1849. Baptiste war zehn Jahre alt. Es war das Jahr, in dem der Präfekt und der Kaiser sich zum ersten Mal begegneten. Das Jahr nach den Barrikadenkämpfen und der Februarrevolution. Das ist nun fast zwanzig Jahre her, doch mein Herz blutet noch immer, während ich dies niederschreibe. Baptiste war wie ein kleiner Kobold immer in Bewegung, wendig und schnell wie der Blitz. Sein Lachen hallte durchs Haus. Weißt Du, manchmal kann ich es noch immer hören.

Schon früh kursierten Gerüchte über diese Krankheit. Ich hörte sie zuerst auf dem Markt. Den letzten Ausbruch hatte es kurz nach Violettes Geburt gegeben. Allein in Paris waren Tausende Menschen gestorben. Man musste sehr vorsichtig sein mit dem Trinkwasser. Baptiste spielte gern am Brunnen in der Rue d’Erfurth. Ich konnte ihn vom Fenster aus sehen, die Kinderfrau passte auf ihn auf. Ich hatte ihn zur Vorsicht ermahnt, Du auch, aber er hatte seinen eigenen Kopf.

Alles ging ganz schnell. Die Zeitungen waren bereits voller Todesmeldungen, die Opferzahlen stiegen Tag für Tag. Das scheußliche Wort brachte Angst und Schrecken über unser Zuhause: Cholera. Eine Frau aus der Rue de l’Echaudé war ihr erlegen. Jeden Morgen wurde ein weiterer Todesfall gemeldet. Die Angst hielt unsere Straße gefangen.

Und eines Morgens in der Küche brach Baptiste zusammen. Mit einem Schmerzensschrei fiel er auf den Boden, er heulte auf, sagte, er hätte einen Krampf im Bein. Ich eilte zu ihm. Doch sein Bein schien in Ordnung zu sein. Ich tröstete ihn, so gut es ging. Seine Stirn war heiß und feucht. Er begann zu weinen, er krümmte sich vor Schmerz. Ich hörte ein schreckliches Gurgeln in seinem Bauch. Ich sagte mir, das darf nicht sein, nein, nicht mein Sohn, mein über alles geliebter Sohn. Alles, nur das nicht! Ich erinnere mich, dass ich nach Dir rief, Deinen Namen die Treppe hinaufschrie.

Wir trugen Baptiste in sein Zimmer und holten den Arzt. Aber es war zu spät. Ich konnte Dir ansehen, dass Du es wusstest, aber Du sagtest mir nichts. In nur wenigen Stunden waren alle Säfte aus seinem glühenden, sich windenden Leib entwichen, sie sickerten, quollen aus ihm heraus. Und ich konnte, vom Grauen gepackt, nur zusehen.

»Tun Sie doch etwas!«, flehte ich den Arzt an. »Sie müssen meinen Sohn retten!«

Den ganzen Tag umwickelte der junge Doktor Nonant die Lenden meines Sohnes mit vielen Lagen von sauberen Tüchern und träufelte ihm frisches Wasser in den Mund, aber es half nichts. Baptistes Hände und Füße sahen aus wie mit schwarzer Farbe getränkt. Sein rosiges kleines Gesicht war nun trocken und wächsern und hatte eine erschreckende Blaufärbung angenommen. Die runden Wangen waren eingefallen und verliehen ihm die verstörende Fratze einer verschrumpelten Kreatur, die ich nicht mehr wiedererkannte. Seine hohlen Augen hatten keine Tränen mehr. Die Laken tränkten sich mit allem, was er ausschied – schmutzige Rinnsale, die in einem nicht enden wollenden stinkenden Strom aus seinem Körper flossen.

»Wir müssen für ihn beten«, sagte Père Levasque leise. Du hattest ihn für diese letzten, fürchterlichen Minuten geholt, als wir schließlich begriffen, dass es keine Hoffnung mehr gab. Kerzen wurden angezündet, fieberhaftes Gebetsgemurmel erfüllte den Raum.

Wenn ich mir dieses Zimmer nun ansehe, erinnere ich mich an das: den Gestank, die Kerzen, die vielen Gebete und Germaines leises Weinen. Du saßt sehr still und sehr gerade neben mir, manchmal nahmst Du meine Hand und drücktest sie. Ich war so benommen vor Trauer, dass ich nicht verstand, wie Du so ruhig bleiben konntest. Und ich erinnere mich, dass ich dachte: Sind Männer im Angesicht des Kindstodes stärker als Frauen, weil sie keine Kinder gebären, weil sie nicht wissen, was es heißt, ein Leben auszutragen und ein Kind auf die Welt zu bringen? Sind Mütter mit ihren Sprösslingen durch ein geheimes, besonderes und körperliches Band verbunden, das Väter nicht spüren können?

In jener Nacht in diesem Haus sah ich meinen Sohn sterben, und ich hatte das Gefühl, mein Leben glitte in sinnlose Leere ab.

Im Jahr darauf heiratete Violette ihren Verlobten Laurent Pesquet und zog nach Tours. Doch seit dem Tod meines Kleinen berührte mich nichts mehr.

Ich beobachtete wie aus weiter Ferne, wie sich mein Leben weiterentwickelte. Ich vegetierte in einer Art stumpfer Trance dahin. Ich erinnere mich, das Du mit Doktor Nonant über mich sprachst. Er kam mich besuchen. Mit einundvierzig Jahren war ich zu alt, um noch ein Kind zu bekommen. Und kein anderes Kind könnte mir Baptiste je ersetzen.

Aber ich wusste, warum Gott mein Kind zu sich geholt hatte. Ich zittere, während ich das schreibe – aber nicht mehr vor Kälte.

Vergib mir.