zumindest danach zu urteilen, was ich in den letzten Wochen so gesehen habe.«

Meike spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Das geht dich gar nichts an.«

»Wir werden sehen.«

Meike schlug ihre Zimmertür hinter sich zu und lehnte sich von innen dagegen. Verdammt, schrie es in ihrem Kopf. Was hatte Karsten damit andeuten wollen? Sie zog Franzis Zettel aus der Jackentasche. Schon am Morgen hatte sie die Nachricht mehrfach gelesen, und jedes Mal hatte sie Meike erneut ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. So auch dieses Mal.

Mein Liebling, ich wünschte, die Tage wären schon vorüber, und ich könnte dich wieder in meine Arme schließen. Aber zumindest in Gedanken bin ich immer bei dir. Du bist mein großes Glück. Deine Franzi.

Ach, wäre sie nur bei Franzi. Weit weg von Karsten. Mit Franzi war alles so einfach. Meistens jedenfalls.

Meike holte ihr Handy aus ihrer Handtasche und wählte Franzis Nummer.

»Hallo, Meike, seid ihr gut angekommen?«, begrüßte Franzi sie. Auch durch das Telefon konnte Meike hören, wie Franzi strahlte.

»Ja, wir sind gut durchgekommen, und die Kinder waren auch anständig. Bisher zumindest.« Meike merkte, wie sie sich beim Klang von Franzis Stimme langsam entspannte.

»Das ist schön. Was steht heute noch an?«

»Wandern.« Meike zuckte mit den Schultern.

»Das ist doch etwas für dich«, lachte Franzi. »Und wie geht es mit deinem Kollegen?«

»Ich kann Karsten jetzt schon nicht mehr sehen«, flüsterte Meike. Sie wusste nicht, wie dünn die Wände waren, aber sie wollte unbedingt vermeiden, dass Karsten etwas von ihrem Gespräch belauschte. Er wusste ohnehin bereits viel zu viel.

»Es sind doch nur fünf Tage.« Franzis Stimme klang sanft. »Aber ich fände es auch schöner, wenn du stattdessen bei mir wärst.«

»Danke für deine süße Nachricht.«

»Du hast sie gefunden?«

»Natürlich.« Meike lächelte.

»Franzi? Wo steckst du?«, tönte es im Hintergrund.

»Ich komme sofort. Einen Moment noch«, rief Franzi zurück, bevor sie wieder in den Hörer sprach. »Ich muss leider wieder an die Arbeit. Ich werde schon vermisst.«

»Ist gut. Ich muss mich ohnehin fertigmachen.« Meike versuchte, die Enttäuschung in ihrer Stimme zu verbergen.

»Lass dich von diesem Karsten nicht ärgern. Er ist es nicht wert. Mach dir ein paar schöne Tage«, bemühte sich Franzi, Meike aufzuheitern.

»Ich werde es probieren.«

»Ich vermisse dich«, sagte Franzi zärtlich.

»Hm, ja«, murmelte Meike zurück. Sie hatte immer noch Angst, jemand könnte etwas mitbekommen. Auf keinen Fall wollte sie, dass jemand – oder besser gesagt: dass Karsten etwas hörte, Fragen stellte.

Franzi seufzte schwer in den Hörer.

Meike wusste, dass es nicht die Antwort gewesen war, die Franzi hatte hören wollen. »Ich vermisse dich auch«, wisperte sie ganz leise.

Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, ließ sich Meike auf ihr Bett fallen. Sie verschränkte die Hände im Nacken und starrte an die Decke. Würde sie Franzi jemals das sagen können, was sie hören wollte? Nicht, weil sie es nicht auch fühlte, sondern weil sie Angst hatte, jemand könnte es mitbekommen? Andererseits . . . was würde im schlimmsten Fall passieren?

Bei Franzis Mutter war es am Ende gar nicht so schwer gewesen, Franzis Hand zu halten oder sie zu küssen. Es hatte sich richtig angefühlt, obwohl sie nicht ganz allein mit Franzi gewesen war. Doch wenn es nicht Franzis Mutter war, sondern jemand anders . . .

»Meike, bist du noch hier?« Das Klopfen an ihrer Tür und Karstens unerträgliche Stimme rissen Meike aus ihren Gedanken.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Die Stunde war schon verstrichen, sie musste los. Auf in den Kampf, sprach sie sich Mut zu. »Ich komme«, rief sie zurück. Schnell zog sie sich ihre Jacke über und die Wanderschuhe an, dann trat sie aus ihrem Zimmer.

Karsten stand vor der Tür und erwartete sie. »Hast du dir schon eine Route überlegt?«

»Das war deine Aufgabe«, zischte Meike.

»Ist sowieso besser. Solche verschlungenen Pfade, wie du manchmal wählst.« Er verdrehte die Augen. »Das wollen wir unseren Kids ja nicht antun.«

Meike spürte ein Ziehen in ihrer Magengegend. Was wollte Karsten damit schon wieder andeuten? Oder riet er einfach nur ins Blaue? Sie atmete tief durch. »Los, komm, unsere Schüler warten.«

»Soll ich dir helfen?« Herausfordernd fixierte Karsten Meike, die gerade dabei war, den Gemeinschaftsraum aufzuräumen.

»Danke, das geht schon.« Meike wollte nur noch ins Bett. Die Busfahrt steckte ihr noch in den Knochen; sie war froh, den ersten Abend überstanden zu haben.

»Aber, aber . . .« Karsten ergriff einen Stuhl. »Ich kann eine schwache Frau doch nicht allein arbeiten lassen.« Er stellte den Stuhl zu den anderen.

