Er ist der einzige Mensch, mit dem ich dieser Tage spreche. Es ist eine Zeit der Abkapselung und des Haders; aber ich hatte befürchtet, ich würde es schlimmer empfinden. Mein behütetes Leben als Deine Frau und Witwe, als Dame aus dem Faubourg Saint-Germain mit einem Dienstmädchen und einer Köchin, die unter meinem Dach lebten, machte dieses neue Leben auch nicht beschwerlicher. Vielleicht war ich darauf gefasst. Ich fürchte mich nicht vor Unbequemlichkeit, Kälte, Schmutz.

Ich fürchte nur eins – dass ich nicht genügend Zeit haben könnte, um Dir all das zu sagen, was ich Dir offenbaren muss. Nicht genügend Zeit, um Dir alles zu erklären. Aber lass es mich versuchen. Hör zu. Ich liebe Dich, das ist die Wahrheit, doch während Du langsam aus dem Leben schiedst, konnte ich es Dir nicht sagen. Ich konnte weder meiner Liebe noch meinen gehüteten Geheimnissen Ausdruck verleihen. Deine Krankheit hat es verhindert. Über die Jahre hattest Du Dich nach und nach in einen kranken alten Mann verwandelt. Es geschah nicht über Nacht, es war ein allmähliches Fortschreiten. Doch gegen Ende hattest Du keine Geduld mehr. Du wolltest nichts hören. Du warst in einer anderen Welt. Manchmal warst Du bei erstaunlich klarem Verstand, vor allem morgens, dann warst Du wieder der wirkliche Armand, den ich vermisste und nach dem ich mich sehnte. Aber das hielt nie an. Erneut verwirrte sich Dein Geist erbarmungslos, und ich verlor den Kontakt zu Dir.

Das ist jetzt nicht mehr wichtig, Armand. Ich weiß, dass Du mir nun zuhörst. Dass Du die Ohren spitzt.

Gilbert, der neben dem warmen Herd sitzt, unterbricht mich beim Schreiben, um mir von den Zerstörungen in der Nachbarschaft zu berichten. Das prächtige Hotel Belfort in unserer Straße wurde dem Erdboden gleichgemacht. Nichts ist übrig, sagt er. Er hat alles gesehen. Es hat nicht sehr lange gedauert. Ein Trupp Männer mit Spitzhacken. Ich lausche Gilbert vom Grauen gepackt. Madame Paccard ist zu ihrer Schwester nach Sens gezogen. Sie wird nie mehr nach Paris zurückkehren. Sie zog letzten Herbst aus, als uns klar wurde, dass wir keine Chance hätten. Gilbert fährt fort: Die Rue Childebert ist nun leer, alle sind weg. Es ist ein frostiges Geisterland. Ich kann mir unsere belebte kleine Straße gar nicht in so einem Zustand vorstellen. Ich erzähle Gilbert, dass ich dieses Haus zum ersten Mal betrat, als ich bei Madame Collévillé Blumen kaufen wollte. Das war vor nahezu vierzig Jahren, ich war damals neunzehn. Das scheint ihn zu amüsieren. Er will mehr wissen.

Ich erinnere mich, dass es ein Frühlingstag war. Im Mai. Einer dieser frischen goldenen Morgen voller Verheißungen. Mutter wollte auf einmal Maiglöckchen. Sie schickte mich in den Blumenladen in der Rue Childebert, weil ihr die welken weißen Blüten auf dem Markt nicht gefallen hatten.

Von klein auf hielt ich mich immer gern in den engen, schattigen Straßen bei der Kirche auf. Verglichen mit dem lauten Gewühl auf der Place Gozlin, wo ich wohnte, war es dort friedlich und ruhig. Mein Bruder und ich spazierten oft durch dieses Viertel. Hier herrschte weniger Verkehr als bei uns, es fuhren kaum Kutschen. Die Leute stellten sich am Brunnen in der Rue d’Erfurth an und nickten sich höflich zu. Kinder spielten ausgelassen, beaufsichtigt von ihren Gouvernanten. Ladenbesitzer führten auf ihrer Schwelle ausgiebige Gespräche. Hin und wieder sah man einen Priester in seiner schwarzen Soutane mit der Bibel unterm Arm in die nahe Kirche eilen. Im Sommer, wenn das Portal der Kirche offen stand, konnte man in der ganzen Straße Psalmen und Gebete hören.

Als ich den Blumenladen betrat, sah ich, dass ich nicht die einzige Kundin war. Da war noch ein Herr, ein großer kräftiger Mann mit feinen Gesichtszügen und dunklem Haar. Er trug einen blauen Frack und Kniehosen. Auch er kaufte Maiglöckchen. Ich wartete, bis ich bedient wurde. Und da schenkte er mir plötzlich eine knospende Rispe. Ein wenig Scheu sprach aus seinen dunklen Augen.

Meine Wangen glühten. Ja, ich war ein schüchternes Ding. Mit vierzehn oder fünfzehn Jahren fiel mir auf, dass Männer mich auf der Straße ansahen und ihr Blick länger auf mir verweilte, als es sich ziemte. Das machte mich erst verlegen. Am liebsten hätte ich die Arme über der Brust verschränkt und mein Gesicht unter meiner Haube versteckt. Doch dann dämmerte mir, dass das allen Mädchen widerfuhr, wenn sie zur Frau wurden. Ein junger Mann, den ich mit meiner Mutter oft auf dem Markt traf, hatte sich in mich verliebt, ein dicklicher rotgesichtiger Junge, der mir nicht gefiel. Meine Mutter fand das lustig und zog mich immer mit ihm auf. Sie war eine leidenschaftliche Schnatterliese, und ich versteckte mich oft hinter ihrem lauten Mundwerk.

