~*~*~*~

»Was ist denn los mit dir?« Regine Kurz strich Butter auf ihr Brot. »So schweigsam kenne ich dich gar nicht.« Sie betrachtete ihre Tochter, die ihr gegenüber am Esstisch saß, mit besorgter Aufmerksamkeit.

Franzi schnitt ein Stückchen ihres Käsebrots ab. Fast jede Woche verbrachte sie einen Abend bei ihrer Mutter. »Ach.« Sie spießte das Stückchen Brot mit ihrer Gabel auf und steckte es in den Mund.

»Jetzt erzähl deiner Mutter endlich, was dich bedrückt«, forderte Regine sie auf. »Und komm mir bloß nicht mit Ausflüchten. Vergiss nicht, dafür kenne ich dich viel zu gut.« Sie legte zwei Salamischeiben auf ihr Brot.

Franzi kaute und schluckte den Bissen hinunter. »Du hast recht.« Seit sie Meike bei dem Klassentreffen wiedergetroffen hatte, waren nun fast zweieinhalb Wochen vergangen. Ihrer Mutter hatte sie von dieser Begegnung bisher nichts erzählt. Aber länger konnte sie ihr nichts vormachen. Sie wusste ohnehin, wenn Franzi etwas beschäftigte. »Erinnerst du dich noch an Meike Jakobs?«, fragte sie deshalb. Allein das Aussprechen des Namens ließ ihren Pulsschlag schneller werden.

»Natürlich.« Regine sah Franzi mit geweiteten Augen an. »Wie könnte ich Meike vergessen? Ihr habt schließlich früher jede freie Minute zusammen verbracht. Sie war fast wie meine zweite Tochter . . . bis sie dir das Herz gebrochen hat.« Sie schmunzelte. »Dein erster großer Liebeskummer. So etwas vergisst eine Mutter doch nicht.«

»Wir haben uns bei diesem Klassentreffen wiedergesehen.« Franzi nahm einen großen Schluck von ihrem Pfefferminztee und beobachtete den Gesichtsausdruck ihrer Mutter, der zwischen Freude und Skepsis schwankte.

»Und?«, war schließlich alles, was Regine sagte.

»Und jetzt . . .« Franzis Finger trommelten auf ihrem Holzbrettchen. Wie sollte sie ihrer Mutter das erklären? Sie atmete tief durch. »Jetzt bin ich vollkommen durcheinander. Meike und ich . . . Das ist eine komplizierte Geschichte. Wir verstehen uns gut. Sehr gut.« Das Blut schoss ihr ins Gesicht bei der Erinnerung daran, wie gut sie sich verstanden hatten und wie nahe sie sich gekommen waren. »Wir haben uns geküsst. Zweimal.« Verlegen senkte sie den Blick Richtung Tisch und studierte eingehend die karierte Tischdecke. »Es war schön. Aber . . .«

Über den Tisch hinweg ergriff Regine die Hände ihrer Tochter. »Wo ist denn dann das Problem?«

»Mama . . .« Franzi hob den Blick wieder und sah Regine verzweifelt an. »Ich habe das Gefühl, Isabel zu betrügen, wenn ich mich auf Meike einlasse. Ich habe ein fürchterlich schlechtes Gewissen Isabel gegenüber. Verstehst du, was ich meine?« Ihre Stirn legte sich in tiefe Falten. »Dabei habe ich mich schon lange nicht mehr so wohl gefühlt wie in Meikes Nähe. Es ist, als wäre ich endlich aus einem dichten Nebel aufgetaucht. Ich genieße das.«

Regines Daumen kreiste zärtlich über Franzis Handrücken. »Mein armer Schatz.«

»Es verwirrt mich, dass ich plötzlich solche Gefühle habe. Ich hatte gedacht, dass diese Gefühle ganz allein Isabel gehören.«

»Ich kann dich so gut verstehen. Ich habe dir das nie erzählt.« Franzis Mutter machte eine bedeutungsvolle Pause.

Überrascht schaute Franzi sie an.

»Als dein Vater damals gestorben ist, habe ich etwas Ähnliches erlebt. Du hast das kaum mitbekommen, weil du ja in Braunschweig warst.«

Franzi runzelte die Stirn. Ihr Vater war an einer akuten Leukämie gestorben, als Franzi zwanzig war und gerade das erste Jahr ihres Studiums beendet hatte. Es war der erste schwere Verlust gewesen, mit dem sie hatte fertig werden müssen. Damals waren sich Franzi und ihre Mutter sehr nahe gekommen. Franzi konnte sich kaum vorstellen, dass es etwas Wichtiges im Leben ihrer Mutter gegeben hatte, von dem sie nichts wusste.

