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Franzi sah sich in dem kleinen Café um. Entgegen ihrer sonstigen Art war sie einige Minuten zu früh. Von Meike war noch nichts zu sehen.

Franzi hatte den Feierabend kaum abwarten können. Den ganzen Vormittag über hatte sie immer wieder verstohlene Blicke auf die Uhr geworfen, nur um jedes Mal festzustellen, dass doch erst wenige Minuten vergangen waren. Schon lange hatte sich Franzi nicht mehr so auf etwas gefreut. Aber genau genommen hatte es auch schon lange nichts mehr gegeben, das für solche Vorfreude hätte sorgen können. Nach Isabels Tod war sie fast allen Verabredungen aus dem Weg gegangen.

Franzi entschied sich für einen Tisch neben dem Fenster, von dem man den Goslarer Marktplatz gut beobachten konnte. Sie war froh, dass Meike gestern bei ihr vorbeigekommen war. Wer weiß, ob sie sich sonst wiedergesehen hätten.

Kurz darauf kam eine Kellnerin auf Franzi zu. »Darf ich Ihnen schon etwas bringen?«, fragte sie.

»Nein, danke. Ich warte noch.« Franzis Finger trommelten auf die Tischplatte, während sie die Tür anstarrte. Würde Meike wirklich kommen, oder hatte sie es sich am Ende doch noch anders überlegt?

Endlich schwang die Tür auf, und Meike kam herein. Sofort entdeckte sie Franzi und winkte ihr zu.

»Du bist ja schon da. Dabei dachte ich, ich wäre viel zu früh.« Meike lachte, was Franzis Herz dazu brachte, schneller zu schlagen.

Franzi fuhr sich durch die Haare. »Tja, ich war wohl einfach nur noch früher.«

Meike zog ihre Jacke aus und hängte sie über ihren Stuhl. »Du konntest es also nicht abwarten, mich zu sehen. Das ist schön.« Ihre Mundwinkel zuckten verdächtig.

Franzis Blick glitt unwillkürlich an Meikes Körper entlang. Die blonden Haare hatte sie heute zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug eine hellblaue Bluse zu ihrer Jeans. Wieder einmal wurde Franzi bewusst, wie attraktiv Meike war.

Viel zu schnell setzte sich Meike Franzi gegenüber. »Ich glaube, das letzte Mal, dass ich hier war, ist eine Ewigkeit her. Das muss gewesen sein, kurz bevor ich zum Studium nach Hannover gegangen bin.« Meike nahm die Karte in die Hand und schlug sie auf.

»Bei mir muss es ähnlich lange her sein«, erwiderte Franzi.

Über die Karte hinweg grinste Meike sie an. »Wir werden langsam alt.«

Erneut trat die Kellnerin an ihren Tisch und nahm die Bestellung auf.

»Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, in Hannover zu studieren?«, fragte Franzi nach einem kurzen Augenblick der Stille. »Und vor allem – wie bist du auf die Idee gekommen, Lehramt zu studieren? Du hast doch früher immer gesagt, dass du nie wie dein Vater Lehrer werden wolltest.«

Meike räusperte sich. »Irgendetwas musste ich ja nach der Schule machen. Und wie du selbst weißt, wusste ich ewig nicht, was ich werden sollte. Tja, und meinen Vater kennst du auch . . .«

Franzi nickte. Herrn Jacobs hatte sie noch sehr gut in Erinnerung. Wie oft hatte er Franzi zu verstehen gegeben, dass sie einen schlechten Einfluss auf Meike ausübe. Alles, was die beiden Freundinnen zusammen unternommen hatten, hatte er kritisch beäugt, immer in der Angst, seine wohlerzogene Meike könnte durch Franzis Gesellschaft auf die schiefe Bahn geraten.

»Jedenfalls«, fuhr Meike fort, »meinte er, ich solle etwas Anständiges lernen. Lehramt sei da eine sehr gute Wahl. Und . . .« Meike zögerte. Ihre Augen hafteten an der Tischdecke. »So habe ich mich dafür entschieden. Und mal abgesehen davon, dass man in Goslar gar nicht auf Lehramt studieren kann, wollte ich unbedingt weg von hier.«

»Oh, das kann ich gut verstehen. Auch wenn ich nur bis Braunschweig gekommen bin – ewig hier zu bleiben, ohne je etwas anderes zu sehen, das hätte mich auch umgebracht.« Franzi zwinkerte Meike zu.

