Hier unten im Müll, den Alexandrine nicht mehr wegwerfen konnte, fand ich eine Glasscherbe. Ich kann mein Spiegelbild darin sehen, wenn ich sie in eine bestimmte Richtung drehe und aufpasse, dass ich mir nicht in die Fingerspitzen schneide. Im Alter hat mein Gesicht seine ovale Form verloren, es ist länglicher geworden, weniger anmutig. Du weißt, dass ich nicht eitel bin, dennoch bin ich stolz auf meine Erscheinung. Ich habe meine Kleider, Schuhe und Hauben immer sorgfältig gewählt.

Selbst in diesen letzten, merkwürdigen Stunden will ich nicht aussehen wie eine Lumpensammlerin. Ich wasche mich, so gut es geht, mit dem Wasser, das Gilbert mir bringt, und benutze das Parfüm, das ich noch habe; die Baronne de Vresse schenkte es mir letztes Jahr, als Alexandrine und ich sie in ihrem Haus in der Rue Taranne abholten, um im Warenhaus Bon Marché einkaufen zu gehen. Ich habe gehört, die Rue Taranne sei im Moment nicht gefährdet. Doch wie lange noch? Werden sie es wagen, diese Pracht zu zerstören? Sie in einem Zug auszumerzen?

Meine Augen, die Du so liebtest, sind noch immer dieselben. Blau oder grün, je nach Wetter. Mein Haar ist nun grau, mit vereinzelten Goldfäden. Ich habe nie daran gedacht, es zu färben, wie es die Kaiserin tut und was ich so ordinär finde.

Zehn Jahre sind eine lange Zeit, nicht wahr, Armand? Dass ich Dir diesen Brief schreibe, bringt Dich mir beträchtlich nahe. Ich kann fast spüren, wie Du mir beim Schreiben über die Schulter blickst, spüre Deinen Atem an meinem Hals. Ich war lange nicht mehr bei Dir auf dem Friedhof. Es schmerzt mich, Dein Grab zu sehen, Deinen und Maman Odettes Namen in den Stein graviert, doch noch herzzerreißender ist es, den Namen unseres Sohnes Baptiste direkt unter Deinem zu sehen.

Hier! Ich habe seinen Namen nun zum ersten Mal in diesem Brief erwähnt. Baptiste Bazelet. Oh, welch ein Schmerz! Welch ein schrecklicher Schmerz. Ich kann diesen Schmerz nicht zulassen, Armand, ich muss gegen ihn ankämpfen. Ich kann mich ihm nicht ergeben. Ansonsten würde ich darin ertrinken, würde alle Kraft verlieren.

An Deinem Todestag hattest Du einen letzten lichten Augenblick. Oben in unserem Schlafzimmer sagtest Du, meine Hand in Deiner: »Gib Acht auf unser Haus, Rose. Lass nicht zu, dass dieser Baron, dieser Kaiser …« Dann überzogen sich Deine Augen wieder mit diesem befremdeten Schleier, und Du sahst mich an, als würdest Du mich gar nicht kennen. Aber ich hatte genug gehört. Ich wusste ganz genau, was Du von mir erwartetest. Während Du da lagst und alles Leben aus Deinem Leib wich und Violette hinter mir schluchzte, war ich mir der Aufgabe bewusst, die Du mir übertragen hattest. Ich musste sie in Ehren halten. Ich habe es Dir versprochen. Zehn Jahre danach, Liebster, ist die Zeit nun gekommen, und ich habe niemals gewankt.

Am Tag, als Du starbst, am 14. Januar, erfuhren wir, dass der Kaiser in der Rue Le Peletier vor der alten Oper ein brutales Attentat überlebt hatte. Drei Bomben wurden geworfen, ungefähr zweihundert Menschen wurden verletzt, zwölf verloren ihr Leben. Pferden wurden Gliedmaßen weggerissen, in der ganzen Straße barsten die Fensterscheiben. Die königliche Kutsche kippte um, der Kaiser und die Kaiserin entkamen dem Tod nur um Haaresbreite. Später las ich, dass die Robe der Kaiserin getränkt war mit dem Blut eines Todesopfers, dennoch ging sie in die Oper, um ihren Untertanen zu zeigen, dass sie keine Angst hatte.

Dieses Attentat war mir gleichgültig, genauso gleichgültig wie der Italiener, der es begangen hatte, Felice Orsini (er wurde später guillotiniert), und seine Motive. Du entglittst mir, nichts anderes kümmerte mich.

