~*~*~*~
»Oh, du hast dich aber hübsch gemacht.« Wie immer küsste Franzi Meike zur Begrüßung. Dann lächelte sie sie erwartungsvoll an. »Für mich?«
Meike wischte ihre Finger am Rock ihres Kostüms ab. Sie hatte bis zur letzten Sekunde vermieden, Franzi zu erzählen, dass sie an diesem Abend verabredet war. »Um ehrlich zu sein . . .« Sie hielt die Luft an.
Auf Franzis Stirn bildeten sich kleine Falten.
»Ich . . .«, setzte Meike noch einmal an. Die Worte kosteten sie schier unendliche Überwindung. »Ich bin heute Abend leider verabredet. Das hat sich ziemlich spontan ergeben.« In ihrem Magen spürte sie ein dumpfes Ziehen. Sie log Franzi an, und das völlig bewusst. Seit einer Woche wusste sie, dass sie an diesem Montagabend keine Zeit hatte – dass sie endlich etwas erledigen musste, damit sie ihre Ruhe hatte. Aber sie hatte dennoch zugesagt, als Franzi sie gefragt hatte, ob sie den Abend zusammen verbringen würden. Hatte ihr sogar noch eine SMS geschrieben, um die Verabredung zu bestätigen.
»Ach so. Das ist aber schade.« Die Enttäuschung stand Franzi ins Gesicht geschrieben. »Mit wem triffst du dich denn?«
Meike biss sich auf die Unterlippe. Natürlich hatte sie in Gedanken diese Unterhaltung in allen möglichen Varianten durchgespielt, aber sie war zu keinem Ergebnis gekommen, was die beste Antwort auf diese Frage war. »Mit einer Freundin«, erwiderte sie knapp. Und wieder fühlte sie sich ganz schlecht, dass sie Franzi belog. »Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen, und sie ist zufällig gerade in Goslar.«
Franzi grinste. »Dann pass aber auf, dass dir mit ihr nicht das Gleiche passiert wie mit mir. Deinem Charme kann sich niemand entziehen.«
Meikes Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. »Keine Sorge.«
Franzi schloss Meike in die Arme und küsste sie zärtlich auf die Stirn. »Das habe ich auch nicht. Ich vertrau dir. Voll und ganz.« Sie strich Meike sanft durch die Haare.
Diese Gesten verstärkten nur Meikes ungutes Bauchgefühl. Was tat sie nur?
»Dann habt ihr euch bestimmt viel zu erzählen«, sagte Franzi. Sie zupfte an ihrem T-Shirt.
Meike nickte. »Ganz bestimmt.« An Franzis gespanntem Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, dass Franzi die vage Hoffnung hatte, Meike werde sich einer Freundin anvertrauen. Ihr war ganz heiß vor Scham und Schuldgefühlen. Wie konnte sie Franzi nur so hintergehen? Auf der anderen Seite . . . würde Franzi die Wahrheit verstehen? Wahrscheinlich nicht, sagte sich Meike, wie sie es sich schon die ganze Woche über wieder und wieder gesagt hatte. Franzi hätte nicht akzeptiert, dass sie sich von Karsten so unter Druck setzen ließ. Außerdem würde Franzi niemals nachvollziehen können, dass Meike sich tatsächlich auf ein Treffen mit ihm einließ, nur damit niemand von ihrer Liebe erfahren würde.
»Kommst du danach noch zu mir?«
Meike zögerte. »Es wird bestimmt spät.«
»Das ist doch kein Problem. Aber dann kann ich wenigstens neben dir einschlafen.« Franzis Augen leuchteten.
»Mal sehen.«
»Du siehst aber nicht gerade aus, als würdest du dich auf diesen Abend freuen.«
»Doch, doch. Aber . . .« Meike sah zu Boden. »Ich wäre nur lieber bei dir.«
»Das kommt gar nicht in Frage. Du musst auch deine Freundschaften pflegen. Also los.« Franzi drückte Meike einen Kuss auf den Mund. »Ich wünsche dir ganz viel Spaß, amüsier dich gut.«
Warum war Franzi nur so verständnisvoll? Dadurch nagte das schlechte Gewissen nur umso stärker an Meike. Was sie tat, war nicht fair. Aber sie war sicher, sie hatte keine andere Wahl. »Danke«, verabschiedete sie sich.
Mit weichen Knien betrat Meike das Restaurant. Ihr Herz schlug schneller, als sie sich umsah. Dann erblickte sie Karsten, der ihr breit grinsend aus der hintersten Ecke zuwinkte. Einen besseren Platz hätte er sich kaum aussuchen können . . .
Meike hängte ihre Jacke an die Garderobe und ging auf Karstens Tisch zu.