Gilbert schmunzelt, ich glaube, ihm gefällt meine Geschichte. Ich erzähle ihm, wie der große dunkelhaarige Mann mich immer wieder ansah. An jenem Tag trug ich ein elfenbeinfarbenes Kleid mit besticktem Kragen und Keulenärmeln, eine Rüschenhaube und ein Umschlagtuch. Schlicht, aber hübsch. Und ich denke, ich war wirklich recht ansehnlich, sage ich zu Gilbert. Schlanke Taille (die ich mir trotz der Jahre erhalten habe), dichtes honigblondes Haar, rosige Wangen.

Ich wunderte mich, dass der Herr den Laden nicht verließ, sondern noch zögerte. Er wartete, bis ich meine Bestellung aufgegeben hatte, und als ich hinausging, hielt er mir die Tür auf. Er folgte mir hinaus auf die Straße.

»Verzeihung, Mademoiselle«, sagte er leise, »ich hoffe, Sie besuchen dieses Geschäft mal wieder.«

Er hatte eine leise, tiefe Stimme, die mir auf Anhieb gefiel. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich starrte nur auf die Maiglöckchen.

»Ich wohne gleich hier«, fuhr er fort und deutete auf die Fensterreihe über uns. »Dieses Haus gehört meiner Familie.«

Er sagte es mit natürlichem Stolz. Ich blickte an der hellen Steinfassade hinauf, es war ein altes, hohes, quadratisches Gebäude mit Schieferdach an der Ecke Rue Childebert und Rue d’Erfurth, direkt neben dem Brunnen. Es hatte etwas Erhabenes. Ich zählte drei Stockwerke, ein jedes mit vier Fenstern hinter grauen Fensterläden und schmiedeeisernen Geländern, mit Ausnahme der beiden Mansardenfenster im Giebel. Die Haustür war dunkelgrün gestrichen. Über dem Türklopfer in Form einer Frauenhand, die eine kleine Kugel hält, las ich den Namen »Bazelet«. (Damals wusste ich noch nicht, ja, ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass dieser Name und dieses Haus eines Tages mir gehören würden.)

Meine Familie, sagte er. Hatte er eine Frau? Kinder? Ich spürte, wie ich rot wurde. Warum fragte ich mich solche intimen Dinge über diesen Mann? Seine durchdringenden dunklen Pupillen verursachten mir Herzklopfen. Er nahm den Blick nicht von meinem Gesicht. Dort also lebte dieser charmante Herr mit seiner »Familie«. Hinter diesen glatten Steinmauern, hinter dieser grünen Tür. Dann sah ich im ersten Stockwerk eine Frau am offenen Fenster stehen, sie blickte auf uns herunter, während wir auf der Straße standen und unsere Blumen in der Hand hielten. Sie war alt, in Braun gekleidet, ihr Gesicht war abgespannt und faltig, aber ein sympathisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Das ist Maman Odette«, sagte er mit derselben Zufriedenheit. Ich sah ihn zum ersten Mal richtig an. Er war fünf, sechs Jahre älter als ich, vielleicht auch mehr, sein Gesicht und seine Körperhaltung strahlten noch Jugend aus. Er lebte also mit seiner Mutter zusammen. Und er hatte weder eine Frau noch Kinder erwähnt. Ich sah keinen Ehering an seinem Finger.

»Ich heiße Armand Bazelet«, sagte er und verbeugte sich galant. »Sie wohnen sicherlich in der Nachbarschaft, ich habe Sie schon früher gesehen.«

Wieder brachte ich keinen Ton heraus. Ich nickte, meine Wangen rosiger denn je.

»Ich meine, an der Place Gozlin«, fuhr er fort.

Ich schaffte es, zu nicken und zu sagen:

»Ja, ich wohne dort mit meinen Eltern und meinem Bruder.«

Er strahlte.

»Bitte verraten Sie mir Ihren Namen, Mademoiselle.« Er blickte mich flehentlich an. Ich musste fast über seine Miene lachen.

»Ich heiße Rose.«

Sein Gesicht hellte sich auf, er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand im Laden. Kurz darauf stand er mit einer weißen Rose wieder vor mir und reichte sie mir.

»Eine schöne Rose für ein schönes Mädchen.«

Ich halte inne. Gilbert neckt mich. Ich sage ihm, dass meine Mutter zu Hause wissen wollte, wer mir die Blume geschenkt hatte.

»Etwa der liebeskranke Freier vom Markt?«, spöttelte sie.

Ich sagte ganz ruhig, dass es Monsieur Armand Bazelet aus der Rue Childebert gewesen sei.

Sie schürzte die Lippen.

»Die Bazelets? Die Hausbesitzer?«

Ich antwortete nicht. Ich ging in mein Zimmer mit dem Fenster auf die laute Place Gozlin, strich mir mit der Rose über Wangen und Lippen und freute mich an ihren samtigen Blättern und ihrem herrlichen Duft.

So tratst Du in mein Leben, geliebter Armand.