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Leicht angeheitert betrat Meike ihre Wohnung. Es war ein langer Abend gewesen, aber ganz nett – besser, als sie erwartet hatte.

Im Dunkeln hängte Meike ihre Jacke an die Garderobe. Sie war froh, ihre hochhackigen Schuhe loszuwerden. Auf Zehenspitzen schlich sie ins Schlafzimmer. Leise öffnete sie die Tür.

Sie setzte sich auf die Bettkante und tastete nach ihrer Freundin. Aber das Bett war leer. Irritiert schaltete Meike das Licht an. Tatsächlich, Franzi war nicht da. Die Decke lag zurückgeschlagen auf dem Bett, ihr Schlafshirt war verschwunden.

Was hatte das zu bedeuten? Franzi wird schon ihre Gründe gehabt haben, versuchte sich Meike zu beruhigen. Und sie war ihr schließlich keine Rechenschaft schuldig. Meike gähnte. Es war spät, und sie war froh, den Abend in der Schule hinter sich zu haben. Das Bett lachte sie verlockend an. Einfach reinfallen und einschlafen . . .

Meike ging ins Badezimmer, um sich abzuschminken. Schon auf der Türschwelle sah sie den geöffneten Spiegelschrank. Franzis Zahnbürste war verschwunden. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Sie musste Franzi anrufen, hören, ob alles in Ordnung war. Meike holte sich das Telefon und wählte Franzis Nummer. Bei Franzi zu Hause nahm niemand ab. Vielleicht hatte sie sich spontan entschieden, noch auszugehen. Also tippte Meike Franzis Handynummer ein. Aber auch dieser Anruf blieb unbeantwortet.

Meike ließ noch einmal den Abend Revue passieren. Hatte Franzi erwähnt, dass sie noch einmal wegwollte? Sie hatten sich nur kurz gesehen, dann war Meike im Bad verschwunden. Und kurz darauf hatte auch schon Mario vor ihrer Tür gestanden.

Meike schreckte zusammen. Ihr Herz hämmerte.

Nein, unmöglich. Franzi konnte nicht gehört haben, was sie zu Mario gesagt hatte. Sie war doch in der Küche gewesen.

Doch im selben Augenblick wurde es schreckliche Gewissheit. Natürlich konnte man in der Küche hören, was im Wohnzimmer gesprochen wurde. Meike schlug verzweifelt die Hände vors Gesicht. Tränen füllten ihre Augen.

Das konnte nicht wahr sein. Es hatte sicher nichts damit zu tun. Es durfte einfach nicht.

O Gott, sie durfte Franzi nicht verlieren.

Erneut griff Meike zum Telefonhörer. Sie musste Franzi erklären, was passiert war. Warum sie diese Worte gesagt hatte, die für Franzi entsetzlich schmerzhaft sein mussten.

Aber wieder ließ sie das Telefon vergeblich klingeln. Wahrscheinlich wollte Franzi nicht mit ihr sprechen – und wer konnte ihr das schon übelnehmen?

Es wurde Meike immer deutlicher, dass sie einen dummen, einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte. Wie hatte sie Franzi nur verleugnen können? Ihr Herz gehörte Franzi. Nichts von dem, was sie gesagt hatte, hatte sie auch nur im Geringsten so gemeint. Aber vielleicht war es jetzt zu spät . . .

Meike weinte nun bitterlich. Sie hatte alles kaputtgemacht. Die Hoffnung, dass es doch etwas anderes war, was Franzi vertrieben haben könnte, hatte sie längst aufgegeben.

Sie lief in die Küche. Beinahe wäre sie in die Scherben getreten, die dort auf dem Fußboden lagen, aber gerade noch rechtzeitig knipste sie das Licht an. Ihr bot sich ein einziges Bild der Trauer. Tausende kleine Glassplitter, verteilt in einer Wasserlache, zeugten von der Katastrophe, die sich hier heute abgespielt haben musste.

Ein zersprungenes Glas, zerbrochen wie ihre Liebe, ihr ganzes Leben, in einem winzigen Moment – durch ein paar wenige Worte, die ihr gedankenlos herausgerutscht waren. Durch einen kleinen Fehler, der doch das Schlimmste war, das sie je getan hatte.

»Scherben bringen Glück«, kam es Meike in den Sinn. Es klang wie Hohn.

Da fiel ihr Blick auf den Brief, den Franzi auf dem Küchentisch platziert hatte. Mit zitternden Fingern nahm Meike das sorgsam beschriebene Blatt in die Hand. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Wollte sie wirklich wissen, was Franzi ihr geschrieben hatte . . .?

Sie atmete tief durch und begann zu lesen.

