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Lustlos stocherte Meike beim allsonntäglichen Familienessen auf ihrem Teller herum. Schweinebraten mit Salzkartoffeln und Rosenkohl. Es gab nicht viel, was sie weniger gern aß. Und das jeden Sonntag. In geringen Variationen.

Meikes Schwester schien ebenso wenig Appetit zu haben. Nur ihrem Schwager Robert schmeckte es. »Kann ich noch eine Scheibe Schweinebraten bekommen?«, verlangte er bereits den zweiten Nachschlag. Er reichte seinen Teller seiner Schwiegermutter, vor der die Fleischplatte stand.

»Natürlich. Freut mich, wenn es dir schmeckt.« Meikes Mutter legte ihm das Stück Fleisch auf den Teller und gab einen Klecks Soße darüber.

»Was hast du denn diese Woche gemacht, Meike?« Meikes Vater sah erwartungsvoll von seinem Teller hoch. Seine Augen waren von tiefen Falten umrandet; auch um seine Lippen herum hatten sich die Spuren des Alters eingegraben.

Meike, die sich bisher noch gar nicht an den Tischgesprächen beteiligt hatte, tupfte sich den Mund mit ihrer Serviette ab. »Gearbeitet.« Sie legte ihr Messer und ihre Gabel sorgfältig auf ihrem Teller ab. »Und gestern war ich mit Franziska auf dem Altstadtfest.«

»Franziska?« Johannes Jakobs legte ebenfalls sein Besteck beiseite. Seine Augen verengten sich.

»Ja, genau. Franziska Kurz, meine beste Freundin aus der Schulzeit. Wir haben uns beim Klassentreffen wiedergetroffen.« Meike hielt die Luft an. Sie wusste, wie wenig ihr Vater Franzi geschätzt hatte, auch wenn es dafür keinen wirklichen Grund gegeben hatte. Nur weil sie nicht jeden Sonntag in die Kirche gegangen war, nur weil ihre Eltern sie deutlich liberaler erzogen hatten, als das bei Meike und Claudia der Fall gewesen war, hatte Johannes Jakobs Franzi für das personifizierte Böse gehalten.

»Hm«, war alles, was ihr Vater nun entgegnete. Er nahm seine Gabel wieder in die Hand und spießte ein Stückchen Kartoffel auf. Schweigend stopfte er es in den Mund und kaute darauf herum. Für ihn war das Thema damit erledigt.

Für Meikes Mutter hingegen nicht. »Ach, das ist aber schön. Wie geht’s Franzi denn?«, fragte sie lächelnd. Inge Jakobs hatte Franzi immer gemocht. »Mensch, ich habe sie so lange schon nicht mehr gesehen. Und auch ihrer Mutter bin ich lange nicht mehr über den Weg gelaufen. Früher haben wir uns manchmal beim Einkaufen getroffen. Eine sehr nette Frau.«

Meike faltete die Hände. »Franzi geht es ganz gut. Sie ist Apothekerin geworden und wohnt auch wieder in Goslar«, erklärte sie knapp. Sie hatte keine Lust, Franzis Lebens- und Liebesgeschichte ausführlich mit ihren Eltern zu diskutieren. Mit Verständnis hätte sie dabei ohnehin nicht rechnen können.

»Wie viele Jahre habt ihr euch jetzt nicht mehr gesehen?«, hakte Inge Jakobs weiter nach.

»Fast fünfzehn.« Meike zuckte mit den Schultern. »Aber es ist fast so, als hätten wir uns niemals aus den Augen verloren.«

Meikes Mutter nickte. »Das kenne ich. Als ich damals meine Schulfreundin auf einem Klassentreffen wiedergesehen habe, war es auch wie früher.«

Johannes Jakobs räusperte sich. »Was macht Thomas denn?«

Meikes Augenbrauen zogen sich zusammen. Dass ihr Vater aber auch ständig wieder mit ihrem Ex ankommen musste. »Keine Ahnung«, antwortete sie ruppig.