»Deswegen habe ich mich für Hannover entschieden.«

Die Kellnerin stellte zwei herrlich duftende Tassen Kaffee und zwei frische Stücke Zuckerkuchen vor ihnen ab.

»Und wie bist du auf Deutsch und Bio gekommen?«, hakte Franzi weiter nach. Sie schob sich mit ihrer Gabel ein Stückchen Kuchen in den Mund.

»Das waren die beiden Fächer, die mich am meisten interessiert haben. Und Theologie, was sich mein Vater für mich gewünscht hätte, wollte ich auf gar keinen Fall studieren.« Meike nahm einen Schluck Kaffee. »Bei aller Liebe nicht. Unsere sonntäglichen Kirchgänge haben mir gereicht. Und Papas tägliche Predigten ebenfalls.«

»Bist du denn jetzt mit deiner Entscheidung glücklich?« Franzi nippte an ihrer Tasse. Bisher hatte es sich so angehört, als wäre Meike nur Lehrerin geworden, um ihren Vater zufriedenzustellen.

Aber Meike strahlte. »Auf jeden Fall.«

Das Leuchten in ihren Augen war fast ein wenig zu viel für Franzi. Für eine Sekunde verlor sie sich in dem Grün und vergaß beinahe, wo sie war.

»Ich bin gern Lehrerin«, fuhr Meike fort. »Ich liebe meinen Beruf und meine Schüler. Natürlich ist es manchmal anstrengend, aber es macht mir viel Spaß. Und welcher Beruf ist schon nie anstrengend?«

»Das stimmt.« Franzi wischte sich einige Kuchenkrümel vom Mund.

»Weißt du, was mir gestern passiert ist?« Meike konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Erwartungsvoll sah sie zu Franzi, die die Schultern zuckte und auffordernd zurückschaute. »Gestern habe ich zwei dreizehnjährige Mädels dabei erwischt, wie sie sich hinter dem Schulgebäude eine Zigarette angezündet haben. Und obwohl ich sie ihnen als Lehrerin natürlich wegnehmen und sie zur Schulleitung zitieren musste, musste ich auch ein wenig schmunzeln.«

Franzi lachte. »Ich kann mir vorstellen, woran du gedacht hast.«

»Ganz genau. An uns beide, wie wir uns mit vierzehn heimlich eine Zigarette teilen wollten. Meine Güte, bin ich aufgeregt gewesen.« Meikes Finger verknoteten sich.

»Ich aber auch. Das kannst du mir glauben. Und als dann Frau Schumann um die Ecke kam . . .« Franzi schüttelte belustigt den Kopf. »Da ist mir vielleicht das Herz in die Hose gerutscht.«

»Ich glaube, ich hatte danach niemals wieder das Gefühl, etwas so Verbotenes zu tun.« Die Erinnerung ließ Meikes Wangen erröten. »Und meine Eltern waren natürlich gar nicht begeistert, als der Direktor sie kurz darauf angerufen hat.«

»Ich habe meine Eltern auch schon besser gelaunt erlebt. Aber dass dein Vater dir zwei Wochen verboten hat, dich mit mir zu treffen, das fand ich übertrieben.« Es war das erste Mal gewesen, dass Meikes Vater Franzi ganz direkt beschuldigt hatte, Meike zu verführen. Wenn auch nur zu einer Zigarette . . . Gut, dass er mehr nicht wusste.

»Das war schon eine schöne Zeit damals mit uns«, seufzte Meike.

Ihre Blicke trafen sich. Sofort spürte Franzi wieder dieses Kribbeln in ihrer Magengegend. »Das war es wirklich.«

Meike holte tief Luft, ehe sie sich von Franzis Augen löste. »Franzi . . .«, begann sie. »Damals . . . also . . . auf der Klassenfahrt . . .«

Franzi schluckte. Es war klar, was kommen würde, und wahrscheinlich war es längst überfällig, dass sie noch einmal in Ruhe darüber sprachen. Neulich in Meikes Wohnung hatte sie es unbedingt gewollt. Aber jetzt machte es sie auf einmal sehr nervös.

»Was hat dir das bedeutet?«, stellte Meike ihre Frage.

