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Franzi lehnte an Meikes Golf, der auf dem kleinen Parkplatz direkt vor der Schule stand, und wartete. Zahlreiche Schüler strömten nach dem Ende der sechsten Stunde aus der Schule. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Meike das Gebäude verlassen würde. Zwei Uhr, hatte sie gesagt. Jetzt war es fünf vor.

Nach ihrem gestrigen Telefonat hatte Franzi beschlossen, ihren freien Tag dazu zu nutzen, Meike von der Schule abzuholen und noch einmal mit ihr zu reden. Sie konnten irgendwo hinfahren, wo sie ungestört waren und wo Meike ihr nicht wieder ausweichen konnte. Sie musste Klarheit schaffen, was ihr Verhältnis anging.

Endlich öffnete sich die schwere Schultür wieder. Schon von weitem erkannte Franzi Meike, die neben einer Kollegin das Gebäude verließ. Meike trug einen beigefarbenen Trenchcoat, in der Hand hielt sie eine schwarze Ledertasche. Ihre langen, honigblonden Haare hatte sie wie meistens zu einem strengen Zopf gebunden. Franzi musste ein wenig schmunzeln. Genauso hatte sie sich Meike als Lehrerin vorgestellt. Sie winkte Meike zu.

An Meikes erstauntem Gesichtsdruck konnte Franzi sehen, dass Meike sie entdeckt hatte. Schnell verabschiedete sich Meike von ihrer Kollegin und kam auf Franzi zu.

»Was machst du denn hier?«, begrüßte Meike sie. Sie hielt einige Zentimeter Abstand von Franzi. Ihrer Stimme war nicht zu entnehmen, ob sie sich freute oder wütend war.

Franzi machte einen Schritt auf Meike zu, um sie in den Arm zu nehmen. Sofort nahm sie den Duft von Meikes Parfüm wahr, der ihren Puls schneller werden ließ. »Hallo, Meike. Ich dachte, ich überrasche dich.« Sie lächelte unsicher.

Meike wich unmerklich zurück und ergriff Franzis Handgelenke, um Franzi daran zu hindern, sie zu umarmen. »Das ist dir gelungen«, lautete ihre barsche Antwort.

Die erneute Zurückweisung versetzte Franzi einen schmerzhaften Stich. Natürlich waren sie auf dem Schulgelände, aber was war schon gegen eine freundschaftliche Umarmung zur Begrüßung einzuwenden? Ihr blieb jedoch nichts anderes übrig, als Meikes Entscheidung zu akzeptieren. »Ich habe heute frei, und ich dachte, wir könnten den Tag vielleicht nutzen . . .«, wagte Franzi einen erneuten Versuch und sah dabei direkt in Meikes Gesicht. Der intensive smaragdgrüne Blick ließ sie innehalten. Dieses Kribbeln in ihrem Bauch . . . Sie konnte sich nicht dagegen wehren.

»Es tut mir leid, dass ich so schroff war«, flüsterte Meike betreten in die Pause hinein. Sie ließ Franzis Handgelenke los, die sie noch immer umklammert hielt. »Ich freue mich, dich zu sehen. Aber . . .« Sie blickte zu Boden. »Überraschungen und noch dazu an der Schule . . . Das liegt mir nicht so.« Eine zarte Röte überzog ihre Wangen.

»Schon in Ordnung.« Franzi trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe mir etwas überlegt.« Sie räusperte sich. »Wir könnten nach Bad Harzburg fahren, ins Wildgehege. Und eine Runde spazieren gehen. Was hältst du davon?«

»Das ist eine gute Idee.« Erstmals huschte ein angedeutetes Lächeln über Meikes Gesicht. »Da war ich schon eine Ewigkeit nicht mehr.« Sie sah an sich hinunter und betrachtete ihre dunkelbraunen Slipper. »Die richtigen Schuhe sind das zwar nicht, aber das wird schon gehen.«

»Wir wollen ja auch keine Bergwanderung machen, nur einen kleinen Spaziergang. Außerdem . . .« Franzi zeigte gen Himmel. Die Herbstsonne ließ sie blinzeln. »Es sieht aus, als würde es trocken bleiben.«

»Gut. Dann steig ein.« Meike öffnete Franzi die Beifahrertür. »Ich fahre uns.«

Eine Viertelstunde später waren sie in Bad Harzburg am Wildgehege angekommen.