»Ich kann nicht verstehen, wie du ihm das antun konntest«, sagte Meikes Vater in scharfem Tonfall. Schon unzählige Male hatte Johannes Jakobs Meike klargemacht, dass er nicht nachvollziehen konnte, wie sich seine Tochter hatte scheiden lassen können – warum sie ihre scheinbar so glückliche Ehe beendet hatte. Für ihn war Thomas der perfekte Schwiegersohn gewesen. Ein angesehener Anwalt, der sich gut um seine Frau gekümmert hatte. Aber Meike hatte das in seinen Augen nicht zu schätzen gewusst.

»Papa, das habe ich dir oft genug erklärt. Das ist eine Sache zwischen Thomas und mir.«

»Aber dass du dich gleich scheiden lassen musstest.« Johannes Jakobs schüttelte den Kopf.

Meike schlug mit der Faust auf den Tisch. »Hör auf damit. Es ging einfach nicht mehr mit uns.«

»Ihr hättet euch zusammenreißen können.« Johannes Jakobs’ Augen waren kühl auf Meike gerichtet.

Meike spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust. Sie konnte den Zorn ihres Vaters nicht ertragen. Aber er musste doch verstehen, dass sie ohne Thomas glücklicher war. Ihr war beinahe übel.

»Papa«, mischte sich nun Claudia ein. »Lass Meike doch damit in Ruhe. Sie ist erwachsen. Sie wird schon wissen, was sie macht.«

Inge Jakobs legte ihre Hand auf die Schulter ihres Mannes. »Genau – siehst du nicht, wie das Kind leidet? Mach es ihr nicht noch schwerer.«

Meike wischte ihre feuchten Finger an ihrer Jeans ab. »Ist schon in Ordnung.« Aber innerlich weinte sie. Nichts war in Ordnung, solange ihr Vater sie mit derartiger Ablehnung strafte. Warum konnte er ihre Entscheidung nicht akzeptieren?

Johannes Jakobs schob grummelnd die Hand seiner Frau von seiner Schulter. »Ihr macht doch sowieso alle, was ihr wollt.« Missbilligend sah er von Claudia zu Robert. Auch die Entscheidung seiner älteren Tochter für einen Schauspieler als Ehemann konnte er nicht nachvollziehen. Künstler war in seinen Augen kein erstrebenswerter Beruf.

»Seid ihr fertig? Dann kann ich abräumen«, beendete Inge Jakobs das Essen, bevor die Diskussionen noch weiter außer Kontrolle gerieten.

Meike und Claudia halfen ihrer Mutter, das Geschirr und die Essensreste in die Küche zu bringen.

»Nimm dir Papas Sprüche nicht so zu Herzen«, sagte Claudia, während sie und Meike den Abwasch erledigten.

Meike seufzte schwer. »Wenn ich das nur könnte.« Wie gern wäre sie ihrer Schwester ähnlicher gewesen. An Claudia schien die Meinung ihres Vaters spurlos abzuprallen. Ihr war es egal, was ihr Vater dachte und ob er ihren Lebenswandel akzeptierte oder nicht.

»Ich weiß, wie schwer dir das fällt. Aber glaube mir, so kannst du auf Dauer nicht glücklich werden.«

Meike nahm einen Teller in die Hand und trocknete ihn gründlich ab. »Ich möchte es Papa doch so gern recht machen. Aber mit Thomas und mir . . .«

»Süße, mir musst du das nicht erklären«, unterbrach Claudia sie. »Er ist alt und stur. Da hilft alles gute Zureden nichts mehr. An seiner Meinung wirst du nichts ändern. Wir müssen damit leben. Versuch einfach, es nicht an dich ranzulassen. Es ist dein Leben.«

Meike schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sie sah Franzi vor sich, spürte ihre weichen Lippen auf der Haut. In diesem Moment war sie glücklich gewesen – so glücklich wie vielleicht niemals zuvor. Aber wenn ihr Vater das wüsste . . . Laut klirrend fiel eine Gabel zu Boden.

Claudia nahm Meike in den Arm. »Du kannst immer zu mir kommen, wenn dich irgendetwas bedrückt. Das weißt du.«

»Danke.« Meike lehnte sich an Claudias Schulter. »Es ist alles in Ordnung«, log sie tapfer.

Klassentreffen
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