Friedlich und ohne Schmerzen gingst Du im Mahagonibett unseres Schlafzimmers von dannen. Du wirktest erleichtert, diese Welt und alles, was dazugehörte und was Du nicht mehr verstehen konntest, verlassen zu dürfen. In den vergangenen Jahren hatte ich miterlebt, wie Du Dich allmählich in die Krankheit zurückzogst, die sich in den Winkeln Deines Gehirns eingenistet hatte und über die sich die Ärzte nur zurückhaltend äußerten. Man konnte Deine Krankheit nicht sehen oder mit irgendetwas messen. Ich glaube, sie hat nicht einmal einen Namen. Keine Arznei konnte sie kurieren.

Gegen Ende konntest Du das Tageslicht nicht mehr ertragen. Du batest Germaine, ab Mittag die Fensterläden im Salon zu schließen. Manchmal fuhrst Du in Deinem Sessel auf, so dass ich erschrak, Du spitztest die Ohren, horchtest und sagtest: »Hast du das gehört, Rose?« Ich hatte gar nichts gehört, keine Stimme, kein Hundegebell, kein Türenschlagen, aber ich gewöhnte mir an, Ja zu sagen: Ja, ich habe es auch gehört. Und wenn Deine Hände ganz aufgeregt zu zucken begannen und Du immer wieder sagtest, die Kaiserin käme zum Tee und wir müssten Germaine auftragen, frisches Obst zu besorgen, auch da gewöhnte ich mir an, zu nicken und Dir immer wieder tröstend zu versichern, dass selbstverständlich alles erledigt werden würde. Die Zeitung hast Du immer gern von vorn bis hinten gelesen, sogar die Anzeigen, jeden Morgen. Jedes Mal, wenn Du den Namen des Präfekten gedruckt sahst, stießt Du einen Schwall Flüche aus. Einige waren sehr grob.

Der Armand, den ich vermisse, ist nicht die alte, verwirrte Person, die Du mit achtundfünfzig warst, als der Tod Dich ereilte. Der Armand, nach dem ich mich sehne, ist der junge Mann in Kniehosen mit seinem warmen Lächeln. Wir waren dreißig Jahre verheiratet, Liebster. Ich möchte an unsere erste Zeit der Leidenschaft zurückdenken, an Deine Hände auf meinem Körper, die heimliche Lust, die Du mir bereitetest. Niemand wird diese Zeilen lesen, also kann ich Dir sagen, wie sehr Du mich verwöhntest und was für ein glutvoller Liebhaber Du warst. Oben in unserem Schlafzimmer liebten wir uns, wie Frau und Mann es tun sollten. Doch als die Krankheit an Dir zu zehren begann, ließen Deine Liebkosungen langsam nach und blieben mit der Zeit ganz aus. Ich fürchtete, ich könnte nicht länger Dein Begehren entfachen. Gab es eine andere Frau? Doch diese Angst klang ab, und eine neue Sorge zog am Horizont herauf, als ich begriff, dass Du überhaupt kein Verlangen mehr hattest, weder nach einer anderen Frau noch nach mir. Du warst krank, und die Lust war erloschen, für immer.

Und dann war da dieser schreckliche Tag gegen Ende, als ich mit Mariette vom Markt zurückkam und wir Germaine tränenüberströmt auf der Straße vor dem Haus antrafen. Du warst verschwunden. Sie hatte den Salon leer vorgefunden, Dein Hut und Dein Gehstock waren weg. Wie konnte das passieren? Du gingst nur ungern aus dem Haus. Du gingst nie aus. Wir suchten das ganze Viertel ab, von Madame Paccards Hotel bis zu Madame Godfins Kräuterhandlung gingen wir in jeden Laden, aber niemand, weder Monsieur Horace, der immer viel Zeit vor seiner Ladentür verbrachte, noch jemand von der Druckerei hatte Dich an jenem Morgen gesehen. Es gab keine Spur von Dir. Ich eilte aufs Kommissariat an der Place Saint-Thomas-d’Aquin und schilderte die Lage: Mein Mann, ein älterer, verwirrter Herr, wurde vermisst, und zwar seit drei Stunden. Ich verabscheute es, Deine Krankheit beschreiben zu müssen, ihnen sagen zu müssen, dass Du den Verstand verloren hattest, dass Du manchmal Angst einflößend warst, wenn Dich Deine Verstörung überkam. Du würdest oft Deinen Namen vergessen, sagte ich den Männern – wie solltest Du also nach Hause finden, wenn Du auch noch Deine Adresse vergisst? Der Kommissar war ein gutherziger Mann. Er bat mich um eine genaue Beschreibung von Dir. Er sandte eine Wache aus, um Dich zu suchen, und bat mich, mir keine Sorgen zu machen. Doch die machte ich mir.

