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»Setzt euch schon an den Tisch, das Essen ist fertig«, rief Meikes Mutter aus der Küche.

Jeder nahm seinen Platz ein. Kurz darauf brachte Inge Jakobs zunächst für jeden einen Teller Suppe. »Guten Appetit.«

Mit zitternden Fingern nahm Meike den Löffel. Sie hatte ganz bestimmt keinen Appetit. Schweigend starrte sie auf ihren Teller.

»Ist alles in Ordnung bei dir, Meike?«, fragte ihre Mutter nach einer Weile. »Du isst ja gar nichts.«

Jetzt oder nie. Meike nahm einen tiefen Atemzug. »Ich muss mit euch reden.« Der Löffel rutschte aus ihrer Hand und landete mit einem Klirren auf dem Teller.

Alle sahen sie an.

»Ist etwas passiert?« Der Blick ihrer Mutter war besorgt.

»Nein . . . ja . . . Wie man es nimmt«, stammelte Meike. »Ich habe mich verliebt.«

»Das wurde aber auch Zeit«, brummte Johannes Jakobs.

»Wer ist denn der Glückliche?«, wollte Inge Jakobs wissen. Sie strahlte über das ganze Gesicht.

Das Blut rauschte in Meikes Ohren. Sie nahm ihre Umgebung nur noch unscharf wahr. Aber es gab kein Zurück mehr. »Franzi.«

Es war heraus.

Ihre Eltern starrten Meike mit offenem Mund an.

»Ich habe mich wohl verhört«, erwiderte Meikes Vater in nüchternem Tonfall.

»Nein, Papa. Du hast dich nicht verhört. Ich habe mich in eine Frau verliebt. Das erste Mal im Leben, dass ich wirklich jemanden liebe.« Die Worte kamen wie von selbst, Meike hatte das Gefühl, ihre Stimme gehöre nicht zu ihr. »Ich bin lesbisch.«

Johannes Jakobs schlug mit der Faust auf den Tisch. »Halt uns nicht zum Narren.« Seine Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen.

Meikes Mutter lächelte sie ungläubig an. »Du machst Witze.«

»Nein.« Meike schüttelte den Kopf. »Das ist mein voller Ernst.«

»Was fällt dir ein?«, begann Meikes Vater zu toben. »Wir haben doch immer alles für dich getan. Hast du alles vergessen? Deine ganze Erziehung?«

»Papa«, mischte sich Claudia mit scharfer Stimme ein. »Meike ist glücklich. Das ist das Wichtigste.«

»Ach, jetzt verteidigst du diese Sünde auch noch?« Wütend sah Johannes Jakobs abwechselnd zu Meike und Claudia.

Meike legte ihren Kopf in die Hände. Genauso hatte es kommen müssen. Sie hatte es geahnt, nein, genau gewusst, dass ihre Eltern kein Verständnis für sie haben würden.

»Das ist abartig, widerwärtig. Bei dem bloßen Gedanken daran dreht sich mir der Magen um.« Johannes Jakobs schob seinen Stuhl schwungvoll zurück. Der Stuhl geriet ins Wanken und fiel mit einem lauten Knall zu Boden. »Meine Tochter eine Lesbe!«, schimpfte er, bevor er mit lautem Stampfen das Esszimmer verließ.

»Mama, sag doch auch mal was«, forderte Claudia Inge Jakobs auf.

Meikes Mutter hatte bisher mit gesenkten Schultern dagesessen. In ihren Augen konnte Meike Tränen erkennen. Ihr Blick war wie versteinert. »Was haben wir falsch gemacht?«, flüsterte sie nun.

»Ihr habt nichts falsch gemacht. Ich habe mich einfach verliebt«, erklärte Meike.

»Aber warum ausgerechnet in eine Frau?« Meikes Mutter schüttelte leicht den Kopf. »So etwas habe ich schon immer geahnt«, fügte sie mehr zu sich selbst hinzu. »Aber ich kann es nicht verstehen.«

»Du musst es auch nicht verstehen. Akzeptier es einfach«, meinte Claudia.

»Das . . . geht nicht. Das kann ich nicht.« Mechanisch räumte Inge Jakobs die Teller zusammen, um sie in die Küche zu bringen.

Claudia legte Meike ihre Hand auf die Schulter. »Nimm es nicht so schwer. Irgendwann werden sie es akzeptieren. Gib ihnen ein bisschen Zeit.«

Meike nickte schwach. »Habe ich eine andere Wahl?« Sie hatte das Gefühl, gerade aus einem Alptraum zu erwachen – nur dass es gar kein Traum war. Ihr Brustkorb fühlte sich an wie zugeschnürt.

