Seinen vollen Namen habe ich nie erfahren. Man nannte ihn nur Monsieur Vincent, und ich bin nicht sicher, ob es sein Vorname oder Nachname war. Du erinnerst Dich bestimmt nicht an ihn. Für Dich war er ohne Bedeutung. Als es passierte, war ich dreißig Jahre alt. Maman Odette hatte uns drei Jahre zuvor verlassen, Violette war fast acht.

Zum ersten Mal sah ich ihn am Brunnen, es war morgens, ich ging mit unserer Tochter spazieren. Mir fiel er nur auf, weil er mich anstarrte. Er saß mit ein paar anderen Männern, die ich nicht kannte, am Brunnen, ein untersetzter, sommersprossiger Typ mit hellem Haar und kantigem Kinn. Jünger als ich. Mir wurde schnell klar, dass er gern Frauen betrachtete. Er hatte etwas Vulgäres – vielleicht lag es an seiner Kleidung oder an seinem Benehmen.

Ich mochte ihn von Anfang an nicht. Sein Blick verriet, dass man ihm nicht trauen konnte, ein falsches Lächeln zog sich über sein Gesicht. »Oh, der ist ein Charmeur«, flüsterte mir Madame Chanteloup über Deine gestärkten Hemden hinweg zu. »Wer?«, fragte ich, nur um sicherzugehen. »Der junge Bursche, dieser Monsieur Vincent. Er arbeitet bei Monsieur Jubert.« Immer wenn ich das Haus verließ, um auf den Markt zu gehen, meine Tochter zur Klavierstunde zu bringen oder Maman Odettes Grab zu besuchen, war er da, er stand in der Tür der Druckerei, als hätte er gewartet. Ich war mir sicher, dass er sich nach mir umsah. Er hatte so eine lüsterne Art, die mich anwiderte. Ich fühlte mich immer unwohl, wenn er in der Nähe war. Seine funkelnden Augen bohrten sich in meine.

Was wollte dieser junge Mann? Warum passte er mich jeden Morgen ab, nur um ein paar Worte mit mir zu wechseln? Was erwartete er? Zuerst verstörte er mich so sehr, dass ich ihm aus dem Weg ging. Wenn ich auch nur seinen Schatten vor dem Haus sah, lief ich mit gesenktem Kopf schnell weiter, als hätte ich etwas Dringendes zu erledigen. Ich kann mich sogar erinnern, dass ich Dir sagte, wie sehr mich dieser Kerl irritierte, wenn er versuchte, mit mir ins Gespräch zu kommen. Du lachtest. Du fandest es sogar schmeichelhaft, dass dieser Junge hinter Deiner Frau her war: Das bedeutet doch, meine Rose ist noch immer hübsch, meine Rose ist noch immer anmutig, hast Du gesagt und mich liebevoll auf den Scheitel geküsst. Ich fand das gar nicht lustig. Hättest Du denn nicht ein wenig Besitz ergreifender sein können? Ein wenig Eifersucht hätte mich wahrlich gefreut. Monsieur Vincent änderte sein Verhalten, als er merkte, dass ich nicht mit ihm reden wollte. Er gab sich äußerst höflich, fast ehrerbietig. Er eilte an meine Seite, um mir mit den Einkäufen oder mit irgendwelchen Paketen zu helfen, oder reichte mir die Hand, wenn ich zufällig aus einer Droschke stieg. Er war wirklich sehr liebenswürdig.

Nach und nach schwand mein Misstrauen. Sein Charme wirkte langsam, aber sicher. Ich gewöhnte mich an seine Herzlichkeit, an seine Grüße. Und ich begann, darauf zu warten. Ach, Liebster, wie eitel wir Frauen doch sind! Wie dumm! Und so sonnte ich mich lächerlicherweise in der ständigen Aufmerksamkeit dieses jungen Mannes. Wenn ich ihn mal einen Tag lang nicht sah, fragte ich mich, wo er war. Und wenn ich ihn erblickte, stieg mir die Röte ins Gesicht. Ja, er verstand sich auf Frauen. Und ich hätte es besser wissen müssen.

Als es geschah, warst Du nicht im Haus. Das wusste er wohl. Du warst mit unserem Notar unterwegs, um außerhalb der Stadt ein Anwesen zu besichtigen, und würdest erst am folgenden Tag zurückkommen. Germaine und Mariette standen noch nicht in unseren Diensten. Tagsüber half mir ein Mädchen im Haushalt, abends war ich mit Violette allein.

