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»Mario, hast du mal eine Minute für mich?« Meikes Stimme klang ein wenig schrill. Seit ein paar Tagen versuchte sie schon, mit ihrem Kollegen zu reden, aber es hatte sich bisher keine gute Möglichkeit ergeben. Einer von ihnen war immer beschäftigt gewesen oder bereits auf dem Weg nach Hause. Und ihre Nervosität wurde durch den Aufschub nicht weniger, im Gegenteil.

Mario blieb neben Meike stehen, die an ihrem Platz saß. Etwas irritiert sah er sie an. »Klar, ich habe eh gerade eine Freistunde.«

Meike nickte. »Ja, ich weiß.« Sie legte den Rotstift zur Seite und stand auf. »Hast du eine Idee, wo wir eine Weile ungestört wären?«

Marios Blick war die Überraschung weiterhin anzumerken. »Wollen wir in den SV-Raum gehen? Da haben wir bestimmt unsere Ruhe.« Als Vertrauenslehrer hatte Mario Zugang zum Raum der Schülervertretung.

»Das ist eine gute Idee«, stimmte Meike zu.

»Alles klar. Dann organisiere ich uns mal noch zwei Tassen Kaffee«, beschloss Mario, und ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er in der Küche.

Meike seufzte. Nun musste sie es Mario also sagen. Es führte kein Weg mehr daran vorbei; nach dieser Einleitung konnte sie keinen Rückzieher mehr machen. Eigentlich war es ja auch gut so, aber ein wenig Herzklopfen hatte Meike dennoch.

»Da bin ich wieder.« Mario balancierte lachend zwei randvolle Tassen in Meikes Richtung. »Wir können.«

Meike folgte ihrem Kollegen in den ersten Stock, wo sich der Raum befand.

Als sie angekommen waren, drückte Mario Meike eine Tasse in die Hand und zog dann seinen Schlüssel aus der Hosentasche, um den Raum aufzuschließen. Drinnen befand sich ein bunter Mix aus alten Sesseln, Stühlen und einem gemusterten Sofa.

»Hübsch habt ihr es hier«, sagte Meike grinsend.

»Ja, ich weiß, es ist Folter für die Augen, aber den Schülern gefällt es.« Mario zuckte die Achseln. »Such dir einen Platz aus, aber nimm nicht diesen Sessel.« Er zeigte auf ein dunkelgrünes Monstrum in einer Ecke. »Der ist schon vollkommen durchgesessen. Das ist nicht gut für den Hintern. Ich spreche aus eigener Erfahrung.«

Meike entschied sich für einen einfachen Stuhl.

Mario ließ sich auf das Sofa fallen. »So, Meike, was kann ich tun für dich?«

Meike krauste die Stirn. Ihre Hände waren feucht geworden. Sie wischte sie an ihrem Pullover ab. »Also . . .«, begann sie und räusperte sich.

»Schieß los, du wirst mich doch nicht einfach nur so abgefangen haben, um mal ein paar Minuten mit mir allein zu sein.« Um Marios Mundwinkel bildeten sich spöttische Lachfältchen.

»Nein, das stimmt.« Meikes Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Warum war das nur jedes Mal aufs Neue so schwer?

Marios warme Augen ruhten auf Meike. »Hat Karsten dir etwa irgendetwas angetan?«

Meike schüttelte den Kopf. »Nein . . . Also . . . Ja . . .«, stammelte sie. Irgendwie war Karsten ja nicht ganz unschuldig an Meikes Sorgen. »Es ist so . . .«, setzte sie erneut an. Sie holte tief Luft. »Ich bin lesbisch.« Es war heraus. Meike war froh, dass sie saß, sonst hätte sie den Halt unter den Füßen verloren.

»Lesbisch?«, wiederholte Mario.

»Ja«, bestätigte Meike.

»Das überrascht mich ein bisschen«, gab Mario zu. »Du siehst gar nicht aus wie eine Lesbe.«

Jetzt musste Meike wider Willen lachen. »Wie sieht eine Lesbe denn deiner Meinung nach aus?«

»Hm, du hast recht. Das sind alles blöde Vorurteile.« Mario schmunzelte ein wenig verlegen. »Aber ich hätte es trotzdem nicht gedacht.«

»Ich ehrlich gesagt auch nicht«, gestand Meike. »Bis ich Franzi getroffen habe. Rückblickend gab es schon immer Hinweise darauf, dass ich Frauen toller und interessanter und auch anziehender fand als Männer. Aber irgendwie habe ich es wohl nicht wahrhaben wollen und verdrängt.« Kurz fasste sie die Geschichte ihrer Beziehung mit Franzi zusammen.

»Also, dann warst du an dem Abend der Lehrerverabschiedung gar nicht solo?«, fragte Mario, als sie geendet hatte. Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Falte.

Meike stiegen Tränen in die Augen, sie konnte nichts dagegen machen. »Nein, war ich nicht . . . bis Franzi gehört hat, was ich zu dir gesagt habe.«

»Ach, Meike, das war aber auch wirklich ziemlich daneben.« Mario verzog das Gesicht zu einer missbilligenden Grimasse. »Das muss ich dir jetzt mal sagen.«

»Ich weiß«, murmelte Meike.

»Und hast du seitdem mit Franzi gesprochen? Ihr alles erklärt?«

»Ich habe es versucht. Ich habe sie immer wieder angerufen, aber sie geht nicht ans Telefon.«

»Wundert dich das?«, fragte Mario.

