Am Tag, als der Brief kam, brach in unserer kleinen Straße hektische Panik aus. Der Buchhändler Monsieur Zamaretti und Alexandrine, das Blumenmädchen, kamen zu mir nach oben. Sie hatten das gleiche Schreiben von der Präfektur erhalten. Aber ich sah ihnen an, dass sie es gar nicht so schlimm fanden. Sie könnten ihr Geschäft auch anderswo wiedereröffnen, oder etwa nicht? In der Stadt gäbe es immer einen Platz für eine Buchhandlung und ein Blumengeschäft. Ja, sie wagten nicht, mir in die Augen zu sehen. Sie spürten, dass es für mich viel schlimmer war. Als Deine Witwe gehörte das Haus mir. Wie Du und vor Dir Dein Vater und vor ihm wiederum dessen Vater hatte ich die zwei Läden vermietet, den einen an Monsieur Zamaretti, den anderen an Alexandrine. Von dieser Miete lebte ich. So kam ich über die Runden. Bis jetzt.

Ich erinnere mich, dass es ein heißer, schwüler Tag war. Schon in der Frühe wimmelte es in der Straße nur so von unseren Nachbarn, die den Brief in der Hand schwenkten. Es war ein richtiges Spektakel. Alle schienen an jenem Morgen auf der Straße zu sein, Stimmen erhoben sich laut bis hinunter zur Rue Sainte-Marguerite. Da war Monsieur Jubert von der Druckerei mit seinem farbfleckigen Schurz. Madame Godfin stand vor ihrem Kräuterladen. Buchbinder Bougrelle paffte seine Pfeife. Die rassige Mademoiselle Vazembert vom Kurzwarengeschäft (die Du, Gott sei Dank, nie kennengelernt hast) stolzierte auf dem Kopfsteinpflaster auf und ab, als wollte sie ihre neue Krinoline vorführen. Unsere nette Nachbarin Madame Barou lächelte freundlich, als sie mich erblickte, aber ich sah ihr die Erschütterung an. Monsieur Monthier, der Chocolatier, weinte. Monsieur Helder, der Wirt des Restaurants Chez Paulette, wo Du immer so gern hingingst, biss sich nervös auf die Lippe, wobei sein buschiger Schnauzbart auf und ab hüpfte.

Ich trug einen Hut, denn ohne Hut gehe ich nie aus dem Haus, aber in all der Eile hatten viele vergessen, einen aufzusetzen. Madame Paccards Haarknoten drohte sich aufzulösen, so heftig wackelte sie mit dem Kopf. Doktor Nonant, auch er barhäuptig, wedelte zornig mit dem Zeigefinger. Irgendwann konnte Monsieur Horace, der Weinhändler, den Lärm übertönen. Er hat sich nicht sehr verändert, seit Du von uns gegangen bist. Sein krauses dunkles Haar ist vielleicht ein wenig grauer geworden und sein Bauch zweifellos ein bisschen dicker, aber sein großspuriges Gehabe und sein dröhnendes Lachen hat er nicht verloren. Seine Augen funkeln schwarz wie Holzkohle.

»Was habt ihr Herrschaften hier draußen denn so heiß zu debattieren! Für uns alle wird es ein Segen sein. Ich gebe einen aus – auch denen, die sonst nie in meinen Bau kommen!« Damit meinte er natürlich Alexandrine, die keinen Alkohol anrührt. Ich glaube, sie hat mir einmal erzählt, dass ihr Vater sich zu Tode getrunken hat.

In Monsieur Horace’ Weinladen ist es feucht, die Decken sind niedrig – seit Deiner Zeit hat sich hier nichts verändert. Reihenweise Flaschen an den Wänden, klobige Weinfässer thronen auf Holzbänken. Wir versammelten uns am Tresen. Mademoiselle Vazembert nahm mit ihrer Krinoline eine Menge Platz ein. Ich frage mich manchmal, wie Frauen ein normales Leben führen wollen, eingezwängt in diese sperrigen Ungetüme. Wie um alles in der Welt steigen sie in eine Droschke, wie setzen sie sich an den Tisch, wie gehen sie mit intimen, natürlichen Dingen um? Die Kaiserin kriegt das vermutlich spielend hin, schließlich wird sie von Zofen verhätschelt, die all ihren Launen nachkommen und jedes ihrer Bedürfnisse befriedigen. Ich bin froh, dass ich eine alte Frau von fast sechzig bin. Ich muss mich nicht nach der Mode richten und mir einen Kopf machen wegen dem Schnitt meiner Mieder und Röcke. Aber ich schweife ab, was, Armand? Ich muss die Geschichte weiterschreiben. Meine Finger werden immer kälter. Ich muss bald Tee kochen, um mich aufzuwärmen.