Meike,
ich weiß nicht, ob du dir nur annähernd vorstellen kannst, wie ich mich jetzt fühle. So verletzt, so enttäuscht worden wie von dir bin ich noch nie.
Vielleicht ist es dir nicht bewusst, wie weh du mir getan hast, vielleicht weißt du einfach nicht, was Liebe ist, wie man sich fühlt, wenn man für jemanden alles tun würde und dann so eiskalt verleugnet wird.
Als du gesagt hast, du hättest keinen Partner, so ganz ernst, ohne jegliche Gefühle, ohne Zögern, bin ich mir vorgekommen, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich habe jeglichen Halt verloren.
Und auch jetzt fühle ich mich noch nicht besser.
Ich will dir keine Vorwürfe machen, vielleicht hab ich ja einfach zu viel von dir erwartet.
In wenigen Sekunden hast du mein Leben zerstört, mir alle Illusionen und Träume genommen. Ja, es waren wirklich nur Illusionen, ich hab mir eingebildet, wir würden uns für immer lieben, wir wären glücklich, aber es war anscheinend nicht so.
Ich war wohl doch nur ein Spiel für dich. Ein Spiel voller neuer Reize, das Spaß macht, wenn man es möchte, aber das man auch genauso schnell beenden kann, wenn man es leid ist, und das einem dann nicht fehlt, weil es nur ein Zeitvertreib war.
Ich habe mir unser gemeinsames Leben so wundervoll ausgemalt, und ich habe wirklich gehofft, mit dir alt zu werden.
Es tut immer noch so weh, nicht nur das, was du mir angetan hast, sondern es tut auch weh, dass du nicht mehr bei mir bist und wohl nie wieder bei mir sein wirst.
Ich vermisse dich, auch wenn es mir schwerfällt, so etwas jetzt noch zu sagen. Ich liebe dich immer noch, aber ich weiß nicht, ob ich dir das jemals verzeihen kann. Ich glaube nicht, dass wir noch eine Chance hätten. Selbst wenn ich es wollte.
Im Moment würde ich aber auch gar nicht mehr wollen. Mir fehlt jegliches Vertrauen zu dir, und es wäre schwer, so ein tiefes, ungebrochenes Vertrauen wieder aufzubauen. Immer würde ich denken, dass es wieder passieren kann.
Ich hoffe, du verstehst, warum ich gegangen bin. Aber eigentlich solltest du es verstehen, und ich sollte wenigstens ein einziges Mal egoistisch genug sein, um dir zu sagen, dass du es zu verstehen hast.
Ich wünsche mir, dass es dir auch ein wenig weh tut. Nicht, weil ich dir diese unsäglichen Schmerzen wünsche, sondern weil ich dann wüsste, dass du mich geliebt hast, wenigstens ein bisschen. Denn diese Ungewissheit ist besonders schlimm. Ich kann mir nicht mal mehr sicher sein, ob deine Gefühle jemals echt waren. Und das tut vielleicht am meisten weh.
Ich hätte alles für dich getan, alles, worum du mich gebeten hättest, das du von mir verlangt hättest. Auch wenn ich dafür nichts zurückbekommen hätte.
Warum ist Liebe nur so kompliziert? Warum bist du so kompliziert?
Es ist unerträglich, hier so einsam zu sitzen, es bricht mir das Herz. Ich sehe dein Bild so klar vor mir, möchte dich greifen und halten. Aber du bist nicht da, und ich kann es nicht mehr ändern. Es ist zu spät. Vielleicht will ich es auch gar nicht ändern. Ich muss dich vergessen, egal, wie schwer mir das fällt, und du wirst mich sicher auch bald vergessen haben.
Trotzdem liebe ich dich noch, und es war eine wunderschöne Zeit mit dir, die ich niemals missen möchte. Das sollst du wissen.
Deine Franzi

Mit angezogenen Beinen saß Meike auf einem Küchenstuhl. Abwechselnd starrte sie aus dem Fenster in die Dunkelheit und auf das Stück Papier. Tränen hatten die Tinte an vielen Stellen verwischt. Jetzt tropften noch mehr Tränen darauf herab.

Sie konnte es nicht glauben, nicht fassen. Was sollte sie nur ohne Franzi machen? Wie sollte sie nur ohne Franzi weiterleben?

Fragen über Fragen, auf die sie keine Antwort wusste und auf die sie auch lieber keine Antwort wissen wollte, denn diese Antworten würden nur noch mehr schmerzen. Eine Zukunft zusammen mit Franzi hatte keine Chance mehr, und es war ganz allein ihre Schuld. Dieses Bewusstsein quälte sie viel mehr, als sie sich das je hätte vorstellen können. Sie hatte alles ruiniert. Mit ihrer Feigheit.

Ihre Lippen schmeckten salzig.

Meike saß einfach da, Stunden vergingen, es hätten auch Monate oder Jahre sein können, sie hatte jeglichen Bezug zur Zeit verloren. Langsam wurde es draußen schon hell. Aber sie nahm es gar nicht wahr; es kümmerte sie kein bisschen, ob Tageslicht in die Küche fiel oder nicht. Ihr Leben war ohnehin dunkel, und nichts hätte es mehr erhellen können. Längst war ihr kalt geworden, ihre Finger waren eisig. Aber auch das war ihr egal. Warum hätte sie aufstehen sollen? Essen? Sich wärmen? Was hatte das denn alles für einen Sinn?

Sie hatte Franzi niemals verletzen wollen. Sie hatte sie nicht verlieren wollen. Jetzt war alles zu spät.

Klassentreffen
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