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Teilnahmslos ließ Meike den Gottesdienst an sich vorüberrauschen. Sie wusste nicht mehr, warum sie überhaupt mit in die Kirche gegangen war. Neben ihr saßen ihre Eltern und ihre Schwester samt Ehemann, wie jedes Jahr zum Erntedankfest. Aber Meike fühlte sich fehl am Platz. Sie war hier nicht zu Hause.
Früher war sie gern hier gewesen, sie hatte den Gottesdienst geliebt. Aber heute saß sie mit gesenktem Blick in der Bank und hörte kaum etwas von den Worten des Pfarrers.
Ihre Gedanken waren bei Franzi. War das wirklich richtig? Die letzten zwei Wochen mit Franzi waren wie ein Rausch gewesen – unbeschreiblich schön. Wenn sie mit Franzi zusammen war, fühlte es sich so gut an. Aber wenn sie hier saß, in der Kirche, erschien es plötzlich falsch. War es eine Sünde, was sie taten? Konnte denn Liebe wirklich Sünde sein? Ihr Vater jedenfalls würde das niemals verstehen.
Meike starrte ins Leere. Trotz ihrer Familie neben sich fühlte sie sich einsam und verlassen. Wie sollte sie sich verhalten? Was war richtig?
Der Gottesdienst war zu Ende, ohne dass sie es richtig mitbekommen hatte. Die Ersten standen auf und verließen die Kirche. Meike blieb still sitzen. Sie hatte das Gefühl, sich nicht bewegen zu können.
Es war kalt in der Kirche, und alles kam ihr so dunkel vor.
Hatte Gott gewollt, dass sie sich in eine Frau verliebte?
Konnte er das wollen, wo es doch so vielen, die an ihn glaubten, als falsch galt?
Mittlerweile war sie allein; auch ihre Eltern waren schon vor die Tür gegangen. Sicherlich nahmen sie am traditionellen Erntedankverkauf teil.
Verzweiflung machte sich in Meike breit. Was sollte sie nur tun? Sie wollte mit Franzi zusammen sein, ihr Leben mit Franzi teilen, das war sicher. Und Meike wusste genauso sicher, dass Franzi ihre Beziehung und ihre Gefühle nicht geheimhalten wollte. Doch der Gedanke, ihren Eltern und ihren Kollegen davon zu erzählen, ließ Meike eine Gänsehaut den Rücken hinunterjagen. Sie spürte, wie die Kälte sie langsam taub machte.
Auf einmal berührte sie eine Hand sachte an der Schulter. Als sie aufsah, blickte sie direkt in die freundlichen Augen von Pfarrer Bach.
»Mein Kind, was ist denn los? Ich habe dich schon so lange nicht mehr in der Kirche gesehen. Früher warst du doch so gern hier. Was bedrückt dich?«
Meike schluckte. Pfarrer Bach kannte sie gut, schon seit ihrer Kindheit. Sie hätte ihm gern ihr Herz ausgeschüttet, aber . . . sie konnte es ihm nicht sagen. Schwach schüttelte sie den Kopf. »Es ist alles in Ordnung.«
Pfarrer Bach nahm ihre Hand, und mit leichtem Druck zwang er sie, ihm in die Augen zu schauen. Geduldig, aber nachdrücklich sah er sie an und wartete auf eine Antwort.
Sie wusste, ihm konnte sie vertrauen. Nur fehlten ihr die Worte. Ihre Zunge war schwer wie Blei; es war ihr unmöglich zu sprechen.
»Meike, das glaube ich dir nicht. Was kann denn so Schlimmes passiert sein, dass dein Lächeln völlig verschwunden ist?« Seine Stimme klang sanft.
Meikes Herz raste. Ihre Finger wurden feucht. Konnte sie ihm doch von Franzi erzählen?
»Du weißt, du kannst mir alles sagen«, ermutigte er sie noch einmal.
Endlich nahm Meike all ihren Mut zusammen. »Ich habe mich verliebt. Wahnsinnig verliebt. Und ich bin so glücklich wie niemals zuvor.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht beim Gedanken an Franzi.
»Das ist doch wunderbar. Ich freue mich für dich, wenn du glücklich bist. Du hast es verdient.«
»Ja, aber das ist nicht alles. Ich habe mich in . . . wie soll ich sagen? Ich habe mich . . .« Sie atmete tief durch. Ihre Kehle fühlte sich plötzlich wie zugeschnürt an. »In eine Frau verliebt.« Ihre Stimme war nur ein dünnes Krächzen. Aber es war heraus.
Erleichterung und Angst mischten sich in ihr. Sie wagte nicht, Pfarrer Bach anzusehen. Mit angehaltenem Atem schaute sie hinunter auf ihre Hände und wartete auf eine Reaktion. Aber es kam keine.
Ihre Finger verknoteten sich krampfhaft. Ganz klar, es war eine Schnapsidee gewesen, ausgerechnet ihrem Pfarrer von ihrer Liebe zu einer Frau zu erzählen. War sie von allen guten Geistern verlassen? Was hatte sie denn erwartet?
