Ich erwähnte bereits weiter oben, dass mir zwei Menschen nach Deinem Tod das Leben retteten. Zweifellos hat Dich diese Offenbarung erstaunt, und Du hast Dich wahrscheinlich gefragt, was ich damit meinte. Ich werde es Dir jetzt erklären. (Nur noch eine kleine Zwischenbemerkung: Gilbert schnarcht außergewöhnlich laut. Ich habe mich in meinem Kellerversteck eingemummelt und es mir mit einem heißen Ziegelstein auf dem Schoß so gemütlich wie nur irgend möglich gemacht, Gilbert schläft oben am Herd. Doch ich höre ihn trotzdem, kannst Du Dir das vorstellen? Ich habe lange Zeit keinen Mann mehr schnarchen gehört. Seit Deinem Tod. Ein merkwürdig tröstliches Geräusch.)

Erinnerst Du Dich an die rosa Karte, die eines Morgens eintraf? Die rosa Karte, die nach Rosen duftete. Ich ging zum ersten Mal zu Alexandrine hinunter, sie erwartete mich in ihrem kleinen Wohnzimmer hinter dem Laden, nicht weit von hier, wo ich nun sitze und Dir schreibe.

Sie hatte Waffeln und eine köstliche Biskuittorte mit Zitronencreme gebacken, dazu gab es Erdbeeren mit Schlagsahne. Und den besten Tee, den ich je getrunken habe, einen Rauchtee. Sie sagte, es sei Lapsang Souchong, er käme aus China und sie kaufe ihn bei Mariage Frères, einem neuen, schicken Teeladen im Marais.

Anfangs war ich nervös, unsere erste Begegnung war ja, wie Du Dich erinnerst, eher unglücklich verlaufen, aber sie war ganz reizend zu mir.

»Mögen Sie Blumen, Madame Rose?«, fragte sie.

Natürlich fand ich Blumen schön, musste aber zugeben, dass ich nichts von ihnen verstand.

»Na, das ist doch schon mal ein Anfang!«, lachte sie. »Wie könnten Ihnen, bei Ihrem Namen, Blumen auch nicht gefallen?«

Nach dem Tee fragte sie mich, ob ich noch eine Weile bei ihr im Laden bleiben und zusehen wolle, wie sie arbeitet. Ihr Angebot überraschte mich, mehr noch aber schmeichelte mir, dass diese junge Frau meine Gesellschaft offenbar anregend fand. Sie holte mir einen Stuhl, ich setzte mich an die Ladentheke und nahm meine Stickerei zur Hand – mit der ich, ehrlich gesagt, Armand, nicht sehr weit kam, denn was ich an diesem ersten Tag sah und hörte, war einfach faszinierend.

Der Laden war, wie ich schon sagte, überaus reizvoll und heiter, eine richtige Augenweide. Ich fühlte mich wohl in diesen rosa Wänden und inmitten von Blumensträußen. Alexandrine hatte einen Lehrling, einen Jungen namens Blaise, der nicht viel sprach, aber dafür fleißig arbeitete.

Zu meinem Erstaunen gibt es in einem Blumenladen viel zu tun. Blumen verschenkt man ja aus vielen Gründen und zu vielen Gelegenheiten. Den ganzen Nachmittag über beobachtete ich, wie Alexandrine geschickt Iris, Tulpen, Lilien band. Mit sicherer, schneller Hand. Sie trug eine lange schwarze Schürze, die ihr eine strenge Eleganz verlieh. Blaise stand immer hinter ihr und beobachtete jede Bewegung. Die beiden sprachen kaum miteinander. Immer wieder zog er los, um in der Nachbarschaft einen Strauß auszuliefern.

Es gab keinen einzigen müßigen Augenblick. Erst kam ein sehr schneidiger Herr mit lockigem Haar und wehendem schwarzem Umhang, er wollte eine Gardenia als Ansteckblume für den Opernbesuch am Abend. Dann bestellte eine Dame Blumen für eine Taufe, eine andere (die mich in ihren schwarzen Kleidern und mit ihrem blassen, müden Gesicht zu Tränen rührte) für eine Trauerfeier. Der junge Priester, der mit Père Levasque zusammenarbeitet, suchte Lilien aus für die Wiedereröffnung der Kirche nach den zweijährigen Renovierungsarbeiten. Madame Paccard kam vorbei und gab ihre übliche wöchentliche Bestellung auf, denn sie schmückte die Zimmer im Hotel Belfort für jeden neuen Gast mit frischen Schnittblumen. Monsieur Helder wollte spezielle Blumengebinde für eine Überraschungs-Geburtstagsfeier in seinem Restaurant in der Rue d’Erfurth.