Am Nachmittag zog ein schwerer Sturm auf. Der Regen prasselte mit kolossaler Wucht aufs Dach, der Donner grollte so laut, dass die Fundamente bebten. Voller Kummer dachte ich an Dich. Was tatst Du gerade? Hattest Du irgendwo Unterschlupf gefunden? Hatte Dich jemand bei sich aufgenommen? Oder hatte ein ruchloser Fremder Deine Verwirrung schamlos ausgenutzt und eine Freveltat begangen?

Während es schüttete, stand ich am Fenster, Germaine und Mariette weinten hinter mir. Ich konnte es nicht länger ertragen. Ich ging aus dem Haus. Mein Schirm war nutzlos, der Regen hatte mich bald bis auf die Haut durchnässt. Ich schaffte es in den durchweichten Jardin du Luxembourg, der vor mir lag wie ein gelbes Schlammmeer. Ich überlegte, wohin Du gegangen sein könntest. Zum Grab Deiner Mutter und Deines Sohnes? In eine Kirche? Ein Café? Es wurde schon dunkel, und noch immer gab es kein Lebenszeichen von Dir. Völlig erschöpft taumelte ich nach Hause. Germaine hatte mir ein heißes Bad bereitet. Die Minuten vergingen langsam wie die Ewigkeit. Du warst nun schon zwölf Stunden weg. Der Kommissar kam vorbei, seine Miene war ernst. Er hatte seine Männer in die umliegenden Hospitäler geschickt, um nachzufragen, ob Du eingeliefert worden warst. Vergeblich. Er ermahnte mich, den Mut nicht zu verlieren, und ging wieder. Wir saßen schweigend am Tisch mit Blick auf die Tür. Der Abend verging. Wir konnten weder essen noch trinken. Mariettes Nerven spielten nicht mehr mit, ich schickte sie auf ihr Zimmer, weil sie kaum mehr stehen konnte.

Mitten in der Nacht klopfte es an die Haustür. Germaine eilte hinunter, um zu öffnen. Da stand ein Fremder, ein eleganter junger Herr im Jagdkostüm. Und Du standest neben ihm, abgespannt und lächelnd, und hieltst Dich an Père Levasques Arm fest. Der Fremde erzählte, er sei am späten Nachmittag mit Freunden im Wald von Fontainebleau auf der Jagd gewesen und dort diesem Mann begegnet, der aussah, als hätte er sich verirrt. Erst habe ihm der Mann nicht sagen können, wer er war, doch später habe er immer wieder die Kirche Saint-Germain-des-Prés erwähnt, also hatte er ihn in seiner Kutsche hergefahren. Père Levasque fügte hinzu, die Männer seien in die Kirche gekommen und er habe Armand Bazelet natürlich sofort erkannt. Du sahst verwirrt und sanft aus. Ich war wie vom Schlag getroffen – der Wald war meilenweit entfernt. Ich war als Kind einmal dort gewesen, die Fahrt dorthin hatte den ganzen Vormittag gedauert. Wie um alles in der Welt hatte es Dich dorthin verschlagen? Wer hatte Dich dorthin gebracht und wie?

Ich dankte dem jungen Mann und Père Levasque ganz herzlich und führte Dich vorsichtig ins Haus. Mir war klar, dass ich Dir keine Fragen stellen konnte und Du keine Antworten für mich hattest. Wir setzten Dich in den Sessel und untersuchten Dich gründlich. Deine Kleider waren schmutzig, voller Schlamm und Dreck. Grasbüschel und Dornen steckten in Deinen Schuhen. An Deinem Gehrock fielen mir dunkle Flecken auf. Besorgnis erregender jedoch waren ein tiefer Schnitt in Deinem Gesicht und rote Kratzer an Deinen Händen. Germaine schlug vor, trotz der späten Stunde den jungen Doktor Nonant um Hilfe zu bitten. Ich war einverstanden. Sie warf ihren Umhang über und eilte durch die Nacht, um den Arzt zu holen. Als er schließlich kam, warst Du eingeschlafen, Du atmetest ruhig wie ein Kind, ich hielt Deine Hand. Ich weinte leise, verzweifelte Tränen der Erleichterung, gemischt mit Angst, ich drückte Deine Hand und rekapitulierte die unbegreiflichen Ereignisse dieses Tages. Wir würden nie erfahren, was vorgefallen war, warum man Dich Meilen von der Stadt entfernt im Wald aufgefunden hatte, wo Du mit blutender Stirn umhergewandert warst. Du würdest es uns nie erzählen.

