Vaucresson, den 26. April 1857

Meine liebe Schwester,

nun haben wir uns in unserem neuen Heim in Vaucresson niedergelassen. Ich denke, Ihr braucht nur wenige Stunden zu uns, solltet Du und Armand einmal kommen wollen – was ich doch sehr hoffe. Mir ist allerdings klar, dass ein eventueller Besuch von den Kräften Deines Gatten abhängt. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er schon sehr hinfällig. Ich schreibe Dir, liebe Schwester, um Dir zu sagen, wie ungerecht ich Deine Lage finde. In den vergangenen Jahren erlebte ich Dich und Armand immer als überglückliches Paar. Solch ein Glück ist meiner Meinung nach selten. Du erinnerst Dich sicherlich an unsere schlimme Kindheit, die scheinheilige Zuneigung, die unsere Mutter (Gott hab sie selig) uns angedeihen ließ. Auch ich habe mit Edith eine Familie gegründet, auch ich habe Kinder, aber ich denke, mich verbindet mit meiner Frau nicht so Tiefes und Bedeutendes wie Dich mit Deinem Mann. Ja, das Leben war grausam zu Euch, und ich bringe es noch immer nicht über mich, den Namen meines Neffen niederzuschreiben. Doch trotz der Schläge, die das Schicksal Euch zufügte, schienen Du und Armand immer über der Situation gestanden zu haben, und das bewundere ich immens.

Ich glaube, unser neues Haus würde Dir gefallen, Rose. Es steht auf einem Hügel und hat einen großen grünen Garten, an dem sich die Kinder erfreuen. Es ist ein großes, sonniges Haus voller Charme, fern dem Lärm und Staub der Stadt und fern den Straßenarbeiten des Präfekten. Ich denke manchmal, Armand wäre an einem Ort wie diesem glücklicher als in der düsteren Rue Childebert. Er könnte den süßen Duft des Heus und in den nahen Wäldern das Vogelgezwitscher genießen, aber ich weiß natürlich auch, wie sehr Ihr beide Euer Viertel liebt. Seltsam, nicht wahr? Schon während wir zusammen an der Place Gozlin aufwuchsen, hegte ich immer den Wunsch, eines Tages von dort wegzugehen. Auch während Edith und ich lange Jahre in der dem Untergang geweihten Rue Poupée wohnten, wusste ich immer, dass ich nicht bis zum Ende meiner Tage in der Stadt bleiben würde. Als wir den Brief von der Präfektur bekamen mit der Nachricht, dass unser Haus abgerissen werden sollte, war mir klar, dass dies die Wende war, auf die ich immer gewartet hatte.

Ich weiß, dass Du glaubst, die Rue Childebert wäre sicher, Rose, weil sie so nah bei der Kirche Saint-Germain-des-Prés liegt. Ich weiß auch, dass Armands Elternhaus ihm viel bedeutet. Aber hältst Du es nicht auch für unklug, einem Haus eine solche Bedeutung beizumessen? Es wäre das allerschlimmste Verhängnis, wenn Armand in seinem Zustand sein Haus verlieren würde. Meinst Du nicht, es wäre vernünftiger, aus der Stadt wegzuziehen? Ich könnte Euch helfen, ein schönes Haus hier in unserer Nähe in Vaucresson zu finden. Ich denke, Ihr würdet die Ruhe und den Frieden in diesem kleinen Dorf schätzen. Du bist noch keine fünfzig, Ihr habt noch immer Zeit, Euch zu verändern und neu anzufangen, und Du weißt, dass Edith und ich Euch dabei helfen würden. Violette ist glücklich verheiratet, sie lebt in Tours und zieht dort ihre Kinder groß, sie braucht ihre Eltern nicht mehr. Nichts hält Euch in Paris.

Rose, ich flehe Dich an, denk darüber nach. Denk an die Gesundheit Deines Mannes und an Dein eigenes Wohlergehen.

Dein Dich liebender Bruder

Émile