»Karsten, ich brauche keinen Aufpasser«, sagte sie scharf.

»Du verstehst das falsch. Ich passe nicht auf dich auf, sondern ich helfe dir nur.«

»Auch das ist nicht nötig.« Meike stapelte mehrere Stühle ineinander. Als sie sie anhob, zog es in ihren Oberarmen – der Stapel war viel zu schwer für sie. Aber das war ihr egal. Hauptsache, sie würde schnell fertig werden.

Als sie die Stühle in der Ecke des Raumes abstellte, stand Karsten plötzlich neben ihr. Seine Finger strichen über ihre Arme. »Mehr Muskeln, als ich erwartet hätte.«

Meike fuhr herum. »Fass mich nicht an. Sonst schrei ich.«

»Werd doch nicht immer gleich hysterisch.« Karsten grinste breit über das ganze Gesicht. »Oder lässt du dich nicht mehr von Männern anfassen?«

Meike zuckte zusammen. Aber sie gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.

»Nur noch von deiner kleinen Freundin. Wie hieß sie noch gleich?« Karstens Lachen klang bösartig.

Meike holte tief Luft. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, antwortete sie so ruhig wie möglich. Aber sie merkte, wie ihre Stimme zitterte.

»Diese Dunkelhaarige, die dich so überschwänglich nach der Schule begrüßt oder mit der du Hand in Hand über das Altstadtfest läufst.« Karsten schien seinen Triumph zu genießen. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln.

»Ich weiß nicht, was du meinst.« Meike presste die Lippen aufeinander.

Karsten stand so dicht vor Meike, dass sie seinen Atem im Gesicht spüren konnte. »Erzähl mir nicht, ihr seid nur Freundinnen.« Sein Finger strich durch ihre Haare, fuhr über ihre Wange. »Ein wahrer Verlust.«

Panik ergriff Meike. Aber sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen, die verhasste Berührung abzuwehren. Stocksteif stand sie auf der Stelle.

»Also, wer ist die Kleine? Besorgt sie es dir so richtig?« Karsten beugte sich noch näher zu Meike. Seine Lippen berührten ihr Ohr. Sie fühlte sich krank vor Angst und Ekel. »Ich bin mir sicher, so gut wie ich ist sie nicht.«

»Karsten!« Endlich gelang es ihr, ihren Kollegen ruckartig zur Seite zu schieben. »Hör auf damit. Was soll das?«

»Mach mir doch nichts vor. Ich weiß, dass du ’ne Lesbe bist«, ätzte Karsten.

»Das ist völliger Blödsinn.«

»Ist es nicht.« In seinen Worten schwang Verachtung mit. »Lesbe.« Er spuckte ihr das Wort entgegen, als sei es das schlimmste Schimpfwort, das er kannte.

Die Angst vernebelte Meike die Sinne. Was sollte sie nur tun? Was sollte sie sagen? Wieso war sich Karsten überhaupt so sicher – was wusste er? Aber sie durfte ihm nicht die Wahrheit sagen.

»Hat es dir die Sprache verschlagen? Habe ich recht?« Karsten funkelte Meike an.

»Nein, ich stehe nicht auf Frauen.« Kaum hatte sie diese Lüge ausgesprochen, tauchte Franzis Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Sie spürte einen Stich in der Brust.

»Dann kannst du ja mit mir ausgehen.« Karstens Zunge leckte über seine Lippen.

Meike zeigte ihm einen Vogel. »Hast du sie noch alle?« Ihre Stimme bebte.

»Überleg es dir. Sonst weiß bald die ganze Schule, dass du ’ne Lesbe bist.«

Meike wurde heiß und kalt. Würde Karsten das wirklich machen – sie erpressen? Sie sah in Karstens höhnisch grinsendes Gesicht. Er würde. Keine Frage.

»Also, was ist? Du kannst dir sicherlich vorstellen, was los ist, wenn alle erfahren, mit wem du das Bett teilst.« Er lachte verächtlich. »Also. Beweis mir, dass du hetero bist.« Noch einmal machte er einen Schritt auf Meike zu, hauchte einen Kuss auf ihre Wange.

Meike holte aus und verpasste ihm eine Ohrfeige. Das hätte sie schon viel früher tun sollen. »Lass mich in Ruhe.« Auf wackeligen Beinen verließ sie den Gemeinschaftsraum. In den Augenwinkeln konnte sie erkennen, wie Karsten schimpfend seine Wange rieb.

»Du wirst schon sehen, was du davon hast«, fauchte er ihr nach.

Meike lief, so schnell sie konnte. Hoffentlich folgte Karsten ihr nicht. Endlich hatte sie die vermeintlich sichere Zimmertür erreicht, schloss sie hinter sich ab und ließ sich von innen dagegen sinken. Verdammt, verdammt, verdammt, fluchte sie innerlich. Wie hatte sie das nur zulassen können? Was sollte sie jetzt machen? Karsten hatte sie in der Hand.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie musste um jeden Preis verhindern, dass es die ganze Schule erfuhr.

Klassentreffen
titlepage.xhtml
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_000.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_001.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_002.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_003.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_004.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_005.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_006.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_007.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_008.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_009.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_010.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_011.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_012.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_013.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_014.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_015.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_016.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_017.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_018.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_019.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_020.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_021.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_022.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_023.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_024.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_025.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_026.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_027.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_028.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_029.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_030.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_031.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_032.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_033.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_034.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_035.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_036.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_037.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_038.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_039.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_040.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_041.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_042.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_043.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_044.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_045.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_046.html