Dieses Haus ist wie mein Leib, wie meine Haut, mein Blut, meine Knochen. Es trägt mich, wie ich unsere Kinder austrug. Es wurde beschädigt, es hat gelitten, es wurde geschändet, es hat überlebt, aber heute wird es einstürzen. Heute kann nichts mehr dieses Haus retten, nichts kann mich noch retten. Da draußen ist nichts, Armand, nichts und niemand, an dem ich hänge. Ich bin jetzt eine alte Frau, es ist Zeit für mich, zu gehen.

Nach Deinem Tod hat mich eine Zeitlang ein Herr umworben. Monsieur Gontrand, ein ehrbarer Witwer, ein heiterer Mann mit dickem Bauch und langen Koteletten. Er hatte ziemlichen Gefallen an mir gefunden. Einmal die Woche machte er mir seine Aufwartung mit einer kleinen Schachtel Pralinen oder einem Strauß Veilchen. Ich glaube, er hatte auch Gefallen an dem Haus und am Mietzins der beiden Ladenlokale gefunden. O ja, Deine Rose ist schlau! Ich muss zugeben, dass er eine angenehme Gesellschaft war. Wir spielten Domino und Karten, ich bot ihm ein Glas Madeirawein an. Vor dem Abendessen ging er jedoch immer wieder. Nach einiger Zeit wurde er ein wenig kühner. Aber er begriff am Ende, dass ich kein Interesse hatte, seine Frau zu werden. Doch wir blieben über die Jahre Freunde. Ich wollte mich nicht wiederverheiraten wie meine Mutter. Nachdem Du nicht mehr da warst, zog ich es vor, allein zu sein. Ich glaube, nur Alexandrine kann das verstehen. Ich muss Dir aber noch etwas gestehen: Sie ist der einzige Mensch, den ich vermissen werde. Ich vermisse sie auch jetzt. Ich weiß nun, dass sie mir in all den Jahren nach Deinem Tod ihre Freundschaft schenkte und dass das ein unschätzbar wertvolles Geschenk war.

Ist es nicht seltsam, dass ich mich in diesen letzten, fürchterlichen Stunden dabei ertappe, wie ich an die Baronne de Vresse denke? Trotz des Altersunterschieds und trotz ihres gehobenen gesellschaftlichen Standes habe ich das Gefühl, dass wir hätten Freundinnen werden können. Ich gestehe, dass ich zu einem gewissen Zeitpunkt darüber nachdachte, ihre Verbindung zum Präfekten zu nutzen, um unser Haus zu retten. Immerhin ging sie zu seinen Festen. Und war er nicht nur ein Mal, sondern gleich zwei Mal in der Rue Taranne gewesen? Aber Du siehst, ich habe es nicht getan. Ich habe mich nicht getraut. Dazu schätze ich die Baronne zu sehr.

Ich denke an sie, während ich bibbernd hier unten hocke, und frage mich, ob sie eine Ahnung hat, was ich durchmache. Ich denke an sie, wie sie mit ihrer Familie, ihren Büchern, Blumen und Festen in diesem schönen, herrschaftlichen Haus lebt. Ihr Teeservice aus feinem Porzellan, ihre dunkelroten Krinolinen und ihre Herzlichkeit. Das große helle Zimmer, wo sie ihre Gäste empfängt. Die Sonne sprenkelt das glänzende alte Parkett. Die Rue Taranne liegt gefährlich nahe am neuen Boulevard Saint-Germain. Müssen diese süßen Mädchen nun an einem anderen Ort aufwachsen? Könnte Louise Eglantine de Vresse es ertragen, ihr Heim zu verlieren, das stolz an der Ecke zur Rue du Dragon steht? Ich werde es nie erfahren.

Ich denke an meine Tochter, die in Tours auf mich wartet und sich fragt, wo ich nur bleibe. Ich denke an Germaine, meine treue, zuverlässige Germaine, die sich sicherlich Sorgen wegen meines Ausbleibens macht. Ahnt sie es? Weiß sie, dass ich mich hier verstecke? Bestimmt warten sie täglich auf einen Brief, auf ein Lebenszeichen von mir, bestimmt sehen sie aus dem Fenster, wenn sie am Tor Pferdehufe klappern hören. Vergebens.

Der letzte Traum, den ich hier unten hatte, war eine Vorahnung. Ich weiß nicht genau, wie ich ihn Dir schildern soll. Ich war oben am Himmel wie ein Vogel und blickte auf unsere Stadt herab. Ich sah nur Trümmer. Verkohlte und rotglühende Ruinen einer verwüsteten Stadt, verschlungen von einer Feuersbrunst. Das Hôtel de Ville loderte wie eine Fackel, ein riesiges geisterhaftes Gerippe kurz vor dem Einsturz. Das Lebenswerk des Präfekten, die Pläne des Kaisers – alles, was für ihre perfekte, moderne Stadt stand, war vernichtet. Nichts war übrig, nur die geraden Linien der verlassenen Boulevards, die sich wie blutende Narben durch Schutt und Asche zogen. Anstelle von Trauer überkam mich eine eigenartige Erleichterung, als der Wind eine schwarze Aschewolke zu mir herüberwehte. Mit Ruß in Mund und Nase flatterte ich davon und spürte unverhofft, wie ein Hochgefühl Besitz von mir nahm. Das war das Ende des Präfekten, das Ende des Kaisers. Auch wenn es nur ein Traum war, so war ich doch Zeugin ihres Niedergangs geworden. Und das genoss ich in vollen Zügen.