So kam es mit der Zeit, dass ich die Morgen in der Buchhandlung und die Nachmittage bei Alexandrine verbrachte. Ich las eifrig ein paar Stunden, dann ging ich hinauf zu einem schnellen Mittagessen, das Mariette zubereitete und Germaine mir auftrug, und danach lief ich hinunter in den Blumenladen. Mir ist nun klar, dass Bücher und Blumen damals zu meinem Lebensinhalt wurden – es war meine heimliche Strategie, um nach Deinem Tod weiterzuleben.

Ich konnte es gar nicht erwarten, wieder zu Charles, Emma, Léon und Rodolphe zurückzukehren. Das Buch lag für mich auf dem Tischchen neben dem Sessel bereit, und ich eilte zu ihm. Es fällt mir nicht leicht, zu erklären, was ich bei dieser Lektüre empfand, aber ich will es versuchen. Du als passionierter Leser wirst das sicherlich verstehen. Auf einmal fand ich mich an einem Ort wieder, wo mich niemand stören, niemand erreichen konnte. Ich war unempfindlich für all die Geräusche um mich herum, für Monsieur Zamarettis Stimme, die Stimmen der Kunden, der Passanten. Selbst wenn das behinderte Mädchen zum Spielen kam und mit ihrem heulenden Lachen den Ball auf dem Boden umherrollte, hatte ich nur Augen für die Wörter im Buch. Die Sätze wurden zu Bildern, die mich magisch anzogen, die Bilder gingen mir durch den Sinn. Emma mit ihrem schwarzen Haar und den schwarzen Augen, so schwarz, dass sie manchmal bläulich schimmerten. Die genauen Einzelheiten ihres Lebens gaben mir das Gefühl, neben ihr zu stehen und diese Momente mit ihr zu erleben. Ihr erster Ball auf Schloss Vaubyessard, ihr erster, schwindelnder Walzer mit dem Vicomte. Das langweilige Leben auf dem Land. Ihre wachsende Unzufriedenheit. Ihre heimlichen Träume, die so lebhaft geschildert werden. Rodolphe. Der Ausritt in den Wald. Ihre Hingabe. Die heimlichen Treffen auf Gut Huchette. Dann die Affäre mit Léon im verblichenen Glanz eines Hafenhotels. Und das tragische Ende, das mir den Atem raubte – wie sie Blut erbrach, ihr Schmerz, Charles’ Trauer.

Warum hatte ich so lange gewartet, bis ich die Freuden der Lektüre entdeckte? Ich erinnere mich, wie konzentriert Du immer an Winterabenden warst, wenn Du am Kamin last. Ich nähte, flickte oder schrieb Briefe. Manchmal spielte ich eine Partie Domino. Du saßt fest auf Deinem Platz mit einem Buch in der Hand, Deine Augen flogen von Seite zu Seite. Ich erinnere mich, dass ich oft dachte, Lesen sei Dein bevorzugter Zeitvertreib, den ich jedoch nicht mit Dir teilte. Es störte mich nicht. Ich hingegen beschäftigte mich am liebsten mit Mode und Kleidern, und das teiltest Du ja auch nicht mit mir. Während ich den Schnitt eines Kleides oder die Farbnuance eines Stoffes bewunderte, schwelgtest Du in Platon, Honoré de Balzac, Alexandre Dumas und Eugène Sue. Ach, Liebster, wie nah Du mir warst, als ich Madame Bovary verschlang. Ich verstand nicht, warum es darum so ein Theater gegeben hatte und es zum Prozess gekommen war. Flaubert hatte es schließlich geschafft, sich genauestens in Emmas Seelenleben hineinzuversetzen und dem Leser ihre Gefühle zu vermitteln – die Langeweile, den Schmerz, den Kummer, das Glück, das sie empfand.