Meikes Daumen rieb über die Handfläche ihrer anderen Hand. »Nein, natürlich nicht. Ich an ihrer Stelle würde es wahrscheinlich auch nicht anders machen.«

»Liebst du sie denn noch?«

Marios Frage traf Meike völlig unvorbereitet. »Ich . . . denke . . .«, stotterte sie.

Mario sah sie fest an. »Du liebst sie.«

Meike nickte. Sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. »Ja, ich liebe sie. Jeden Tag fehlt sie mir mehr. Ich hatte keine Ahnung, dass es solche Gefühle überhaupt gibt.«

»Dann weißt du, was du zu tun hast.«

Meike sah Mario erwartungsvoll an.

»Du musst um sie kämpfen. Sprich noch mal mit ihr. Vielleicht kann sie dir verzeihen.«

»Aber sie redet ja nicht mit mir.«

»Du willst doch nicht so schnell aufgeben.« Tadelnd schüttelte Mario den Kopf. »Mach ihr klar, was für eine tolle Frau du bist.«

»Wenn das so einfach wäre.« Meike ließ die Schultern hängen. Sie hatte ja oft genug versucht, mit Franzi zu reden. Aber diese blockte jeden Kontakt ab, ignorierte alle Anrufe und SMS.

»Ich habe auch nicht behauptet, dass es leicht wird.«

Das Klingeln der Schulglocke kündigte die große Pause an.

»Vielleicht sollten wir langsam zurück ins Lehrerzimmer«, meinte Mario.

»Bist du jetzt schockiert?«, erkundigte sich Meike verunsichert.

Mario schüttelte den Kopf. »So ein Quatsch. Überrascht vielleicht, aber bestimmt nicht schockiert. Und weißt du was: Ich kann dich sehr gut verstehen, ich mag Frauen auch deutlich lieber als Männer.« Grinsend klopfte er Meike auf die Schulter. »Ansonsten ist mir vollkommen egal, mit wem du zusammen bist. Ich hoffe nur, du wirst schnell wieder glücklich.«

»Danke. Dafür, dass du mir zugehört hast, und dafür, dass du akzeptierst, wer ich bin.« Meike erhob sich von ihrem Stuhl. Dann gingen sie gemeinsam zurück ins Lehrerzimmer.

»Ach, Meike. Schön, dich mal wiederzusehen. Ich habe das Gefühl, du weichst mir aus.« Kaum hatten sie das Lehrerzimmer betreten, stand Karsten auch schon hinter ihr.

»Karsten.« Meikes Blick verdunkelte sich.

»An einer freudigen Begrüßung musst du wirklich noch arbeiten.«

Karstens schmieriges Grinsen ließ Meike übel werden. Seit dem gemeinsamen Abendessen war sie Karsten in der Tat erfolgreich ausgewichen, und sie hatte gehofft, er ließe sie endlich in Ruhe. »Ich möchte dir keine Gefühle vorheucheln«, sagte sie kalt.

»Wir sollten das bei einem Abendessen besprechen.« Karsten legte eine Hand auf Meikes Schulter.

»Finger weg«, schnappte Meike und schob seine Hand mit einer schnellen Bewegung weg. »Und ich werde bestimmt nicht mit dir essen gehen.«

»Dann wird morgen jeder von dir und Franzi wissen«, zischte Karsten. Bedrohlich zogen sich seine Augenbrauen zusammen.

»Was soll morgen jeder wissen?«, mischte sich Mario ein. »Dass Meike lesbisch ist?«

Meike blieb die Luft weg. Ihr Herz pochte bis zum Hals, und ihr wurde schwindelig. Sie nahm ihre Umgebung nur noch schemenhaft wahr.

»Das weiß doch jeder«, fuhr Mario leichthin fort. »Das ist doch kein Geheimnis. Hast du das noch gar nicht mitbekommen?« Er lächelte Karsten süffisant an.

»Das ist . . . Ich glaube es nicht . . .« Karsten stampfte auf den Boden. »Ihr . . . ihr . . .« Offenbar fand er kein passendes Schimpfwort.

Mario schüttelte beinahe unmerklich den Kopf. »Jetzt bloß nicht beleidigend werden.«

Da drehte sich Karsten wütend um und ging schnaubend davon.

»Frag mich bloß nie wieder«, rief Meike ihm mit letzter Kraft hinterher. Mit wackeligen Beinen kämpfte sie sich zu ihrem Platz. Jetzt war es also ganz offiziell. Mario folgte ihr.

»Hat er dich schon länger erpresst?«, fragte er, nachdem Meike sich gesetzt hatte.

Meike nickte stumm. Sie war froh, dass Mario die Situation so schnell erfasst und so galant gelöst hatte. Sie hätte den Mut bestimmt nicht aufgebracht . . . Ohne Marios Eingreifen hätte Karsten sie fröhlich weiter erpresst.

»So ein Schwein.« Mario tobte. »Er wird dich nicht mehr belästigen. Da kannst du dir sicher sein.«

»Ich hoffe es.« Meike seufzte. Langsam wurde das alles zu viel für sie. Innerhalb weniger Tage hatte sich ihr Leben um hundertachtzig Grad gedreht. Aber das, was sie wirklich wollte, schien nach wie vor in unerreichbarer Ferne. Meike holte ein kleines Foto, das sie immer bei sich trug, aus ihrem Portemonnaie und betrachtete es. Franzis Anblick trieb ihr erneut Tränen in die Augen.

Klassentreffen
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