Jedem neuen Kunden hörte Alexandrine aufmerksam zu, sie machte Vorschläge, hörte wieder zu, zeigte die eine oder andere Blume vor, dachte sich einen Strauß aus, beschrieb ihn und hörte wieder zu. Sie ließ sich Zeit, und wenn sich eine Schlange bildete, holte sie schnell einen weiteren Stuhl, bot Konfekt oder eine Tasse Tee an, und der Kunde wartete geduldig neben mir. Kein Wunder lief dieser neue Laden so gut, dachte ich, verglichen mit dem Geschäft der altmodischen, trübseligen Madame Collévillé.

Ich hatte so viele Fragen, die ich Alexandrine mit brennender Neugier stellen wollte, während sie durch den Laden hetzte. Woher bezog sie die Blumen? Wie wählte sie sie aus? Warum war sie Floristin geworden? Aber sie war immer so in Eile, dass ich nicht zu Wort kam. Ich konnte ihr nur zusehen und die Hände untätig im Schoß falten, während sie weiter ihr Tagwerk verrichtete.

Am nächsten Morgen saß ich wieder im Laden. Ich hatte schüchtern ans Fenster geklopft, Alexandrine hatte genickt und mir bedeutet, hereinzukommen. »Hier, Ihr Stuhl wartet schon, Madame Rose!«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln, und ihre Stimme hörte sich weniger kratzig, ja in gewisser Weise fast bezaubernd an. Die ganze Nacht lang war mir der Blumenladen nicht aus dem Kopf gegangen, Armand. Und kaum war ich wach geworden, hatte ich mich danach gesehnt, wieder zu ihr hinunterzugehen. Ich begriff langsam ihren Tagesablauf. Nachdem sie am Morgen mit Blaise frische Blumen auf dem Markt geholt hatte, zeigte sie mir göttliche dunkelrote Rosen.

»Sehen Sie, Madame Rose, die sind so schön, dass sie im Nu weggehen. Sie heißen Rosa Amadis, niemand kann ihnen widerstehen.«

Und sie hatte recht, niemand konnte diesen üppigen Rosen, ihrem berauschenden Duft, ihrer intensiven Farbe und ihren samtigen Blütenblättern widerstehen. Am Mittag war keine einzige Rosa Amadis mehr übrig. Alle verkauft.

»Die Leute lieben Rosen«, erklärte mir Alexandrine, während sie Sträuße für eilige Kunden band, die diese auf dem Weg nach Hause oder zu einer Einladung fertig erstehen konnten. »Die Rose ist die Königin der Blumen. Wenn man eine Rose schenkt, liegt man nie falsch.«

Während wir uns unterhielten, kreierte sie ein paar Sträuße. Ein jeder unterschied sich komplett vom anderen in der Wahl der Blumen, des grünen Laubs und der Satinbänder. Bei Alexandrine wirkte alles so mühelos, aber ich wusste, dass es das nicht war. Diese junge Frau konnte mit Blumen umgehen.

Eines Morgens war sie ganz aufgeregt. Sie fuhr den armen Blaise an, der weiter seinen Aufgaben nachging wie ein tapferer kleiner Soldat angesichts des Feindes. Ich fragte mich, was diese Nervosität wohl ausgelöst hatte. Immer wieder sah sie auf die Wanduhr, immer wieder trat sie vor die Ladentür, deren Glocke jedes Mal leise klingelte, sie stellte sich mit den Händen in den Hüften auf die Straße und blickte die Rue Childebert hinauf und hinunter. Das Ganze war mir schleierhaft. Auf wen wartete sie? Auf einen Verlobten? Eine Sonderlieferung?

Und plötzlich, als ich schon dachte, ich könnte dieses Warten nicht mehr aushalten, erschien eine Kundin auf der Schwelle. Es war die reizendste Dame, die ich je gesehen habe.

Sie schwebte in den Laden herein wie auf einer Wolke. Ach je, wie kann ich sie Dir nur beschreiben? Selbst Blaise beugte ehrerbietig das Knie. Sie war so zierlich, so hübsch wie eine Porzellanpuppe. Natürlich trug sie die neueste Mode: eine malvenfarbene Krinoline (die Kaiserin trug in jenem Jahr ausschließlich diese Farbe), ein weißer Spitzenkragen und Spitzenmanschetten, die Haube stand dazu in allerschönstem Kontrast. Sie war mit ihrer Zofe gekommen, die an jenem sonnigen Frühlingsnachmittag draußen wartete.

Ich konnte meine Augen nicht von dieser zauberhaften Fremden nehmen. Ihr Gesicht war ein regelmäßiges Oval, sie hatte schöne dunkle Augen, einen milchhellen Teint, perlweiße Zähne und glänzendes schwarzes Haar, das zu einem geflochtenen Dutt aufgesteckt war. Ich hatte keine Ahnung, wer sie war, ahnte aber gleich, dass sie für Alexandrine ausgesprochen wichtig sein musste. Die Dame streckte ihre kleinen weißen Hände aus, und Alexandrine nahm sie voller Bewunderung in die ihren.