»Weißt du, ungefähr zwei Jahre nach Günthers Tod habe ich mich neu verliebt. In einen Arbeitskollegen.«

Franzi traute ihren Ohren kaum. Ihre Mutter hatte sich neu verliebt?

»Es war eine sehr intensive Zeit. Wir sind uns auch etwas nähergekommen. Ich mochte ihn sehr. Aber am Ende . . .« Es fiel Regine sichtlich schwer, weiterzureden. »Am Ende habe ich mich gegen ihn und unsere Liebe entschieden. Ich dachte, ich dürfte deinem Vater so etwas nicht antun. Ich dürfte mich nicht noch einmal verlieben . . . So ein Unsinn. Heute weiß ich es besser.« Sie schüttelte den Kopf, und in ihrer Stimme lag Bedauern. »Heute denke ich, dass ich mich falsch entschieden habe. Ich habe mich gegen die Liebe entschieden. Man trifft nicht oft jemanden, den man liebt und der einen wiederliebt. Das darf man nicht leichtfertig wegwerfen.«

Nun war es Franzi, die ihre Mutter mit geweiteten Augen ansah. »Ich hatte überhaupt keine Ahnung.«

»Ich weiß. Ich habe es niemandem erzählt, weil ich ein so schlechtes Gewissen hatte.« Regine zuckte mit den Schultern, dann sah sie ihrer Tochter eindringlich in die Augen. »Wenn du Meike magst, dann gib euch eine Chance.«

Franzi zögerte. »Ich habe Angst, dass ich Isabel vergesse, wenn ich mich auf Meike einlasse. Dass eine andere Frau ihren Platz in meinem Herzen einnimmt.« Sie starrte auf die Brotkrümel auf ihrem Brettchen.

»Du wirst Isabel nicht vergessen, und sie wird immer einen Platz in deinem Herzen haben. Genauso wie ich deinen Vater niemals vergessen werde. Er wird immer Teil meines Lebens bleiben, daran hätte auch ein anderer Mann nichts geändert. Aber du kannst doch deswegen nicht auf Dauer allein bleiben. Ich wünsche mich nichts mehr für dich, als dass du wieder glücklich wirst.« Regine lächelte Franzi an. »Und ich bin mir ganz sicher, dass es auch das ist, was Isabel gewollt hätte.«

»Ach, Mama, was würde ich nur ohne dich machen?« Franzi legte ihren Kopf ein wenig schief. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter recht. Isabel würde immer ein Teil ihres Lebens bleiben – aber sie durfte nicht für immer alles in ihrem Leben bleiben. Ihr Leben ging weiter. Auch ohne Isabel. Sie spürte die aufsteigenden Tränen. Die Erkenntnis schmerzte. Ein Leben ohne Isabel . . . Warum nur? Warum hatte es so kommen müssen?

Als hätte ihre Mutter ihre Gedanken gelesen, sagte sie: »Du kannst nicht ändern, was passiert ist. Aber du kannst versuchen, das Beste aus deinem Leben zu machen.«

Franzi nickte. »Ich glaube, ich brauche noch ein bisschen Zeit für mich. Vielleicht gehe ich eine Runde schwimmen.«

Regine stand auf, stellte sich hinter Franzi und legte die Arme um ihre Tochter. »Natürlich.« Sie drückte Franzi einen Kuss auf die Wange. »Mach das. Und grübele nicht zu viel.«

Wenig später stand Franzi in ihrem dunkelblauen Badeanzug in der Schwimmhalle. Wann immer sie Zeit hatte, schwamm sie ein paar Bahnen. Es war für sie die beste Möglichkeit, den Kopf freizubekommen und ihre Gedanken zu ordnen.

Sie stellte sich unter die Dusche. Das kühle Wasser erfrischte sie. Eine leichte Gänsehaut überzog ihren Körper: Niemals hätte sie geahnt, dass es einen anderen Mann im Leben ihrer Mutter gegeben hatte. Mit keinem Sterbenswörtchen hatte sie ihn erwähnt.

