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Franzi starrte in den Sternenhimmel, als würden dort die Antworten auf all ihre Fragen stehen. Langsam lief sie durch die hell erleuchtete Gasse, in ihren schwarzen Mantel gehüllt und den dicken Schal um den Hals. Ihre Hände waren in den Taschen vergraben. Hatte ihre Mutter vielleicht recht, und sie musste Meike verzeihen?

Aber das konnte sie nicht so leicht. Sie wollte es gern. Doch Meike hatte sie zu tief verletzt.

Franzis Finger waren taub, aber sie spürte es kaum. In ihr war nur diese Leere. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hatte sie sich auf das Weihnachtsfest gefreut, auf die gemeinsame Zeit mit Meike. Jetzt erschien all das absurd. Jetzt war sie einsam, und das Fest der Liebe hatte seinen Sinn verloren.

Wie hatte es jemals so weit kommen können? Erst Isabel, dann Meike . . . Was hatte sie nur falsch gemacht? Was hätte sie tun können?

So viele Fragen, auf die sie keine Antwort wusste. Wahrscheinlich, weil es gar keine Antworten gab.

Tränen stiegen ihr in die Augen. Energisch schluckte Franzi sie hinunter. Sie sollte nicht der Vergangenheit nachhängen, sondern nach vorn schauen. In drei Tagen würde sie sich mit Elli treffen.

Langsam tanzten Schneeflocken auf die Erde nieder, schimmerten im Schein der Laterne.

»Franzi?« Eine Stimme riss sie aus ihrer Lethargie. Sie sah in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Blonde Haare wehten im Wind . . . Es musste ein Traum sein.

»Meike«, flüsterte Franzi. »Was machst du denn hier?«

In angemessenem Abstand blieb Meike vor Franzi stehen. »Ich bin auf dem Weg nach Hause.«

Franzi zögerte. Sollte sie auf Meike zugehen, sie umarmen? Sie entschied sich dagegen. Verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich auch.« Nach einer kleinen Pause murmelte sie: »Frohe Weihnachten.«

»Dir auch.« Meike trat von einem Bein auf das andere. »Wie geht es dir?«

Franzi blickte geradewegs in Meikes Augen. Ihr Puls raste. Warum hatte sie sich nicht besser unter Kontrolle? »Es ging mir schon mal besser.«

»Es tut mir leid.« Meike streckte ihre Hand aus. Für einen kurzen Moment berührten ihre Finger Franzis Wange, streichelten darüber – aber Franzi wich zurück, entzog sich der Berührung. Das schaffte sie nicht. Und sie wollte es auch nicht.

Meike schloss die Augen. »Entschuldige.«

»Hm«, murmelte Franzi. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Noch immer brannte ihre Wange an der Stelle, die Meike berührt hatte. Meike übte noch immer eine derartige Anziehungskraft auf sie aus, dass ihr beinahe schwindelig wurde. Aber Franzi konnte, durfte es nicht zulassen.

»Vielleicht sollten wir über alles reden. In Ruhe.« Meikes Stirn legte sich in Falten.

Franzi atmete hörbar aus. War das der Beginn eines Rückfalls in die Vergangenheit? Sollten all ihre Bemühungen, Meikes Kontaktversuchen auszuweichen, umsonst gewesen sein? »Ich weiß nicht.«

»Bitte gib mir eine Chance, dir alles zu erklären.«

»Was hätte das für einen Sinn?«

Flehend sah Meike Franzi an. »Bitte.«

»Also gut.«

Meike folgte Franzi in ihre Wohnung. Am Heiligen Abend hatten alle Lokale in der Stadt geschlossen, und so hatte Franzi kurzerhand angeboten, dass sie zu ihr nach Hause gehen könnten.

Meike sah sich in der Wohnung um. Es hatte sich nichts verändert; alles war ihr noch so vertraut. Franzis Duft hing in der Luft. Meike atmete tief ein. Zumindest die Erinnerungen konnte ihr keiner nehmen.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Franzi.

Meike schüttelte den Kopf. »Nein, danke.« Sie setzte sich auf die Couch.

Franzi nahm neben ihr Platz – und achtete wie zuvor Meike darauf, genügend Abstand zu halten. »Worüber möchtest du mit mir reden?«, kam sie ohne Umschweife zur Sache. Sie nahm eines der Kissen und umschlang es mit den Armen.

Meike drehte sich zu Franzi, suchte ihren Blick.

In Franzis Augen las sie Zuneigung. Oder bildete sie sich das nur ein?

Franzi schlug die Augen nieder.