»Hallo«, begrüßte sie ihn reserviert.
»Etwas mehr Freude könntest du schon zeigen, wenn du mich siehst.« Karsten stand auf und rückte Meike den Stuhl zurecht.
»Das schaffe ich schon allein.« Meike legte selbst die Hand auf die Stuhllehne und veränderte noch einmal seine Position. »Im Übrigen freue ich mich nicht, hier zu sein, warum sollte ich dann Freude heucheln?«
»Dass du dich immer so zieren musst«, murrte Karsten und setzte sich Meike gegenüber.
In diesem Moment kam ein Kellner vorbei, zündete die Kerze auf dem Tisch an und reichte den beiden die Karte.
»Ich hoffe, du bist mit meiner Wahl einverstanden. Das Essen hier ist ausgezeichnet.« Karsten lächelte Meike an.
Meike zuckte mit den Schultern. »Das ist mir vollkommen egal.« Sie schlug die Karte auf. Ihre Augen weiteten sich. »Die Preise jedenfalls sind exquisit.«
»Keine Sorge, du bist natürlich eingeladen.« Über seine Karte hinweg blickte Karsten Meike an.
Meike hielt den Kopf gesenkt und konzentrierte sich auf die Auswahl. Sie war entschlossen, jegliches Gespräch mit Karsten zu vermeiden, auch wenn sie wusste, dass sie damit bestenfalls eine Verzögerung erreichen würde. Immer konnte sie ihm nicht ausweichen. Ganz genau studierte sie die Vorspeisen und Hauptgerichte, bis sie sich irgendwann entschieden hatte: Tomatensuppe und Rinderfilet.
»Möchtest du ein Glas Wein?«, fragte Karsten nach einer Weile.
»Nein, ich muss noch fahren. Ich nehme Wasser.«
»Ich kann dich nach Hause bringen.« Karstens Augen hafteten an Meike, glitten anzüglich ihren Oberkörper entlang. »Wenn du möchtest . . .« Seine Stimme bekam einen Unterton, der wohl verführerisch wirken sollte.
»Das ist das Letzte, was ich möchte«, spuckte Meike ihm entgegen.
»Du bist wirklich eine kleine Zicke.« Karsten lachte. »Das gefällt mir. Ich mag leidenschaftliche Frauen.«
Meikes Hände ballten sich unter dem Tisch zu Fäusten. Aber hatte sie wirklich geglaubt, dass Karsten sich zurückhalten würde und sie einen gemütlichen Abend zusammen verbringen würden? Sie hatte sich auf diesen Wahnsinn eingelassen. Da musste sie jetzt durch. Sie hoffte nur, dass es möglichst früh zu Ende sein würde.
Der Kellner trat an ihren Tisch und nahm die Bestellungen auf.
»Dann nur Wasser für dich?«, fragte Karsten noch einmal.
Meike stieß laut die Luft aus. »Genau.«
Als der Kellner verschwunden war, richtete Karsten seinen Blick wieder erwartungsvoll auf sie. »Und jetzt, wo wir zwei Hübschen unter uns sind, erzähl mir doch mal ein bisschen über dich.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Und über diese Frau, die dich ständig verfolgt.«
Meike nahm eine Scheibe Baguette, das in der Zwischenzeit serviert worden war, und tunkte es in die Knoblauchcreme. »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«
»Ich kann verstehen, was sie an dir findet. Du bist eine wunderschöne Frau.« Fast hatten Karstens Gesichtszüge etwas Weiches. »Und dazu charmant, intelligent. Wenn du dich nur nicht so anstellen würdest . . .«
»Karsten, ich sitze hier mit dir, das war es doch, was du wolltest.« Meikes Stimme klang fest. »Aber mehr wird es nicht geben. Ich habe keinerlei Interesse an dir.«
»Weil ich keine Frau bin?«, provozierte Karsten sie erneut.
»Das hat damit gar nichts zu tun.«
»Du warst immerhin ja auch mal verheiratet.« Karsten biss in ein Stück Brot. »War dein Exmann ein so schlechter Liebhaber? Ich bin mir sicher, ich könnte dir geben, was dir gefehlt hat.« Über den Tisch hinweg versuchte Karsten Meikes Finger zu ergreifen, aber Meike zog ihre Hand zurück. Sie atmete tief durch. Es war klar, wo dieser Abend enden würde, wenn es nach Karstens Willen ging. Um jeden Preis musste sie klarstellen, wo die Grenzen lagen.
Sie funkelte Karsten an. »Wenn du noch möchtest, dass wir zusammen essen, halte dich zurück. Ich warne dich.«
»Ach, seit wann bist du denn in der Position, Forderungen zu stellen? Was sollte denn passieren? Aber . . .« Karstens Augen verengten sich. »Du solltest dir gut überlegen, ob du wirklich gehen willst. Du weißt genau, was dann passiert.« Er lächelte süffisant.