Kurz darauf sprang sie mit einem eleganten Startsprung ins Wasser und kraulte los. Es hätte ihrer Mutter sicherlich gutgetan, einen Mann an ihrer Seite zu haben, jemanden, mit dem sie die Abende verbringen könnte, mit dem sie etwas unternehmen könnte. Natürlich hatte sie Freundinnen, und natürlich gab es auch noch Franzi. Aber Franzi wusste, dass ihrer Mutter manchmal Zuneigung und Zärtlichkeiten fehlten.

Sie hatte den Beckenrand erreicht und wendete. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Vielleicht hatte sie es mit dem Tempo übertrieben. Sie versuchte, ihren Atem zu kontrollieren, und wurde etwas langsamer.

Wahrscheinlich stimmte es, was ihre Mutter sagte. Sie musste nach vorn schauen, ihr Leben war noch nicht zu Ende. Sie war noch viel zu jung, um allein zu bleiben.

Ach, Isabel. Franzi seufzte. Ihre Beine wurden schwer. Mit Isabel an ihrer Seite war alles so einfach gewesen. Manchmal, wenn sie abends allein im Bett lag, hatte sie das Gefühl, Isabel neben sich zu spüren. Sie waren sich so vertraut gewesen. Franzi schluckte und beschleunigte wieder; sie schlug jetzt beinahe auf das Wasser ein. Niemand konnte Isabels Platz einnehmen!

Aber das sollte ja auch niemand. Isabel sollte ihren Platz behalten, doch neben ihr war auch noch Platz für jemand anderes. Isabel hatte immer gewollt, dass Franzi glücklich war. Sie hätte sich nie gewünscht, dass Franzi ihr Leben aufgab und nur noch trauerte.

Tränen mischten sich mit dem Chlorwasser.

Isabel blieb immer in ihrem Herzen, doch ihr Leben ging weiter – und Isabel hätte gewollt, dass sie glücklich wäre. Franzi hielt mitten in einem Kraulschlag inne. Es war das erste Mal, dass ihr dies so deutlich bewusst wurde. Egal, wie oft sie in den vergangenen Monaten darüber nachgedacht hatte, niemals zuvor war diese Erkenntnis so klar gewesen.

Sie musste ihr Leben wieder in die Hand nehmen. Sie musste mit Meike reden, ihr noch einmal ganz deutlich ihre Gefühle gestehen und ihnen eine Chance geben.

Franzi schwamm mit gleichmäßigen Zügen weiter, bis sie den Beckenrand erreicht hatte.

Aber was würde Meike dazu sagen? Wie würde sie reagieren? Meike war nicht müde geworden zu betonen, dass sie nicht mehr für Franzi empfand als Freundschaft. Mehr als einmal hatte sie Franzi nun schon zurückgewiesen.

Und Franzi hatte schon einmal alles zerstört, indem sie Meike zu nahe gekommen war. Sie wollte ihre beste Freundin kein zweites Mal verlieren.

Andererseits . . . wenn Franzi es nicht wenigstens wagte, würde sie nie erfahren, ob Meike nicht doch etwas für sie fühlte. Einige Anzeichen sprachen ja durchaus dafür. Bei ihrem Spaziergang neulich hatte Meike selbst gesagt, dass sie nicht wisse, ob sie mehr fühlen könne, ob sie stark genug sei – aber sie hatte es nicht kategorisch ausgeschlossen. Und ihre eigenen Gefühle konnte Franzi ohnehin nicht unterdrücken. Eine Weile hatte sie es ja versucht, aber es war erfolglos gewesen.

Gleich morgen Abend würde sie zu Meike fahren und ihr sagen, dass sie sich in sie verliebt hatte.

Franzi kletterte aus dem Schwimmbecken. Mit festen Schritten lief sie in Richtung Dusche. Genau das würde sie machen.

Klassentreffen
titlepage.xhtml
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_000.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_001.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_002.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_003.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_004.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_005.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_006.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_007.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_008.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_009.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_010.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_011.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_012.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_013.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_014.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_015.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_016.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_017.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_018.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_019.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_020.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_021.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_022.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_023.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_024.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_025.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_026.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_027.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_028.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_029.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_030.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_031.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_032.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_033.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_034.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_035.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_036.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_037.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_038.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_039.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_040.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_041.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_042.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_043.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_044.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_045.html
CR!KY88SBHP1D14XBHRZSSE93P3FP1M_split_046.html