An jenem Abend klopfte er, als ich gerade mein einsames Abendessen beendet hatte. Während ich mir mit der Serviette die Lippen abtupfte, blickte ich aus dem Fenster auf die Rue Childebert und sah ihn mit dem Hut in der Hand vor dem Haus stehen. Ich wich vom Fenster zurück. Was wollte denn der? Ich ging nicht hinunter, um ihm zu öffnen, so charmant er in letzter Zeit auch gewesen sein mochte. Schließlich ging er wieder, und ich dachte, ich sei sicher. Doch ungefähr eine Stunde später, es war schon dunkel, vernahm ich wieder ein Klopfen. Ich wollte gerade zu Bett gehen. Ich trug mein blaues Nachtkleid und meinen Morgenmantel. Unsere Tochter schlief oben in ihrem Zimmer. Das Haus war still und dunkel. Ich ging hinunter. Die Tür öffnete ich nicht, ich fragte nur, wer da sei.

»Ich bin’s – Monsieur Vincent. Ich wollte nur mit Ihnen reden, Madame Rose, nur eine Minute. Bitte machen Sie auf.«

Seine Stimme klang nett und freundlich, wie immer, wenn er in den letzten Wochen mit mir gesprochen hatte. Er bezirzte mich. Ich öffnete die Tür.

Er schlüpfte ein wenig zu schnell herein. Sein Atem roch stark nach Alkohol. Er sah mich an wie ein Tier seine Beute. Dieses Glitzern in seinen Augen! Die nackte Angst fuhr mir in die Glieder. Und da wusste ich, dass es ein schrecklicher Fehler gewesen war, ihn hereinzulassen. Mit höflicher Konversation verschwendete er keine Zeit – mit einer widerwärtigen, begierigen Bewegung langten seine sommersprossigen Hände nach mir, seine Finger gruben sich brutal in meine Arme, sein Atem schlug mir heiß ins Gesicht. Ich schaffte es, mich mit einem Aufstöhnen von ihm loszumachen und die Treppe hinaufzulaufen, ein stummer Schrei zerriss meine Kehle. Aber er war schneller. Er packte mich am Nacken, als ich in den Salon eilen wollte, und wir fielen auf den Teppich, seine verhassten Hände auf meiner Brust, sein feuchter, glitschiger Mund auf meinen Lippen.

Ich wollte ihn zur Vernunft bringen, ich versuchte ihm klarzumachen, dass das ganz einfach unmöglich war, ich sagte ihm, meine Tochter würde oben schlafen und Du würdest bald zurückkommen, er könne das nicht tun. Er sollte das nicht tun.

Es war ihm gleichgültig. Er hörte gar nicht zu. Er überwältigte mich. Er drückte mich auf den Boden. Ich hatte Angst, meine Knochen würden unter seinem Gewicht brechen. Ich will, dass Du weißt, dass ich nichts gegen ihn ausrichten konnte. Rein gar nichts. Ich wehrte mich. Ich kämpfte so hart, wie ich konnte. Ich zog ihn an seinen fettigen Haaren, ich wand mich und trat, ich biss und spuckte. Doch wegen Violette verkniff ich es mir, zu schreien. Der Gedanke, dass sie heruntergekommen wäre und alles gesehen hätte, war mir unerträglich. Vor allen Dingen wollte ich sie schützen.

Als ich merkte, dass mein Kampf vergeblich war, blieb ich reglos liegen wie ein Stein, wie eine Statue. Ich weinte, ich weinte die ganze Zeit, Liebster. Er hatte erreicht, was er wollte. Ich träumte mich im Geiste von diesem schrecklichen Moment weg. Ich erinnere mich, dass ich an die Decke und ihre dünnen Risse starrte und darauf wartete, dass diese Marter vorüberging. Ich roch den stockigen Geruch des Teppichs und seinen widerlichen Gestank, den Gestank eines Fremden, eines Fremden in meinem Haus, eines Fremden in meinem Körper. Es ging ganz schnell, es dauerte nur ein paar Minuten, aber für mich war es eine Ewigkeit. Dieser schauderhafte geile Blick, sein Mund weit aufgerissen und verzerrt. Nie werde ich dieses abscheuliche Grinsen vergessen, seine schimmernden Zähne, seine heraushängende Zunge.

Ohne ein Wort ging er, er belächelte mich spöttisch, wie ich da lag, starr wie eine Leiche. Mir kam es so vor, als läge ich dort stundenlang. Dann rappelte ich mich auf und ging in unser Schlafzimmer. Ich holte Wasser und wusch mich. Das Wasser war kalt, ich zuckte zusammen. Meine Haut war rot und aufgeschürft. Mir tat alles weh. Ich wollte mich nur noch in eine Ecke kauern und schreien. Ich dachte, ich würde verrückt werden. Ich fühlte mich schmutzig, verseucht.

