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Franzi hatte keine Ahnung, wie oft sie in den letzten beiden Jahren hier gewesen war. Gewöhnt hatte sie sich an den Anblick nie. Jedes Mal erschauderte sie aufs Neue, wenn sie den vertrauten Namen auf dem Grabstein las.

Es war ein grauer Herbsttag, dunkle Wolken hingen tief am Himmel und ließen den kommenden Regen erahnen. Franzi vergrub die Hände tiefer in ihren Jackentaschen. Es war schrecklich kalt.

Mit brennenden Augen sah sie hinab auf Isabels Grab. Die Bäume rauschten im eisigen Wind. Es schien vorwurfsvoll zu klingen. Was hatte sie nur getan?

Der Friedhof war menschenleer, nicht einmal ein Hund oder ein Eichhörnchen war zu sehen. Franzi war allein. »Ach, Isabel«, murmelte sie. Sie kniete sich hin und legte die Rose, die sie mitgebracht hatte, auf das Grab.

Neun Jahre lang waren sie so glücklich gewesen. Franzi konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie Isabel damals zum ersten Mal in dem kleinen Buchladen gesehen hatte. Es hatte sofort gefunkt zwischen ihnen. Was folgte, waren wundervolle Jahre, in denen sie sich jeden Tag aufs Neue in Isabel verliebt hatte. Natürlich hatte es auch schwierige Zeiten gegeben, aber gemeinsam hatten sie alles durchgestanden. Die Schwierigkeiten hatten sie nur enger zusammenwachsen lassen.

»Wie konntest du mich einfach so verlassen?«, flüsterte Franzi. »Ich hatte dir noch so viel zu sagen. Wir hatten doch noch so viel vor. Das kann doch nicht einfach vorbei sein. Was bin ich denn ohne dich? Ich fühle mich so unendlich leer.«

Es begann zu regnen. Dicke Tropfen rannen Franzis Gesicht hinunter, kühlten ihre Haut ab. In wenigen Sekunden war sie von oben bis unten durchnässt. Aber sie merkte es kaum.

»Du fehlst mir so sehr. Manchmal glaube ich, es wird niemals aufhören. Diese Leere wird niemals enden . . . Die Zeit, die ich mit dir verbringen durfte, war die schönste Zeit meines Lebens. Aber ich weiß einfach nicht, wie ich jetzt weitermachen soll, ohne dich.«

Sie schluckte, um den Kloß aus ihrem Hals zu vertreiben. Es war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass ihr nach Weinen zumute war. Isabels plötzlicher Tod hatte ihr alle Energien geraubt, nicht nur den Lebensmut, sondern überhaupt die Fähigkeit zu fühlen. Etwas in ihr war mit Isabel gestorben.

Das erste Mal, dass sie sich wieder lebendig gefühlt hatte, war in dem Moment, in dem sie Meike wiedergesehen hatte.

Meike. Franzi kämpfte gegen Meikes Bild in ihrem Kopf an. Was würde Isabel sagen, wenn sie wüsste, dass sie eine andere Frau geküsst hatte?

»Isabel, du musst wissen, dass ich dich immer geliebt habe. Jede Sekunde, die vergangen ist, habe ich nur dich geliebt. Nur du hast in meinem Leben gezählt. Für dich hätte ich alles gemacht. Alles, was dich glücklich gemacht hätte, hätte ich getan. Ich hätte alles auf mich genommen, jede Qual ertragen.« Franzi schluchzte jetzt. »Aber . . .« Sie brach ab.

Ihr Leben war noch nicht vorbei. Aber durfte sie sich jemals wieder in eine andere Frau verlieben? Durfte sie diese neuen, oder besser: neu erwachten Gefühle zulassen, die in Meikes Gegenwart zutage getreten waren? Es fühlte sich falsch an. Wie ein Betrug an Isabel. Aber gleichzeitig war es wie ein Erwachen gewesen, ein Erwachen aus einem Alptraum.

Tränen strömten ihre Wangen hinunter und mischten sich mit dem Regen. Niemand war da, der sie hätte trösten können, sie in den Arm nehmen, die Tränen trocknen. Sie war ganz allein.

Langsam drehte sie sich um und lief los. Ihre Augen starrten in die Ferne.

Der Regen hörte auf.

Würde die Trauer jemals enden?

Klassentreffen
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