Der Doktor hatte mich zwar auf Deinen bevorstehenden Tod vorbereitet, dennoch war es ein schwerer Schlag, als er dann tatsächlich eintrat. Ich ging auf die fünfzig zu und hatte das Gefühl, mein Leben läge für immer hinter mir. Ich war allein. Nachts lag ich in unserem Bett wach und lauschte der Stille. Nun konnte ich Deinen Atem nicht mehr hören, das Rascheln der Laken, wenn Du Dich bewegtest. Ohne Dich fühlte sich unser Bett an wie ein kaltes, feuchtes Grab. Mir war, als würde selbst das Haus still nach dir fragen. Dein Sessel war grausam leer. Da waren Deine Stadtpläne, Deine Papiere, Deine Bücher, Deine Feder, Dein Tintenfass, doch Du warst nicht mehr hier. Dein Platz am Esstisch schrie Deine Abwesenheit hinaus. Die rosa Muschel, die Du im Trödelladen in der Rue des Ciseaux gekauft hattest und in der es rauschte wie das Meer, wenn man sie ans Ohr hielt … Was tun wir, wenn unsere Lieben uns für immer verlassen und wir mit den prosaischen Dingen ihres Alltags zurückbleiben? Wie kommen wir damit zurecht? Beim Anblick Deines Kamms und Deiner Haarbürste musste ich weinen. Deine Hüte. Dein Schachbrett. Deine silberne Taschenuhr.

Unsere Tochter war nach Tours gezogen, acht Jahre wohnte sie nun schon dort und hatte zwei Kinder. Meine Mutter war sieben Jahre zuvor gestorben, mein Bruder Émile war aufs Land gezogen. Ich hatte nur noch die Nachbarn, ihre Gesellschaft und Unterstützung waren mir von unschätzbarem Wert. Alle verwöhnten mich. Monsieur Horace brachte mir kleine Fläschchen Erdbeerlikör vorbei. Monsieur Monthier spendierte mir die köstlichsten Pralinen. Madame Paccard lud mich jeden Donnerstag zum Mittagessen ins Hotel ein, Monsieur Helder montags zu einem frühen Abendessen ins Chez Paulette. Madame Barou besuchte mich ein Mal pro Woche. Père Levasque machte jeden Samstagmorgen mit mir einen Spaziergang zum Jardin du Luxembourg. Dennoch konnte nichts das klaffende, schmerzende Loch füllen, das Du mit Deinem Tod in mein Leben gerissen hattest. Du warst ein stiller Mann gewesen, doch Du hattest viel stillen Raum eingenommen, und das fehlte mir nun. Deine Festigkeit und Deine Stärke.

Ich höre Gilberts Klopfcode und gehe ihm aufmachen. Es ist eiskalt heute Morgen, meine Haut ist dunkelrot vor Kälte. Gilbert humpelt herein, klatscht in seine behandschuhten Hände und stampft mit den Füßen auf. Der eisige Luftzug, den er hinter sich herzieht, lässt mich von Kopf bis Fuß erzittern. Er geht gleich zum Kochherd und entfacht eifrig das Kohlefeuer.

Ich sehe ihm zu. Ich erzähle ihm von den Männern von der Präfektur, die versuchten, die Haustür aufzubrechen.

Grimmig sagt er:

»Keine Sorge, Madame Rose, heute Morgen wird nicht gearbeitet. Zu kalt. Wir können das Feuer den ganzen Tag brennen lassen, niemand wird den Rauch bemerken. Das Viertel ist ausgestorben. Ich bin ziemlich sicher, dass die Straßenarbeiten für eine Weile eingestellt werden.«

Ich kauere mich ans warme Feuer und spüre, wie die Eiseskälte weicht, die meinen ganzen Körper im Griff hatte. Gilbert wärmt ein bisschen Essen in einer fettigen Pfanne auf. Der appetitliche Geruch kitzelt mich in der Nase, mein Magen knurrt. Woher bekommt Gilbert Kohlen, Lebensmittel? Warum tut er das für mich? Wenn ich ihn höflich frage, lächelt er nur.

Nach dem Essen gibt er mir grinsend einen Brief. Er sagt, der Postbote würde ratlos umherirren und nicht wissen, was er mit der Post machen soll, nachdem die Straße nun evakuiert und dem Abriss preisgegeben wurde. Wie Gilbert es geschafft hat, an meine Post zu kommen, weiß ich nicht. Er ist ein geheimnisvoller Bursche, und es gefällt ihm, mich zu überraschen.

Wie vermutet ist der Brief von unserer Tochter. Er wurde vor einer Woche abgeschickt.