»O Madame, ich dachte schon, Sie würden nicht mehr kommen!«

Die liebreizende Dame warf den Kopf zurück und lachte fröhlich.

»Aber, aber, Mademoiselle! Ich hatte Ihnen doch ausrichten lassen, dass ich um zehn hier sein wollte, und hier bin ich –nur mit ein paar Minuten Verspätung! Wir haben viel Arbeit vor uns, nicht wahr? Gewiss haben Sie schon wunderbare Ideen für mich.«

Ich starrte sie so gebannt an wie Blaise, dem der Mund offen stand.

»O ja, ich habe ganz prächtige Ideen, Madame. Ich werde sie Ihnen gleich vorführen. Doch erlauben Sie, dass ich Ihnen zuerst meine Vermieterin Madame Bazelet vorstelle?«

Die Dame drehte sich mit einem anmutigen Lächeln zu mir um, ich stand auf, um sie zu begrüßen.

»Sie heißt Rose«, sagte Alexandrine. »Ist das nicht ein entzückender Name?«

»Aber ja! Ausgesprochen entzückend.«

»Madame Rose, das ist meine beste und liebste Kundin, die Baronne de Vresse.«

Die kleine weiße Hand drückte die meine, und auf Alexandrines Wink hin eilte Blaise ins Hinterzimmer und holte Skizzen, die sorgfältig auf dem großen Tisch ausgebreitet wurden. Ich wollte unbedingt wissen, worum es bei dem Ganzen ging.

Es dämmerte mir, als die Baronne ausführlich ein Kleid beschrieb. Ein Ballkleid. Meine Güte, es war ein hochherrschaftlicher Ball – die Kaiserin persönlich gab sich die Ehre. Prinzessin Mathilde, die Cousine des Kaisers, der Präfekt und dessen Frau sowie andere Persönlichkeiten aus Adelskreisen wurden erwartet.

Alexandrine verhielt sich so, als sei das alles ganz normal, ich dagegen war ganz außer mir vor Aufregung. Das Kleid wurde natürlich von dem berühmten Couturier Worth in der Rue de la Paix geschneidert, den alle modebewussten Damen bemühten. Die Robe der Baronne war, wie sie sagte, grellrosa, mit weit ausgeschnittenem Dekolleté, umrahmt von einer üppigen Spitzen-Berthe, die Krinoline bestand aus ganzen fünf Volants und einem Überrock mit Quasten. Alexandrine zeigte ihr die Skizzen. Sie hatte für die Frisur und die Korsage der Baronne einen schmalen Kranz aus rosa Rosenknospen, Perlmutt und Strass vorgesehen.

Was für hinreißende Zeichnungen! Ich war beeindruckt von Alexandrines Talent. Kein Wunder, dass die Damen ihren Laden stürmten. Du wirst sicher staunen, dass ich, die ich der Kaiserin und ihrer Oberflächlichkeit immer so kritisch gegenüberstand, so eine Bewunderung für die Baronne de Vresse aufbringen konnte. Ich will ehrlich zu Dir sein, Liebster: Sie war einfach bezaubernd. Sie hatte nichts Seichtes, nichts Hohles an sich. Sie fragte mich verschiedentlich um Rat, als würde er ihr wirklich etwas bedeuten, als sei ich eine überaus wichtige Person. Ich wusste nicht, wie alt dieses einnehmende Geschöpf war – vermutlich um die zwanzig –, aber man merkte ihr an, dass sie eine umfassende Bildung genossen hatte, sie sprach mehrere Sprachen, sie hatte die Welt bereist. Aber die Kaiserin doch auch …! Ja, aber Du hättest die reizende Baronne bewundert, das weiß ich.

Am Ende des Tages hatte ich ein bisschen mehr über die Baronne de Vresse erfahren: eine geborene Louise de Villebague, bereits seit ihrem achtzehnten Lebensjahr mit Felix de Vresse verheiratet. Sie hat zwei Töchter, Bérénice und Apolline. Sie liebt Blumen und schmückt täglich ihr Haus in der Rue Taranne damit. Sie kauft nur bei Alexandrine, denn Mademoiselle Walcker »kennt sich ganz entschieden mit Blumen aus«, wie sie voller Ernst sagte, während sie mich aus diesen dunklen, leuchtenden Augen ansah.

Ich muss jetzt aufhören, Liebster. Meine Hand schmerzt vom vielen Schreiben. Gilberts Schnarchen ist ein tröstendes Geräusch, es schenkt mir Geborgenheit. Nun kuschle ich mich in meine vielen Decken und versuche, so lange wie möglich zu schlafen.