Franzi rieb sich über den Nasenrücken. Die ehrliche Antwort war: Dieser Kuss auf der Klassenfahrt war die Erfüllung zahlreicher Träume gewesen. Aber er hatte so schmerzhafte Folgen gehabt, dass es ihr schwerfiel, sich die Gefühle von damals zu vergegenwärtigen, ohne allzu emotional zu werden. »Meike, du weißt, dass du immer meine beste Freundin warst. Und irgendwann – ich weiß überhaupt nicht mehr, wann das genau war – ist für mich aus dieser Freundschaft plötzlich mehr geworden. Ich habe mich zu dir hingezogen gefühlt.« Franzi zupfte an der Tischdecke und vermied es, Meike anzusehen. Sie war sich sicher, dass Meike das damals bemerkt hatte, auch wenn sie versucht hatte, es zu überspielen. »Ich wollte das überhaupt nicht, weil ich unsere Freundschaft nicht riskieren wollte, aber gegen diese Gefühle konnte ich mich einfach nicht wehren. Und es war ja nicht nur, dass du meine beste Freundin warst . . . du warst auch noch dazu eine Frau. Das war eine sehr verwirrende Zeit für mich.«

Meike griff über den Tisch hinweg nach Franzis Händen. »Und ich konnte dir nicht beistehen«, murmelte sie. »Ich hatte nicht den Mut dazu. Ich habe gemerkt, dass dich etwas beschäftigt. Und manchmal hast du mich plötzlich so komisch angesehen. Aber ich wollte das nicht wahrhaben. Bis dahin hat es so etwas in meiner Welt nicht gegeben.«

»Ach, Meike, ich mache dir deswegen gar keine Vorwürfe. Ich kann dich verstehen.« Franzi biss sich auf die Unterlippe. »Und auf der Klassenfahrt . . . ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Wir hatten so viel Spaß miteinander, sind uns so nahe gekommen, und irgendwie konnte ich dann nicht widerstehen. Ich musste dich einfach küssen.«

»Es war ein schöner erster Kuss für mich. Schöner hätte ich mir mein erstes Mal nicht vorstellen können«, gestand Meike. Sie lächelte Franzi an.

»Aber trotzdem hat er alles zwischen uns zerstört.« Franzi runzelte die Stirn. »Auch wenn wir nie darüber geredet haben – danach hast du dich von mir distanziert. Es ist nicht so, als könnte ich das nicht nachvollziehen. Aber verletzt hat es mich trotzdem. Ich habe nicht nur meine erste große Liebe verloren, sondern meine beste Freundin noch dazu.« Für einen Moment schloss Franzi die Augen. Auch nach all den Jahren schmerzte diese Erinnerung. Damals war sie halbwegs schnell darüber hinweggekommen – jedenfalls hatte sie das bis zum Abend des Klassentreffens gedacht. Sie hatte sich bald neu verliebt, und dieses Mal war ihre Liebe erwidert worden. Aber die Zurückweisung hatte eine Narbe hinterlassen, deren Tiefe ihr erst jetzt richtig bewusst wurde.

»Deine erste große Liebe?« Meike ließ Franzis Hände los und richtete sich kerzengerade auf ihrem Stuhl auf.

»Na ja . . .«, gab Franzi zögernd zu. »Zumindest warst du die erste Frau, in die ich mich ernsthaft verliebt habe. Das war mehr als nur eine harmlose Schwärmerei.«

»Es tut mir leid, wie ich damals reagiert habe«, entschuldigte sich Meike. »Ich . . .« Sie atmete hörbar aus. »Ich konnte das einfach nicht. Ich meine, du warst eine Frau, und ich . . . ich bin hetero.« Sie starrte auf die Tischdecke. »Wie war das eigentlich für dich, als du gemerkt hast, dass du lesbisch bist?«, erkundigte sie sich nach einer Pause leise.