Endlich hörte sie Pfarrer Bach seufzen. »Hm, das ist ein Problem. Was soll ich da jetzt sagen? Du bringst mich in gewisse Schwierigkeiten. Natürlich gönne ich dir dein Glück von ganzem Herzen, und eigentlich soll es mir auch egal sein. Aber eine Frau?« Er ließ Meikes Hand los. »Damit hätte ich wirklich nicht gerechnet. Ich weiß nicht, was ich dir antworten kann. Ich möchte deinem Glück nicht im Wege stehen, aber vielleicht solltest du noch mal darüber nachdenken. Eigentlich habe ich ja nichts gegen Homosexuelle. Aber du in deiner Position . . . ich meine, als Lehrerin. Und als Tochter eines Religionslehrers.«
Pfarrer Bach sprach genau die Punkte an, die auch Meike tagtäglich beschäftigten. Das wusste sie doch alles selbst. Sie fühlte sich zwar nach wie vor erleichtert, ihr Geheimnis doch endlich einmal ausgesprochen zu haben, aber im Grunde war dadurch nichts leichter geworden. »Ich weiß«, sagte sie. Sie legte ihren Kopf in die Hände. Tränen stiegen in ihr hoch, und sie musste dagegen ankämpfen. Warum war das nur so schwer?
Pfarrer Bach legte erneut seine Hand auf Meikes Schulter. »Tu das, was du für richtig hältst. Folge deinem Herzen. Du wirst schon wissen, was du tust. Gott wird dich leiten. Und wenn du eine Frau liebst, wird das seinen Sinn haben.«
Meike hob den Kopf. Langsam hellte sich ihr Gesicht auf. »Danke.«
Der Pfarrer stand auf und ließ sie allein. Sie blieb noch einen Moment sitzen, bevor sie die Kirche verließ.
»Was hast du eigentlich vorhin noch mit Pfarrer Bach besprochen?«, fragte Meikes Vater in die Stille. Die ganze Familie saß zum gemeinsamen Mittagessen um den Tisch.
»Nichts«, erklärte Meike einsilbig.
»Dafür warst du aber noch lange in der Kirche.« Johannes Jakobs’ Stimme klang scharf.
»Er wollte nur wissen, wie es mir geht.« Meike spießte ein Stückchen Pute auf ihre Gabel.
Meikes Vater nickte. Scheinbar gab er sich mit dieser Antwort zufrieden. »Ich bin sehr froh, dass du Zeit gefunden hast, mit uns in die Kirche zu kommen«, bemerkte er noch.
»Natürlich, Papa. Ich weiß doch, wie wichtig dir das ist.« Meike seufzte.
»Es ist ja auch eine wichtige Tradition. Und zum Erntedankfest gehört ein Kirchbesuch einfach dazu.« Johannes Jakobs schob mit dem Messer ein wenig Rotkohl auf seine Gabel. »Wenn ihr sonst schon nicht mehr in die Kirche geht«, fügte er mit vorwurfsvollem Unterton hinzu.
Claudia, die neben Meike saß, verdrehte die Augen. »Sei doch froh, dass wir überhaupt ab und zu mitkommen.«
»Von dir habe ich auch nichts anderes erwartet.« Meikes Vater sah Claudia mit funkelnden Augen an.
»Ich weiß, ich bin sowieso das schwarze Schaf für dich.« Claudia knallte ihr Besteck auf den Tisch.
»Kinder«, versuchte Inge Jakobs ihre Familie zu beruhigen. »Lasst uns in Ruhe essen. Möchte jemand noch ein paar Klöße?« Als keiner antwortete, wandte sie sich an ihre jüngere Tochter: »Meike, geht es dir gut? Du bist heute so schweigsam.«
Meike sah von ihrem Teller auf. Wie sollte es ihr gehen? Wenn sie nicht gerade in der Schule oder bei ihren Eltern war, sondern bei Franzi, dann war sie ein anderer Mensch. Eine glückliche Frau. Vielleicht der glücklichste Mensch der Welt. Aber davon konnte sie niemandem erzählen. »Mir geht’s gut. Die Arbeit ist gerade nur etwas anstrengend.«
»Ja, das kenne ich«, bestätigte ihr Vater. »Aber du hättest es ja anders haben können. Wärst du noch mit Thomas zusammen, könntest du längst Kinder haben und Hausfrau sein.«
Claudia schlug mit der Faust auf den Tisch. »Fang jetzt nicht schon wieder damit an. Lass Meike endlich mit diesem Thema in Frieden. Thomas ist Geschichte.« Wütend zog sie die Augenbrauen zusammen.
Meike war ihr dankbar dafür. Sie hatte nicht die Kraft, sich gegen ihren Vater durchzusetzen. »Ich denke, ich sollte langsam nach Hause. Ich habe noch einiges zu tun«, log sie und stand vom Tisch auf. Sie hielt es nicht länger bei ihren Eltern aus. Außerdem vermisste sie Franzi.