Eines Morgens nahm mich Alexandrine in aller Frühe mit auf den Blumenmarkt auf der Place Saint-Sulpice. Ich hatte Germaine gebeten, mich um drei Uhr zu wecken. Das hatte sie auch getan, das Gesicht verquollen vom Schlaf, während ich ganz kribblig war vor Aufregung und keinerlei Müdigkeit verspürte. Endlich sollte ich herausfinden, wie Alexandrine ihre Blumen aussuchte. Sie ging immer dienstags und freitags mit Blaise auf den Markt. Nun liefen wir drei also durch die dunkle, stille Rue Childebert. Außer ein paar Lumpensammlern mit Haken und Laternen war die Straße menschenleer. Als sie uns sahen, schlurften sie davon. Ich glaube, ich habe meine Stadt noch nie zu so früher Stunde gesehen. Du etwa?

Wir gingen die Rue des Ciseaux hinunter zur Rue des Canettes, wo die ersten Karren und Fuhrwerke auf dem Weg zum Platz vor der Kirche zu sehen waren. Alexandrine hatte mir kürzlich gesagt, dass der Präfekt bei der Saint-Eustache-Kirche einen neuen Großmarkt bauen lässt, eine riesige Anlage mit Pavillons aus Gusseisen und Glas, zweifellos eine monströse Angelegenheit, die dieses oder nächstes Jahr fertig werden soll, aber Du kannst Dir vorstellen, dass ich mir kein Herz fassen konnte, dort hinzugehen. Auch die Bauarbeiten für diese grandiose neue Oper wollte ich nicht sehen. Alexandrine holt ihre Blumen nun also auf diesem gigantischen neuen Markt. Aber an jenem Morgen, von dem ich Dir erzählen will, Liebster, gingen wir zur Place Saint-Sulpice. Es war ein kühler Frühlingsmorgen, ich zog meinen Mantel fest um mich und wünschte, ich hätte meinen rosafarbenen Wollschal mitgenommen. Blaise zog einen Leiterwagen hinter sich her, der fast so groß war wie er selbst.

Als wir uns dem Platz näherten, hörte ich Stimmengewirr und das Holpern der Räder auf dem Kopfsteinpflaster. Die Gaslampen über den Markisen hüllten die einzelnen Stände in helles Licht. Der vertraute süße Blumenduft hieß mich willkommen wie die Umarmung einer Freundin. Wir folgten Alexandrine durch ein buntes Labyrinth aus Blumen. Im Vorbeigehen zählte sie mir all ihre Namen auf: Nelken, Schneeglöckchen, Tulpen, Veilchen, Kamelien, Vergissmeinnicht, Flieder, Narzissen, Anemonen, Ranunkeln … Es kam mir so vor, als würde sie mich ihren besten Freunden vorstellen. »Für Päonien ist es noch zu früh im Jahr«, erklärte sie, »doch wenn es erst welche gibt, werden Sie sehen, dass sie fast so beliebt sind wie Rosen.«

Alexandrine schlängelte sich flott und sachkundig zwischen den Auslagen hindurch. Sie wusste genau, was sie wollte. Die Verkäufer grüßten sie beim Vornamen, einige Männer flirteten sogar unverhohlen mit ihr, aber sie ging nicht darauf ein. Sie lächelte nur selten. Angesichts eines Straußes kleiner kugelförmiger weißer Rosen, die ich hübsch fand, rümpfte sie die Nase. Als sie merkte, dass ich darüber verwundert war, wies sie mich darauf hin, dass die Blumen nicht frisch genug waren.