»So einfach gemerkt von heute auf morgen habe ich es nicht. Das war schon ein etwas längerer Prozess. Bis ich mir eingestanden habe, dass ich mich in eine Frau, also in dich, verliebt habe, das hat gedauert.« Franzi schmunzelte. Sie war damals sehr unbedarft gewesen. »Gemerkt, dass mich Frauen mehr interessieren, als das zum Beispiel bei dir der Fall war – also mehr, als das für ein Mädchen so üblich war –, das habe ich schon früher. Irgendwann habe ich dann im Fernsehen mal ein Frauenpaar gesehen. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass so etwas auch ging . . . dass sich zwei Frauen lieben können. Trotzdem habe ich selbst da noch nicht begriffen, dass ich vielleicht lesbisch sein könnte.« Franzi hob eine Augenbraue. »Richtig sicher war ich mir erst nach unserem Kuss. Und nachdem ich dann mit Simone zusammengekommen bin, war auch der allerletzte Zweifel ausgeräumt.«

»Wie ging denn das weiter mit Simone? Ihr wart ja nach dem Abi noch zusammen. Soweit ich das mitbekommen habe.« Meike leerte ihre Tasse. Der Kaffee war mittlerweile kalt geworden.

Franzi machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber nicht mehr sehr lange. Uns war schnell klar, dass wir im Grunde nicht zusammengepasst haben. Ich glaube, wir sind damals vor allem deshalb ein Paar geworden, weil wir für die andere jeweils die am besten greifbare Lesbe waren. Aber schön war es trotzdem.« Franzi zwinkerte Meike vielsagend zu.

»War das für dich nie komisch, mit einer Frau zusammen zu sein?« Meikes Neugier schien noch immer nicht befriedigt.

»Eigentlich nicht«, sagte Franzi. »Ich hatte großes Glück. Meine Familie hat mein Lesbischsein sehr positiv aufgenommen, und auch meine Freunde, Studienkollegen und Arbeitskollegen hatten nie wirklich Probleme damit. Sicherlich ist es vorgekommen, dass ich seltsam angeguckt wurde, wenn ich mit einer Frau händchenhaltend durch die Stadt gelaufen bin. Aber für mich fühlt es sich ganz normal an . . . ich denke überhaupt nicht darüber nach. Dass der ein oder andere Opi kurz vor einem Herzinfarkt steht, wenn ich meine Freundin in der Öffentlichkeit küsse, vergesse ich meistens.«

»Hast du denn im Moment eine Freundin?« Meike schob die Kuchenkrümel auf ihrem Teller von einer Seite zur anderen und schien diesem Vorgang ihre ganze Aufmerksamkeit zu widmen.

Diese Frage hatte Franzi erwartet. Und gefürchtet.

»Nein, habe ich nicht«, antwortete sie mit brüchiger Stimme. »Nicht mehr.« Ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft in ihren Unterarm und hinterließen tiefe Kerben. Bisher war sie immer ausgewichen, wenn es um die Liebe ging. Zu ihrem eigenen Schutz – es tat einfach zu weh. Aber Meike musste sie jetzt endlich die Wahrheit sagen, damit diese ihr Verhalten verstand. Sie versuchte sich innerlich zu wappnen.

»Meine Freundin . . .« Sie stockte. Der Schmerz traf sie mit unverminderter Wucht, war nach wie vor zu tief, als dass sie sich wirklich darauf hätte vorbereiten können. Aber sie zwang sich weiterzusprechen. »Isabel ist vor zwei Jahren gestorben.« Und nach einer weiteren Pause: »Bei einem Autounfall.«

»Das tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung.« Fassungslos sah Meike Franzi an. »Das muss schlimm für dich gewesen sein.«

Franzi nickte. Sie schluckte, um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. »Es ist immer noch sehr schlimm. Glaub mir. Dass die Zeit alle Wunden heilt, ist völliger Blödsinn. So eine Wunde heilt niemals ganz.«

Erneut griff Meike nach Franzis Händen. Zärtlich streichelte sie über Franzis Handrücken. »Wie lange wart ihr zusammen?«

»Neun Jahre.« Franzis Zunge klebte an ihrem Gaumen. Jedes Wort war eine Tortur, aber es gab kein Zurück mehr – sie musste weiter, Schritt für Schritt durch die quälenden Erinnerungen. »Nach ihrem Tod hatte ich keine Ahnung, wie ich jemals allein wieder glücklich werden sollte. Das kam alles so plötzlich. Am Morgen haben wir noch zusammen gefrühstückt, und am Abend stand ein Polizist vor unserer Tür. Ich konnte das alles gar nicht glauben. Es war so . . . unwirklich.« Sie starrte ins Leere.

