Meine Bücher habe ich hier unten bei mir. Schöne, aufwändig gebundene Exemplare in verschiedenen Farben. Ich möchte mich niemals von ihnen trennen. Madame Bovary natürlich, das mir die Tür zur berauschenden Welt der Literatur öffnete. Baudelaires Die Blumen des Bösen; von Zeit zu Zeit lese ich darin, während die Stunden verstreichen. Das Faszinierende an Gedichten im Unterschied zu Romanen ist, dass man einfach ein paar Verse lesen, sie wieder weglegen und später weiterlesen kann, sie sind wie ein Topf Süßigkeiten, aus dem man immer wieder nascht. Die Gedichte von Monsieur Baudelaire sind eigenartig und tief bewegend. Voller Bilder, Geräusche und Farben, die mich manchmal verstören.

Hätten sie Dir gefallen? Ich nehme es an. Sie sprechen Gefühle und Sinne an. Mein Lieblingsgedicht ist »Das Flakon«. Es geht darin um Düfte, die Erinnerungen heraufbeschwören, und wie ein Geruch einen in die Vergangenheit zurückversetzen kann. Ich weiß, dass Rosenduft mich immer an Alexandrine und die Baronne erinnern wird. Kölnisch Wasser und Talk, das bist Du, Liebster. Heiße Milch und Honig ist Baptiste. Eisenkraut und Lavendel Maman Odette. Wärst Du noch hier, hätte ich Dir dieses Gedicht ganz sicher vorgelesen, wieder und wieder.

Manchmal kann die Lektüre eines Buches auch zu einem anderen Buch führen. Hast Du das auch erlebt? Bestimmt. Ich fand das schnell heraus. Ich durfte alle Regale in Monsieur Zamarettis Buchhandlung durchgehen. Ich stieg sogar auf die Leiter, damit ich auch die oberen Regale erreichen konnte. Du siehst, Armand, in mir war eine neue Begierde entfacht, und ich kann Dir versichern, dass ich an manchen Tagen richtig heißhungrig war. Mich überkam das Bedürfnis zu lesen, ein beglückender, anregender Drang. Je mehr ich las, desto hungriger wurde ich. Jedes Buch war eine Verheißung, jede Seite versprach ein Abenteuer, die Verlockungen einer anderen Welt, eines anderen Schicksals, eines anderen Traums. Und jetzt wirst Du wohl fragen, was ich denn so las.

Durch Charles Baudelaire kam ich an einen, ich glaube amerikanischen, Autor namens Edgar Allen Poe. Immerhin hatte Baudelaire selbst dessen Kurzgeschichten übersetzt. Das verlieh der Lektüre einen zusätzlichen unwiderstehlichen Reiz. Als mein Lieblingsdichter letztes Jahr starb, las ich, dass er auf unserem Friedhof, auf dem Cimetière Montparnasse, beigesetzt wurde. Ja, Charles Baudelaire fand nur ein paar Reihen von Dir, Baptiste und Maman Odette entfernt ewige Ruhe. In letzter Zeit war ich zu müde, aber als ich das letzte Mal bei Euch war, besuchte ich auch sein Grab. Ein Brief war dort niedergelegt, es hatte darauf geregnet, und die Tinte war auf dem Papier verlaufen, so dass es aussah wie eine große schwarze Blume.

In Edgar Allen Poes Erzählungen begegnete ich den selben unheimlichen, eindrucksvollen Themen, die mich im Innersten ansprechen. Mir war völlig klar, warum Charles Baudelaire sein Werk übersetzen wollte. Sie haben dieselbe Denk- und Sichtweise. Ja, man kann einwenden, dass sie makaber waren, äußerst mysteriös und voll ausufernder Fantasie. Verblüffen Dich die wunderlichen literarischen Vorlieben Deiner sanften Rose? Meine Lieblingsgeschichte ist Der Untergang des Hauses Usher. Sie spielt auf einem düsteren, efeuumrankten Anwesen mitten auf einer Insel mit Blick auf einen dunklen, stillen Tümpel. Der namenlose Ich-Erzähler wird von einem Jugendfreund, der an einer nicht näher benannten Geisteskrankheit leidet, in einem Brief dringlich um Hilfe gebeten. Ich kann gar nicht beschreiben, was für eine Erregung mich packte, als ich die Erzählung zum ersten Mal las. Eisige Schauder liefen mir über den Rücken. So eine Atmosphäre des Bösen, der Angst, das Wirken dämonischer Mächte, die in den Untergang führen! Immer wieder musste ich innehalten und Luft holen, manchmal dachte ich, ich könnte nicht weiterlesen, denn dieser Stoff war so stark, so zwingend, dass er mich zu überwältigen drohte. Ich konnte nicht atmen. Und dennoch musste ich zu dem Buch zurückeilen, nichts und niemand konnte mich von Roderick Ushers grauenvollem Geheimnis losreißen, von Madelines gespenstischem Auftritt in ihrem blutüberströmten Kleid, von dem Haus, das einstürzt und im Pfuhl versinkt. Poe verstand es, seine Leser in Bann zu schlagen.