Das Haus war nicht sicher. In dieses Haus war jemand eingedrungen. Das Haus war heimgesucht worden. Ich konnte fast spüren, wie die Wände bebten. Es hatte nur fünf Minuten gedauert, aber die Tat war vollbracht, der Schaden angerichtet.

In jener Nacht schlief ich nicht. Seine funkelnden Augen, seine gierigen Hände. Damals hatte ich zum ersten Mal diesen Albtraum. Ich ging zu meiner Tochter hinauf. Sie schlief tief und traumverloren. Ich lag neben ihr und lauschte ihrem regelmäßigen Atem. Ich schwor mir, nie einer Menschenseele etwas davon zu erzählen. Nicht einmal Père Levasque bei der Beichte. Nicht einmal in meinen innersten Gebeten konnte ich es erwähnen.

Wem hätte ich es denn auch erzählen sollen? Meine Mutter war mir nicht vertraut genug. Eine Schwester hatte ich nicht. Meine Tochter war noch viel zu jung. Und mit Dir konnte ich auch nicht darüber sprechen. Was hättest Du wohl getan? Wie hättest Du reagiert? Im Geiste spielte ich die Szene wieder und wieder durch. Hatte ich ihn nicht ermutigt? Hatte ich nicht unbewusst mit ihm geflirtet? War es denn nicht mein Fehler gewesen? Wie hatte ich auch im Nachthemd die Tür öffnen können! Ich hatte mich unziemlich verhalten. Wie hatte ich mich von seiner Stimme vor der Tür nur so übertölpeln lassen können!

Aber hätte dieser abscheuliche Vorfall Dich nicht tief getroffen, wenn ich Dir davon erzählt hätte? Hättest Du nicht gedacht, ich hätte eine Affäre und wäre seine Geliebte? Ich hätte diese Scham nicht ertragen. Ich konnte es nicht ertragen, mir Deinen Gesichtsausdruck vorzustellen. Ich hätte niemals den Klatsch, das Gerede, das Gewisper ertragen, wenn ich durch die Rue Childebert und die Rue d’Erfurth gegangen wäre, alle Augen auf mich gerichtet, mit wissendem Lächeln, Geflüster, Ellbogenstößen in die Seite des Nachbarn.

Niemand würde es erfahren, niemand würde je davon wissen.

Am nächsten Morgen stand er rauchend vor der Druckerei. Ich fürchtete, ich hätte nicht die Kraft, das Haus zu verlassen. Eine Weile blieb ich auf der Schwelle stehen und tat so, als würde ich meine Schlüssel in der Tasche suchen. Dann wagte ich tatsächlich ein paar Schritte über das Pflaster. Ich blickte auf. Er sah mich an. Über seine Wange zog sich ein langer Kratzer. Prahlerisch stand er da und blickte mir ungeniert ins Gesicht. Mit der Zunge fuhr er sich lasziv über die Unterlippe. Ich wandte mit rotem Gesicht den Blick ab.

Wie ich ihn in jenem Moment hasste! Am liebsten hätte ich ihm die Augen ausgekratzt. Wie viele Männer, Männer seiner Sorte, die Frauen vergewaltigen, gab es in unseren Straßen? Wie viele Frauen ertragen es schweigend, weil sie sich schuldig fühlen, weil sie Angst haben? Männer wie er machen das Schweigen zu ihrem Gesetz. Er wusste, dass ich ihn nie verraten würde. Er wusste, dass ich es Dir niemals erzählen würde. Und er hatte recht.

Wo er nun auch sein mag, so viele Jahre später – ich habe ihn nicht vergessen. Dreißig Jahre sind vergangen, und obwohl ich ihn nie wieder sah, würde ich ihn sofort wiedererkennen. Ich frage mich, was aus ihm geworden ist. Zu was für einem alten Mann er sich entwickelt hat. Ob er wohl jemals ahnte, welche Verheerungen er in meinem Leben angerichtet hat?

Als Du am nächsten Tag zurückkamst – erinnerst Du Dich, wie ich Dir in die Arme fiel, wie ich Dich abküsste? Dass ich mich an Dich klammerte wie eine Ertrinkende? In jener Nacht hast Du mich genommen; ich hatte das Gefühl, dies war die einzige Möglichkeit, das Eindringen des anderen Mannes ungeschehen zu machen.

Kurz darauf verschwand Monsieur Vincent aus unserem Viertel. Seitdem habe ich keine Nacht mehr gut geschlafen.