»Weißt du, was damals passiert ist?«

»Isabels Auto ist mit einem anderen PKW kollidiert. Wahrscheinlich ist der andere über eine rote Ampel gefahren. Mit Vollgas. Isabel hatte keine Chance. Sie ist zwar noch ins Krankenhaus gekommen – die Ärzte haben alles versucht. Aber es war zu spät.« Franzi presste die Lippen fest aufeinander.

Bisher hatte sie diese Geschichte noch kaum jemandem erzählt. Ihre damaligen Arbeitskollegen in Braunschweig waren schnell zum Alltag übergegangen, als Franzi zurück in der Apotheke war. Sie hatten nicht weiter nachgefragt. Nur Cori, ihre beste Freundin, und ihre Mutter waren für sie da gewesen und hatten ihr zugehört. Die anderen Freunde, oder zumindest die, die sie dafür gehalten hatte, hatten sich irgendwann nicht mehr bei ihr gemeldet; sie war immer seltener eingeladen worden. Offensichtlich wollte niemand etwas mit einer Trauernden unternehmen. Sie schien allen lästig geworden zu sein.

Meike drückte Franzis Hände fester. »Das ist wirklich furchtbar. Kann ich irgendetwas für dich tun?« Auf ihren Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet.

»Das ist lieb von dir. Aber mittlerweile komme ich eigentlich ganz gut klar. Es war ein langer und sehr anstrengender Weg, auch für meine Mitmenschen. Nur über Isabel reden, das ist noch schwer. Wenigstens erinnert mich hier in Goslar nicht mehr alles an sie.« Franzi wischte sich über die Augen und atmete dann tief durch. »Und jetzt lass uns bitte über etwas anderes sprechen.« Krampfhaft suchte sie nach einem angenehmeren Thema. »Was machst du denn am Wochenende?«, war schließlich das Beste, was ihr einfiel.

Auf Meikes Stirn erschien eine Falte. »Ähm . . . Eigentlich habe ich keine speziellen Pläne. Vielleicht wollte ich Samstag zum Altstadtfest.«

»Hast du Lust, mit mir zusammen dort hinzugehen?«, hörte Franzi sich plötzlich fragen. Bisher hatte sie gar nicht vorgehabt, zum alljährlichen Altstadtfest zu gehen, aber gemeinsam mit Meike . . .

»Sehr gern! Ich liebe das Altstadtfest. Ich bin sogar meistens extra nach Goslar gekommen, als ich noch in Hannover gelebt habe, nur um dabei zu sein.« Meike lachte und zuckte mit den Schultern. »Ein bisschen verrückt.«

»Das finde ich nicht.« Franzi lächelte Meike an. »Weißt du noch, wie wir damals auf dem Altstadtfest unser erstes Bier getrunken haben? Igitt, hat das scheußlich geschmeckt. Und du hattest so große Angst, dass dein Vater das merken könnte, dass du dich spontan entschlossen hast, bei mir zu übernachten.«

»Und das, obwohl Papa auch darüber böse war. Aber über das Bier wäre er noch viel böser geworden.« Meike kicherte.

»Gemerkt hätte er das auf jeden Fall. So albern, wie du plötzlich warst. Ich glaube, du hattest ’nen ganz schönen Schwips.«

»Das kann überhaupt nicht sein.« Meike lachte.

Draußen war es mittlerweile dunkel geworden. Franzi hatte die Zeit vollkommen aus den Augen verloren. Mit einem Mal wurde ihr klar, wie sehr sie den Nachmittag mit Meike genossen hatte. Trotz der vielen Jahre, in denen sie sich nicht gesehen hatten, konnte sie noch immer mit ihr über alles sprechen. Meike verstand sie.

Nur über eines hatten sie noch nicht gesprochen, und Meike schien das Thema genauso meiden zu wollen wie Franzi. Aber Franzi konnte nicht weitermachen, als sei nichts gewesen – sie musste es jetzt endlich klären. »Wegen unseres Klassentreffens . . . Also, der Abend . . . die Nacht . . .«, stammelte sie. Sie wusste ja noch immer nicht genau, was wirklich zwischen ihnen beiden vorgefallen war. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie sich geküsst hatten. Und dann war sie plötzlich nackt in Meikes Bett aufgewacht.