»Früher war ich oft mit meinen Eltern hier«, sagte Franzi, während sie vom Parkplatz in das Waldstückchen liefen. Für einen Moment fühlte sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt, als sie gemeinsam mit ihren Eltern an den Wochenenden hierhergekommen war. Das war lange her.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Meike, als sie Franzis plötzlich umwölkten Gesichtsausdruck sah.

»Ja.« Franzi schluckte. »Ich musste nur gerade an meinen Vater denken.«

»Ich habe damals von meiner Mutter gehört, was passiert ist.« Meike ergriff Franzis Hand. »Es tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe.«

Franzi blieb kurz stehen. Meikes Hand in ihrer fühlte sich gut an, vertraut. Sie gab ihr Kraft. »Es war wirklich ein schwerer Schlag für mich. Die Diagnose kam so plötzlich, und dann ging alles so schnell.« Sie schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung. »Aber lass uns von etwas anderem reden.«

Meike hielt noch immer Franzis Hand fest. Ihre Finger flochten sich ineinander, als seien sie genau dafür gemacht. Schweigend liefen sie eine Weile nebeneinander her, atmeten die frische Waldluft ein. Franzi ließ ihren Blick zwischen den Bäumen umherschweifen, um die Rehe und Hirsche zu erspähen. Immer wieder entdeckte sie tatsächlich ein Tier, das sich in dem dichten Wald unbeobachtet wähnte. »Das Wildgehege habe ich in Braunschweig vermisst«, durchbrach sie irgendwann die Stille. »Da gibt es zwar auch eins, aber das hier ist eindeutig schöner.« Sie trat gegen einen kleinen Stock.

Meike ließ Franzis Hand los und hakte sich dafür bei ihr unter. »Du hast bisher fast gar nichts von Braunschweig erzählt.«

Franzi krauste die Stirn. »Was möchtest du denn wissen?«

»Was möchtest du mir denn erzählen?«

Franzi holte tief Luft. Normalerweise vermied sie es, über ihr Leben in Braunschweig zu sprechen, weil es unweigerlich zu Isabel führte und zu dem Schmerz, der sie jedes Mal stärker traf als erwartet. Aber sie war Meike Offenheit und Ehrlichkeit schuldig und konnte diesem Gespräch nicht immer davonlaufen. »Tja, zunächst verlief mein Leben in Braunschweig ziemlich unspektakulär. Ich habe mir nach dem Abi eine kleine Wohnung gesucht. Eine WG wäre nichts für mich gewesen. Die meiste Zeit war ich ohnehin an der Uni. In einem Seminar habe ich bald Cori kennengelernt. Ein großes Glück.« Franzi grinste bei dem Gedanken an ihre verrückte Freundin. »Wir sind schnell beste Freundinnen geworden. Gemeinsam haben wir unser Uni-Leben genossen. Viel gefeiert, aber genauso viel gelernt.«

Meike knuffte Franzi in die Seite. »Du und lernen?«

»Kaum vorzustellen, was?« Franzi hob verschwörerisch eine Augenbraue. Ihre Schritte wurden langsamer. »Und dann trat Isabel in mein Leben. Wie ein Blitz schlug sie ein, hat alles auf den Kopf gestellt.« Franzis Herz klopfte schneller.

Meike blieb stehen und löste sich von Franzi. »Wie hast du sie kennengelernt?«, fragte sie leise.

»Isabel war Buchhändlerin, und ich war auf der Suche nach einer romantischen Liebesgeschichte . . . eigentlich nur auf dem Papier. Dass das wirkliche Leben eine für mich bereithalten könnte, diese Idee hatte ich zu diesem Zeitpunkt erst einmal aufgegeben. Und plötzlich stand Isabel vor mir. Sofort war es um mich geschehen.« Franzi spürte ein schmerzhaftes Ziehen in der Brust. Zu genau erinnerte sie sich noch an diesen Nachmittag, der ihr Leben für immer verändert hatte. »Wir sind schnell ins Gespräch gekommen – auch über das Fachliche hinaus. Irgendwann habe ich sie gefragt, ob wir nicht abends essen gehen wollen. So sind wir ein Paar geworden.« Ihre Stimme wurde brüchig. »Neun Jahre lang haben wir fast keinen Tag getrennt verbracht. Wir sind ziemlich schnell zusammengezogen, haben gemeinsame Zukunftspläne geschmiedet. Als ich fertig mit dem Studium war, habe ich mir einen Job in Braunschweig gesucht.« Franzi legte den Kopf in die Hände. »Wir wollten heiraten.« Sie zitterte am ganzen Körper. »Und dann . . .« Sie brach ab.