Inge Jakobs kam aus der Küche zurück und servierte Gänsebraten, Rotkohl und Klöße. Offenbar war ihre Strategie, einfach zur Tagesordnung überzugehen und das Geschehene zu ignorieren. »Schatz, kommst du? Wir möchten gern weiteressen.« Ihre Stimme klang schrill.

Mit finsterer Miene betrat Johannes Jakobs wieder das Esszimmer. Er hob seinen Stuhl auf, der noch am Boden lag, und setzte sich.

Der Rest des Essens verlief schweigend. Alle starrten auf ihre Teller, stocherten in ihrem Essen herum; niemand sagte ein Wort.

Schließlich erhob sich Johannes Jakobs und beendete damit das Schauspiel. »Ich bin im Wohnzimmer.«

Inge Jakobs stellte die Teller zusammen und trug sie in die Küche.

»Warte, ich helf dir«, bot Meike an und folgte ihrer Mutter mit einem weiteren Stapel Geschirr.

In der Küche waren die beiden allein. Meikes Mutter ließ Spülwasser ein. »Ich verstehe das einfach nicht.« Sie seufzte.

»Ich habe es auch lange nicht verstanden. Ich wollte es die ganze Zeit nicht wahrhaben. Aber mit Franzi habe ich mich das erste Mal im Leben vollständig gefühlt.«

»War Franzi schon immer . . .« Meikes Mutter suchte nach dem passenden Wort, konnte sich aber nicht dazu durchringen, lesbisch zu sagen. Stattdessen ergänzte sie nur: ». . . so?«

»Ja, Franzi ist schon immer lesbisch.« Weitere Details wollte Meike ihrer Mutter ersparen.

»Seit wann geht das mit euch?«

Meike senkte den Blick. »Seit dem Klassentreffen. Aber . . .« Sie unterbrach sich. Es war nicht nötig, ihrer Mutter in diesem Moment alles zu erzählen; sie sollte erst einmal die wichtigste Neuigkeit verdauen. Dass die Beziehung schon wieder beendet war, brauchte sie nicht zu wissen. Sonst würde sie das Ganze nur für eine Spinnerei halten, Meikes Gefühle gar nicht weiter ernst nehmen.

Inge Jakobs’ leise, verzagte und immer noch ungläubige Stimme mischte sich in ihre Gedanken: »Ich kann deine Entscheidung nicht verstehen, Meike. Du könntest doch jeden Mann haben.«

»Es hat doch nichts damit zu tun, ob ich jeden Mann haben könnte oder nicht. Ich habe mich einfach in eine Frau verliebt und festgestellt, dass ich lieber mit einer Frau zusammen sein möchte.«

»Wenn du damit glücklich bist . . .«

»Ja, Mama. Das bin ich.« Meikes Stimme war fest. Auch wenn sie im Augenblick nicht glücklich war, wusste sie, dass sie für ihr Glück eine Frau an ihrer Seite brauchte. Nein – sie brauchte nicht irgendeine Frau, sie brauchte Franzi.

Inge Jakobs seufzte. »Gut. Ich hoffe, du bist wirklich glücklich damit. Wenn das der richtige Weg für dich ist, dann werde ich es wohl akzeptieren müssen.« Sie ging einen Schritt auf Meike zu und nahm sie in den Arm. »Aber das geht nicht von heute auf morgen.«

»Danke, Mama.« Meike ließ sich in die Umarmung ihrer Mutter fallen. Eine Welle der Erleichterung überflutete sie. »Ich gehe auch noch mal zu Papa«, beschloss sie.

Ihre Mutter strich ihr über den Rücken. »Erwarte nicht zu viel. Du kennst ihn.«

Johannes Jakobs saß allein auf der Couch; Claudia und Robert waren im Esszimmer geblieben. »Was willst du noch hier?«, zischte er, als er Meike im Türrahmen stehen sah.

»Mit dir reden«, sagte Meike leise.

»Es gibt nichts mehr zu reden.« Demonstrativ wandte sich Meikes Vater von ihr ab und nahm eine Zeitung in die Hand.

Meikes Magen krampfte sich zusammen. Sie spürte die Tränen aufsteigen.

Unbemerkt war Meikes Mutter ihr gefolgt. »Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt nach Hause gehst«, meinte sie. »Ich werde noch einmal in Ruhe mit ihm reden.«

»Vielleicht.« Meike schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. Sie sammelte ihre Sachen zusammen. Die Geschenke, die sie mitgebracht hatte, ließ sie unter dem Tannenbaum stehen.

Neun Uhr, und der Heiligabend war zu Ende. Meike verabschiedete sich von ihrer Schwester und Robert. Dann trat sie in die eisige Kälte hinaus und lief los in Richtung Altstadt.

Klassentreffen
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