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Franzi schloss die Tür der Apotheke ab. Ihre Kollegen hatten längst Feierabend gemacht. Sie hatte sich angeboten, an diesem Abend die Aufräumarbeiten zu übernehmen. In ihrer Wohnung fiel ihr ohnehin die Decke auf den Kopf.

Sie nahm einige Medikamentenschachteln, die im Laufe des Tages unter dem Tresen gelandet waren, weil die Kunden sie doch nicht hatten haben wollen, und ordnete sie in die entsprechenden Schubladen ein. Die Apotheke in Goslar war deutlich kleiner als die, in der sie in Braunschweig gearbeitet hatte. Dafür herrschte hier ein viel freundlicheres Betriebsklima, fast familiär. Franzi arbeitete gern hier.

Nachdem alle Schachteln und Döschen verstaut waren, widmete sich Franzi den Medikamenten in der Auslage. Zuerst sortierte sie die Präparate gegen Magenschmerzen, Übelkeit und Durchfall und füllte die Lücken auf, die tagsüber entstanden waren. Als nächstes kam sie zu den Erkältungspräparaten. Versehentlich stieß sie gegen das Regal; eine Packung fiel zu Boden. Franzi bückte sich und nahm die kleine gelbe Schachtel in die Hand. Sie seufzte. Halsschmerztabletten. Die Sorte, die sie Meike verkauft hatte.

Franzi setzte sich auf einen Hocker, die Schachtel noch immer in der Hand.

Es war immer das Gleiche: Meike geisterte durch ihre Gedanken, was sie auch tat, wo sie auch war. Sie sah Meike vor sich, bezaubernd lächelnd, wie sie so überraschend vor ihr gestanden hatte.

Die Erinnerung ließ sie schmunzeln. Dass Meike wirklich Halsschmerzen gehabt hatte, hatte sie keine Sekunde geglaubt. Meike hatte sie wiedersehen wollen. Daran bestand kein Zweifel.

Aber warum? Was war das zwischen ihnen?

Franzi drehte die Schachtel zwischen ihren Fingern. Dieses Kribbeln in ihrem Bauch, jedes Mal, wenn sie an Meike dachte. Diese Schmetterlinge, wenn sie in Meikes Augen sah. Diese Unbeschwertheit in Meikes Nähe. Das Glücksgefühl.

Genau diese Gefühle hatte sie schon einmal gehabt. Sie hatte fast vergessen, dass es so etwas gab. Elf Jahre war das nun her. Damals, als sie Isabel getroffen hatte.

Aber . . .

Franzis Herz schlug schneller. Konnte es wirklich sein, dass sie mehr für Meike empfand als Freundschaft? Hatte sie sich ernsthaft in Meike verliebt?

Natürlich, während der Schulzeit hatte sie geglaubt, Meike zu lieben. Aber damals war sie jung gewesen; das war längst vorbei. In ihrem Leben hatte sich viel verändert.

Franzi starrte auf die schwarze Schrift, die immer mehr verschwamm, je schneller sie die Packung drehte.

Nein – es war unmöglich, dass sie sich das alles nur einbildete. Als sie Meike geküsst hatte, waren längst vergessen geglaubte Empfindungen in ihr erwacht. Jedes Mal, wenn sie Meike sah, erschien alles andere nebensächlich.

Franzi hielt den Atem an. Kein Zweifel: Sie hatte sich neu verliebt. In Meike.

Die Erkenntnis traf sie mit voller Wucht. Die Schachtel glitt ihr aus den feuchten Händen und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden. Sie musste sich am Tresen festhalten, um nicht vom Hocker zu rutschen.

Es klopfte an der Glastür.

Franzi holte tief Luft und stand auf. Vor der Tür wartete eine junge Frau.

Franzi schloss auf. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe gesehen, dass noch Licht brannte. Ich bräuchte Hustensaft für meinen Sohn.« Die Frau zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich weiß, dass Sie Feierabend haben, aber die Notdienstapotheke ist so weit entfernt, und ich habe kein Auto.«

»Dann kommen Sie rein.« Franzi lächelte. Normalerweise machte sie keine Ausnahmen – wenn geschlossen war, blieb die Tür zu. In diesem Moment waren ihr ihre Grundsätze jedoch egal. Ihr Herz machte kleine Freudensprünge. Sie war verliebt.

»Wie alt ist Ihr Sohn denn?«, fragte Franzi. Mit einem breiten Grinsen schaltete sie die Kasse wieder ein.

»Vier.« Die Frau betrachtete Franzi skeptisch.

»Ich hole Ihnen mal etwas Entsprechendes. Moment.« Beschwingt lief Franzi zu den Schubladen, sie hüpfte beinahe. Schnell hatte sie einen geeigneten Hustensaft gefunden. »Diesen hier kann ich Ihnen nur empfehlen.«

»In Ordnung.« Die Frau nickte.

Franzi tippte den Preis in die Kasse und steckte den Saft in eine Tüte. »Ich pack noch ein bisschen Traubenzucker dazu, damit der junge Mann bald wieder gesund wird.« Sie griff einmal beherzt in den Traubenzuckervorrat und warf eine ganze Handvoll in die Tüte.

»Sie haben aber wirklich ausgesprochen gute Laune, und das, obwohl ich Ihren Feierabend verzögere.« Die Frau reichte Franzi das Geld.

Franzi bemerkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Na ja . . . Ich bin einfach glücklich.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend, und vielen Dank.« Die Frau nahm die Tüte entgegen und verließ die Apotheke.

Morgen würde Franzi Meike wiedersehen. Ihr Herz schlug Saltos.

Klassentreffen
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