»Lass uns nicht davon sprechen. Was passiert ist, ist passiert. Das sollte doch nicht sofort wieder zwischen uns stehen, oder?« Meike klopfte mit ihrem Löffel rhythmisch auf den Tisch, was Franzi nur noch nervöser machte.

»Wenn ich wenigstens wüsste, was passiert ist.« Franzis Stimme klang kratzig.

»Ich . . .« Meike zögerte. »Ich weiß es auch nicht mehr genau.« Sie starrte auf den Tisch. »Aber selbst wenn mehr passiert sein sollte als ein Kuss – und das ist es bestimmt nicht – was würde das ändern?«

»Für mich ändert das einiges«, sagte Franzi. Konnte Meike wirklich so nüchtern an das Thema herangehen?

»Es war eine Sektlaune. Mehr nicht.« Meike presste ihre Lippen aufeinander.

Franzi nickte. »Wahrscheinlich.« Ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sie wusste selbst nicht, warum.

»Ich möchte dich nicht noch einmal verlieren. Als Freundin . . .« Meike schluckte. »Und mehr . . . Das kann ich dir nicht bieten.«

»Ich weiß«, flüsterte Franzi.

Wieder suchten Meikes Hände Franzis. Ihre Fingerspitzen berührten Franzis Handrücken.

»Ich sollte mich langsam auf den Heimweg machen«, murmelte Franzi. Ihre Haut brannte unter der Berührung. Sprach Meikes Verhalten dieselbe Sprache wie ihre Worte? Franzi war verwirrt. Lange konnte das nicht gutgehen.

Meike sah auf die Uhr. »Oh, du hast recht. Es ist spät geworden.«

Franzi winkte die Kellnerin herbei und übernahm für sie beide die Rechnung.

Zum Abschied umarmte Franzi Meike, als sie vor dem Café standen. »Ich hole dich Samstag ab. Um sechs. Ich freue mich«, sagte sie, auch wenn sie längst nicht mehr wusste, ob das wirklich eine gute Idee war.

Für einen winzigen Augenblick berührten Meikes Lippen Franzis Wange. »Ich freue mich auch. Komm gut nach Hause.«

»Du auch.« Franzi verschwand in der Dunkelheit.

Meike blieb allein zurück. Sie entschied sich, noch ein paar Schritte spazieren zu gehen. Die frische Luft würde ihr sicherlich guttun und ihr helfen, ihre Gedanken zu ordnen.

Für einen Septemberabend war es ungewöhnlich frisch.

Langsam schlenderte Meike über den Marktplatz. Es waren nicht mehr viele Leute unterwegs. Die meisten Geschäfte waren bereits geschlossen.

Franzis Worte während ihres Berichts über Isabels Tod gingen Meike nicht aus dem Kopf. So eine Wunde heilt niemals ganz.

Franzi musste unheimlich gelitten haben, und so, wie sie heute ausgesehen hatte, als sie von Isabel erzählt hatte, litt sie immer noch. Ob man sich nach so einem Verlust je wieder auf einen anderen Menschen einlassen konnte? Oder ob einen diese nicht verheilte Wunde immer daran hinderte? Konnte in einem Herzen Platz für zwei Menschen sein?

Meike wusste es nicht.

Die Vorstellung, seinen Partner zu verlieren, war schrecklich für Meike. Wenn Thomas etwas passiert wäre, als sie noch ein glückliches Paar gewesen waren . . .

Sie kickte einen kleinen Stein zur Seite. Waren sie denn jemals wirklich glücklich gewesen? War das Liebe gewesen? Oder war es nur eine Scheinwelt, in der sie gelebt hatte, weil es ihr so vorgeschrieben worden war, weil sie nichts anderes kannte? Hatte sie dieses Leben wirklich gewollt?

Meike starrte auf das Kopfsteinpflaster unter ihren Füßen. Was wäre passiert, wenn sie als Schülerin Franzis Kuss erwidert hätte – oder wenn es vielleicht nicht bei einem Kuss geblieben wäre?

Einige Tage hatte sie damals darüber nachgedacht, ob auch sie mehr für Franzi empfinden könnte als reine Freundschaft. Aber diese Gedanken waren ihr absurd erschienen. Sie und eine Frau? Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Ihr Vater hätte sie höchstpersönlich aus der Wohnung geworfen.