»Es tut mir leid, was passiert ist«, begann Meike mit zitternder Stimme. »Ich weiß, wie sehr ich dich verletzt haben muss.«

»Woher willst du das wissen?«, erwiderte Franzi scharf.

Wahrscheinlich hatte sie recht – Meike hatte keine Ahnung, wie Franzi sich gefühlt hatte. »Gut, vielleicht weiß ich es wirklich nicht. Aber du musst mir glauben, ich würde es so gern rückgängig machen.« Sie stockte. »Kannst du mir verzeihen?«

»Das ist nicht so einfach.« Franzi starrte an die Wand gegenüber.

»Ich habe heute meinen Eltern die Wahrheit gesagt. Ich habe ihnen erzählt, dass ich mich in dich verliebt habe.« Gespannt wartete Meike auf Franzis Reaktion.

Und tatsächlich wandte Franzi den Kopf in Meikes Richtung und sah sie direkt an. Überraschung, ungläubiges Staunen und vielleicht noch mehr lag in ihrem Blick. »Du hast was?«

»Ich habe meinen Eltern gesagt, dass ich lesbisch bin.« Meike strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Und nicht nur ihnen – auch meiner Schwester und meinen Kollegen. Ich möchte mich nicht mehr verstecken.« Ihr Herz klopfte schneller. Würde Franzi ihr jetzt verzeihen können? Würde sie merken, wie ernst es ihr war?

»Das hätte ich nicht erwartet«, gestand Franzi. »Ich freue mich für dich. Ehrlich.« Sie zögerte, verschränkte ihre Hände ineinander. »Aber . . . Das ändert nichts an meinen Gefühlen für dich.«

Was sind denn deine Gefühle für mich?, schrie es in Meike, aber sie traute sich nicht, es auszusprechen. Jedes Mal, wenn Franzi sie ansah, dachte sie, in Franzi dieselben Gefühle wahrzunehmen, die gleiche Sehnsucht zu spüren wie vor ihrer Trennung. Aber nur einen Augenblick später war alles verschwunden, und Franzi wirkte wieder kalt und teilnahmslos. Was fühlte sie wirklich? »Es war nicht einfach für mich, aber ich wollte es nicht länger verheimlichen.« Meike senkte die Stimme. »Auch wenn es zu spät ist. Es war der größte Fehler meines Lebens, nicht eher zu meiner Liebe zu stehen.«

Franzis Hand bewegte sich ganz langsam auf Meike zu. Fast hatte sie Meikes Oberschenkel erreicht. Franzi nickte. Millimeter für Millimeter wanderten ihre Finger weiter.

Meike zitterte am ganzen Körper. Wie sehr sehnte sie sich nach Franzis Berührungen . . .

Da zog Franzi abrupt ihre Hand zurück. »Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt gehst.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Franzis Worte ließen Meike hart auf dem Boden der Tatsachen aufschlagen. »Ja, vielleicht.« Sie seufzte. Für einen Moment hatte sie wirklich gedacht, Franzi würde ihr verzeihen. Ihnen noch eine Chance geben.

»Ich kann das nicht«, murmelte Franzi, als hätte sie Meikes Gedanken gelesen.

Aber Meike wollte noch nicht aufgeben. In diesem Moment hätte sie alles getan, um Franzi nicht für immer zu verlieren. »Hast du Lust, mich am Halbjahresende zum Schulfest zu begleiten?« Sie zupfte ihren Pullover zurecht.

Franzis Kopfschütteln war kaum wahrnehmbar. »Danke für die Einladung.« Sie räusperte sich. »Aber es ist besser, wenn ich zu Hause bleibe.«

Meike konnte nicht verhindern, dass sich die Enttäuschung auf ihrem Gesicht abzeichnete. »Schade.« Sie beobachtete, wie Franzis Finger miteinander spielten. »Falls du es dir anders überlegst . . .« Aus ihrer Handtasche zog sie ein Blatt Papier. Sie reichte Franzi den Flyer.

»Mal sehen.« Franzi nahm den Zettel entgegen.

»Also dann . . .« Meike stand auf. Im Flur griff sie nach ihrem Mantel. Franzi war ihr nicht gefolgt. Langsam hüllte Meike sich in Mantel und Schal. Dann warf sie einen letzten Blick ins Wohnzimmer. Franzi saß regungslos auf dem Sofa, den Flyer noch in der Hand.

»Tschüss«, verabschiedete sich Meike.

Franzi sah zu ihr. Ihre Augen schimmerten feucht. »Mach’s gut.«

Klassentreffen
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