Meike seufzte. Er erpresste sie wirklich nach allen Regeln der Kunst. Sie musste sich aus dieser Klemme befreien . . . wenn sie nur wüsste, wie.
Der Kellner servierte ihre Vorspeisen. Sie aßen schweigend. Meike wich Karstens Blicken aus und versuchte auch nicht, ein Gespräch in Gang zu bringen; die Stille war ihr sehr recht. Und auch Karsten schien sich nun etwas zurückzuhalten. Erst als sie mit dem Hauptgericht fertig waren, sagte er: »Möchtest du noch einen Nachtisch, einen Espresso vielleicht?«
»Eigentlich möchte ich nach Hause. Ich muss morgen früh aufstehen.« Je schneller sie hier wegkäme, desto besser.
»Jetzt schon? Der Abend ist doch noch jung.« Karsten lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Meike starrte in die Kerzenflamme. »Mir reicht es.«
»Einen Espresso wirst du mir doch noch gönnen.« Karsten war bereits dabei, den Kellner heranzuwinken. Ohne Meikes Wunsch zu berücksichtigen, bestellte er zwei Espresso. »Hast du morgen die erste Stunde?«, fragte er anschließend, als ergingen sie sich in einer zwanglosen Plauderei unter Kollegen.
Meike nickte. »Ja.«
»Ich auch.« Karsten nahm einen Schluck von seinem Wein. »Ich fand übrigens unsere Klassenfahrt sehr schön. Ich bin froh, dass unser Schulleiter meinem Vorschlag zugestimmt hat, dich als Begleitperson mitzunehmen.« Er grinste.
»Du . . . du hast das von langer Hand geplant?« Reglos starrte Meike ihn an, unfähig, ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen.
»Na, na, nicht aufregen.« Karsten trank mit einem Zug sein Glas leer. »Irgendwie musste ich dich ja dazu bringen, dass du endlich mal mit mir redest.«
Meike spürte das Grummeln in ihrem Bauch stärker werden. Karstens Hinterhältigkeit war nicht zu überbieten, und sie ließ es auch noch zu, dass er Erfolg damit hatte. »Du . . . Ich fass es nicht . . .«, sagte Meike aufgebracht.
»Ihr Espresso«, unterbrach der Kellner die Auseinandersetzung.
Das war ja das perfekte Timing. Meike presste die Zähne fest aufeinander. Ihre Kiefermuskeln schmerzten. Schnell trank sie ihren Kaffee aus, auch wenn er noch heiß war und sie sich fast die Zunge verbrannte. »Ich denke, wir sollten jetzt gehen. Das ist besser so.«
»Wie du möchtest, meine Liebste«, erwiderte Karsten spöttisch.
»Nenn mich bloß nicht deine Liebste.« Meikes Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen.
Karsten lachte unbeeindruckt. Dann forderte er die Rechnung und bezahlte.
Vor der Tür blieb er neben Meike stehen. »Das war ein sehr schöner Abend. Ich bringe dich gern noch nach Hause.«
»Vergiss es.«
Karsten versuchte, seinen Arm um Meike zu legen. Sofort machte sie einen Schritt zur Seite. »Lass deine Finger von mir.«
»Meike, du hast es noch immer nicht begriffen, oder?« Karsten schüttelte den Kopf. »Wenn ich diesen Abend nicht jetzt mit dir fortsetzen darf, dann ein anderes Mal.«
»Niemals.«
Karsten hob den Zeigefinger und wedelte damit vor Meikes Gesicht. »Ah, ah, ah, nicht so voreilig. Überleg dir, ob du dich nicht besser noch einmal mit mir treffen solltest.«
Meike verschränkte ihre Finger ineinander.
»Wir können in den nächsten Tagen noch darüber reden.« Karstens Finger strichen über Meikes Wange, fuhren über ihre Lippen. »Du wirst schon noch zur Vernunft kommen.« Er küsste seine Fingerspitzen, die eben noch auf Meikes Mund gelegen hatten. »Schmeckt gut. So süß. Wie du.«
Meike wurde übel. Sie musste den Würgereiz unterdrücken.
»Tschüss«, verabschiedete sich Karsten und verschwand in der Dunkelheit.
Meike blieb allein zurück. Das ganze Ausmaß ihres Dilemmas schien sie mit einem Mal zu erschlagen. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie zitterte. Was sollte sie nur tun? Sie hatte sich völlig abhängig von Karsten gemacht. Wenn er das wollte, wüsste bald die ganze Schule, dass sie lesbisch war. Das durfte nicht passieren. Auf gar keinen Fall.