Doch seit dem Klassentreffen musste sie ständig an Franzi denken. Es hatte sich gut angefühlt, sie zu küssen. Es hatte sich richtig angefühlt, sie zu berühren. Auch wenn sie eine Frau war. Oder vielleicht gerade deswegen . . . Diese Gefühle verwirrten sie. War es das, was sie tief in ihrem Inneren wollte? Das, wonach sie sich insgeheim sehnte?

Franzi hatte gesagt, dass es gedauert hatte, bis sie sich selbst darüber im Klaren war, lesbisch zu sein. Dass es ein langer Prozess gewesen sei. War es bei Meike vielleicht ähnlich? Brauchte sie nur Zeit, um zu erkennen, dass sie in Wirklichkeit Frauen liebte?

Meike schüttelte den Kopf. Das war doch völliger Blödsinn. Thomas war nur nicht der Richtige gewesen. Aber deswegen gleich ihre Heterosexualität in Frage zu stellen – das ging eindeutig zu weit.

Und trotzdem . . . Sie konnte diese Gefühle, die Franzi in ihr ausgelöst hatte, nicht leugnen. Am Freitagabend nach dem Klassentreffen hatte sie etwas gespürt, das sie nie zuvor empfunden hatte. Auch wenn es nur ein Kuss gewesen war.

Was wäre, wenn sie doch lesbisch wäre? Eine lesbische Lehrerin in einer Kleinstadt . . .

Meike blickte in den sternenklaren Himmel, als könne er ihr die Antwort auf all ihre Fragen verraten.

Zumindest der ein oder andere Kollege hätte damit ganz bestimmt seine Probleme. Aber seinen Kollegen konnte man aus dem Weg gehen. Dem Direktor dagegen . . . Was ihr Schulleiter dazu sagen würde, konnte sich Meike schwer vorstellen. Er unterrichtete Mathematik und evangelische Religion – eine ähnliche Fächerkombination wie ihr Vater. Hatte er auch ähnliche Ansichten wie ihr Vater? Wenn Herr Heyen wollte, könnte er ihr das Leben an der Schule zu Hölle machen.

Sie kannte an ihrer Schule niemanden, der homosexuell war, hatte auch während ihrer Referendariatszeit niemanden kennengelernt. Oder zumindest niemanden, der offen damit lebte.

Und wie würden die Schüler reagieren, wenn sie erführen, dass eine Lehrerin an ihrer Schule lesbisch war? Bei vielen ihrer älteren Schüler hatte Meike durchaus den Eindruck, dass sie tolerant waren, und heutzutage war dank der Medien das Thema Homosexualität zumindest deutlich präsenter als zu ihrer eigenen Schulzeit. Aber auf der anderen Seite konnten Schüler sehr brutal und verletzend sein, wenn sie das wollten. »Schwule Sau« war nach wie vor ein gängiges Schimpfwort auf dem Schulhof, insbesondere bei den Jüngeren. Von Berührungsängsten ganz abgesehen.

Eine Gänsehaut überzog Meikes Körper. Sie beschleunigte ihre Schritte, um möglichst schnell zu ihrem Auto zurückzugelangen. Langsam wurde es zu kalt.

Und was hielten Eltern von einer lesbischen Lehrerin? Würde ihr bei all ihren beruflichen Entscheidungen ihre Sexualität unter die Nase gerieben werden, ganz egal, ob sie relevant war oder nicht? Würden die Eltern ihre Kinder gegen ihre Lehrerin einzunehmen versuchen? Sicherlich ging es in vielen Elternhäusern ähnlich konservativ zu, wie es bei Meike zu Hause der Fall gewesen war. Und Kinder konnten sich häufig gegen die ihnen aufgezwungene Meinung ihrer Eltern nicht wehren, jedenfalls nicht, bevor sie ein gewisses Alter erreicht hatten.

Meike sah sich einem riesigen Berg unbeantworteter Fragen gegenüber. Und sie kannte niemanden, der ihr hätte weiterhelfen können.

Aber war das überhaupt notwendig? Gab es einen Grund, dass sie unbedingt versuchen musste, Antworten zu finden? Sie war ja überhaupt nicht lesbisch. Also stand dieses Thema gar nicht zur Debatte.

Sie hatte ihr Auto erreicht. Es war an der Zeit, nach Hause zu fahren. Sich über all diese Fragen den Kopf zu zerbrechen, war völlig unnötig.

Klassentreffen
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