Meike legte ihren Arm um Franzi. Behutsam strich sie ihr übers Haar. »Ach, Franzi.«

Franzi wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen. Das war ja großartig. Jetzt war sie mit der Frau zusammen, die ihre Gefühle durcheinanderbrachte, zu der sie sich auf eine fast vergessene Art hingezogen fühlte – und ihr fiel nichts Besseres ein, als von ihrer vergangenen großen Liebe zu erzählen. Was sollte Meike nun denken?

»Du hast sie sehr geliebt, oder?« Meikes Finger streichelten Franzis Arm entlang.

Zu mehr als einem Nicken war Franzi nicht in der Lage, sonst wäre sie in Tränen ausgebrochen. Isabel nahm immer noch einen großen Platz in ihrem Herzen ein, auch wenn ihr Tod nun zwei Jahre zurücklag. So eine lange gemeinsame Zeit konnte man nicht einfach vergessen.

»Ich wünschte, es hätte in meinem Leben auch jemanden gegeben, über den ich so etwas sagen könnte.« Meike seufzte. »Am Anfang dachte ich, in Thomas diese große Liebe gefunden zu haben. Aber das war ein Irrtum.«

»Es ist doch noch nicht zu spät.« Franzi sah auf, geradewegs in Meikes Augen. Ihre Blicke trafen sich, hielten sich fest. Franzis Herz hämmerte laut in ihrem Brustkorb. In ihren Ohren rauschte es. Alles um sie herum verschwamm. Sie schluckte. Nein, es war noch nicht zu spät – weder für Meike noch für sie. In diesem Moment war sich Franzi ganz sicher, dass sie sich in Meike verliebt hatte.

Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wollen wir weitergehen?«

»Ja.« Meike setzte sich langsam in Bewegung.

Dieses Mal war es Franzi, die sich bei Meike unterhakte. »Meike«, nahm sie nach kurzer Zeit das Gespräch wieder auf. Ihre Augen suchten den Boden nach Unebenheiten ab; sie wagte nicht, Meike direkt anzusehen. »Ich denke, wir müssen noch einmal über Samstag reden.« Sie presste die Luft aus ihrer Lunge. Dies war der eigentliche Grund, warum sie Meike hatte wiedersehen wollen. Sie konnte nicht davor weglaufen, auch wenn es die einfachste Lösung gewesen wäre.

»Du hast recht.« Meikes Stimme klang vorsichtig.

»Es war kein Zufall, dass das passiert ist . . . Dass wir uns geküsst haben, meine ich.« Franzi senkte die Stimme. »Meike, ich mag dich. Sehr sogar. Vielleicht mehr, als es für eine Freundin üblich ist . . . Ich hatte keine Ahnung, dass diese Gefühle nach all den Jahren noch vorhanden sind. Und . . . und es verwirrt mich. Ich . . .« Sie schluckte, holte tief Luft. »Ich dachte, nach Isabels Tod . . .« Nun sah sie doch auf und suchte den Blickkontakt zu Meike. »Ich wusste nicht, dass ich so etwas überhaupt noch empfinden kann.« Auf ihrer Stirn bildete sich eine tiefe Falte. »Es macht mir Angst. Darf ich das überhaupt?«, sprach sie endlich die Frage aus, die sie seit dem Klassentreffen ständig beschäftigte.

Meike starrte auf den Boden. Ihre Zähne gruben sich in ihre Unterlippe.

»Sag doch bitte etwas.« Franzi legte die Hände auf Meikes Schultern und zwang sie, sie anzusehen. In Meikes Augen spiegelte sich ihr eigener Zweifel wider.

»Franzi, ich . . . Das ist alles so eine neue Erfahrung für mich. Ich mag dich auch. Und ich habe unsere Küsse genossen. Sehr sogar. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann. Ob ich stark genug dafür bin. Ob es das ist, was ich möchte.« Meike lehnte sich an Franzi. »In deiner Nähe fühle ich mich unbeschwert, da kann mir nichts und niemand etwas anhaben – aber wenn wir nicht allein sind . . . Ich . . .« Sie stockte.

»Schon gut.« Zärtlich küsste Franzi Meikes Haaransatz. »Ich verstehe, was du meinst.«

Für den Moment fühlte sie sich wunschlos glücklich in Meikes Nähe. Auch wenn sie der Antwort auf die Frage, was das nun war zwischen ihnen, kein bisschen näher gekommen war.

Klassentreffen
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