»Weiße Noisetterosen Aimée Vibert müssen ganz frisch sein«, flüsterte sie mir zu. »Sie müssen aussehen wie feinste weiße Seide und an den Rändern einen Hauch rosa gefärbt sein. Wir nehmen sie für Hochzeitssträuße. Diese hier werden sich nicht halten.«

Woran sah sie das?, fragte ich mich. Hatte es etwas mit der Farbe des Stiels zu tun und wie die Blütenblätter sich entfalteten? Mir schwindelte ein wenig, aber ich war ganz beschwingt, wenn ich ihr dabei zusah, wie sie mit sicherer, geschickter Hand Blätter und Blüten betastete und manchmal an einer Blume roch oder mit den Blütenblättern über ihre Wange strich. Sie verhandelte hart mit den Marktleuten. Ihre Standhaftigkeit verblüffte mich. Nicht ein einziges Mal gab sie nach, nicht ein Mal lenkte sie ein. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt und hatte doch die viel älteren, hartgesottenen Händler im Griff.

Ich fragte, woher diese vielen Blumen kämen.

»Aus dem Midi«, sagte Blaise, »aus dem Süden, aus der Sonne.«

Ich stellte mir vor, wie sich tagtäglich ein Strom von Blumen in die Stadt ergoss. Und was geschah mit ihnen, sobald sie verkauft waren?

»Bälle, Kirchen, Hochzeiten, Friedhöfe«, sagte Alexandrine, während Blaise fleißig die frisch erstandenen Blumen im Leiterwagen verstaute. »Paris giert immer nach Blumen, Madame Rose. Die Stadt braucht jeden Tag ihr Quantum. Blumen für die Liebe, Blumen gegen Sorgen, Blumen zur Freude, Blumen zur Erinnerung, Blumen für Freunde.«

Ich fragte sie, warum sie diesen Beruf ergriffen hätte. Sie lächelte und tätschelte die Haartolle, die sie auf dem Scheitel aufgesteckt hatte.

»In der Nähe unseres Hauses in Montrouge war ein großer Park. Sehr schön, mit einem Springbrunnen und einer Statue. Ich spielte dort immer morgens, und die Gärtner brachten mir alles über Blumen bei. Es war faszinierend. Ich sah ihnen zu und lernte von ihnen. Mir wurde schnell klar, dass Blumen irgendwann Teil meines Lebens sein würden.« Und leise fügte sie hinzu, so dass nur ich es hören konnte: »Blumen haben ihre eigene Sprache, Madame Rose. Man kann mit ihnen sehr viel mehr ausdrücken als mit Worten.« Und prompt steckte sie mir eine rosa Rosenknospe ins Knopfloch meines Mantels.

Ich stellte sie mir als Kind vor, wie sie, ein großes, dünnes Mädchen mit widerspenstigen Locken, die zu zwei Zöpfen geflochten waren, durch den grünen Park von Montrouge streifte, wo es nach Reseda und Rosen duftete, wie sie sich über Knospen beugte und mit ihren langen, empfindsamen Händen Blüten, Dornen, Blumenzwiebeln und Blätter untersuchte. Sie hatte mir gesagt, dass sie ein Einzelkind war und keine Geschwister hatte. Ich konnte verstehen, dass Blumen ihre besten Freunde wurden.

Inzwischen lugte die Sonne scheu über die beiden Türme der Saint-Sulpice-Kirche. Die letzten Gaslampen wurden ausgeschaltet. Ich hatte das Gefühl, schon Ewigkeiten auf den Beinen zu sein. Es war Zeit, wieder in die Rue Childebert zurückzukehren. Blaise zog den schweren Karren, und gleich nachdem wir im Laden angekommen waren, wurden die Blumen geschickt in Vasen ins Wasser gestellt.

Bald würde die Türglocke läuten, und Alexandrines Blumen würden ihren magischen, duftenden Weg durch die Stadt antreten. Dennoch ist und bleibt mir mein Blumenmädchen ein Rätsel. Trotz all der Jahre, trotz unserer langen Gespräche und Spaziergänge durch den Jardin du Luxembourg wusste ich sehr wenig von ihr. Gab es einen jungen Mann in ihrem Leben? Ist sie die Geliebte eines verheirateten Mannes? Ich habe keinen Schimmer. Alexandrine ist wie dieser faszinierende Kaktus, den Maman Odette besaß: trügerisch weich und erschreckend stachlig.