Monsieur Horace schenkte Schnaps in ungewohnt eleganten Gläsern aus. Ich trank meinen nicht, Alexandrine trank auch nicht. Aber das ist keinem aufgefallen. Es war viel los. Alle verglichen ihre Briefe. Diese hatten alle denselben Betreff: Enteignungsverfügung. Entsprechend unserem Grundbesitz und unserer Lage würden wir eine gewisse Summe als Entschädigung bekommen. Unsere kleine Straße, die Rue Childebert, soll vollkommen zerstört werden, um die Rue de Rennes und den Boulevard Saint-Germain weiterzubauen.

An jenem Morgen hatte ich das Gefühl, ich wäre bei Dir da oben, oder wo immer Du nun bist, und sähe diese ganze Aufregung aus der Ferne. Und irgendwie half mir das. Und so, eingehüllt in eine Art Benommenheit, hörte ich meinen Nachbarn zu und beobachtete ihre unterschiedlichen Reaktionen. Monsieur Zamarettis Stirn glänzte vor Schweiß, und er betupfte sie andauernd mit einem seiner eleganten Seidentüchlein. Alexandrines Gesicht war wie versteinert.

»Ich habe einen hervorragenden Anwalt«, sagte Monsieur Jubert und leerte mit einem Schluck das Glas Schnaps, das er in seinen schmutzigen, blaufleckigen Fingern hielt, »er hilft mir da raus. Es wäre absurd, meine Druckerei aufzugeben. Zehn Leute arbeiten für mich. Der Präfekt wird hier nicht das letzte Wort haben.«

Mit einem verführerischen Schwenken ihrer Rüschenunterröcke trat Mademoiselle Vazembert vor. »Aber was können wir gegen den Präfekten ausrichten, gegen den Kaiser, Monsieur? Seit fünfzehn Jahren reißen sie die Stadt auf. Wir sind ohnmächtig.«

Madame Godfin nickte, ihre Nase war hellrosa. Dann sagte Monsieur Bougrelle so laut, dass wir alle erschraken:

»Vielleicht können wir Geld damit machen. Eine Menge Geld. Wenn wir unsere Karten richtig ausspielen.«

Der Raum war rauchverhangen. Meine Augen brannten.

»Ach, kommen Sie schon, guter Mann!«, entgegnete Monsieur Monthier scharf, der endlich aufgehört hatte zu schluchzen. »Die Macht des Präfekten und des Kaisers ist unerschütterlich. Wir haben mittlerweile genug erlebt, um das zu wissen.«

»Leider!«, seufzte Monsieur Helder mit hochrotem Gesicht.

Während ich die anderen schweigend beobachtete, neben einer ebenso schweigsamen Alexandrine, fiel mir auf, dass Madame Paccard, Monsieur Helder und Doktor Nonant am ungehaltensten von allen waren. Für sie stand am meisten auf dem Spiel. Das Chez Paulette hat zwanzig Tische, und Monsieur Helder beschäftigt eine ganze Mannschaft in seinem ausgezeichneten Speiselokal. Du erinnerst Dich sicher, dass es immer voll war und dass Gäste selbst den weiten Weg vom rechten Seine-Ufer kamen, um das exquisite Kalbsragout zu kosten. Das Hotel Belfort stand stolz an der Ecke Rue Bonaparte und Rue Childebert, es hatte fünf Stockwerke, sechzehn Zimmer, sechsunddreißig Fenster und ein gutes Restaurant. Für Madame Paccard bedeutete der Verlust ihres Hotels den Verlust des Vermögens eines ganzen Lebens – alles, was ihr verstorbener Mann und sie erarbeitet und erreicht hatten. Ich weiß, dass sie es am Anfang nicht leicht gehabt hatten. Sie hatten Tag und Nacht geschuftet, um das Hotel zu renovieren und ihm den Ruf zu verleihen, den es schließlich hatte. Bei der Weltausstellung war es Woche für Woche ausgebucht.

Doktor Nonant hatte ich noch nie so aufgebracht erlebt. Sein sonst so ruhiges Gesicht war wutverzerrt.

»Ich werde alle meine Patienten verlieren, alle«, schäumte er, »alles, was ich mir in vielen Jahren aufgebaut habe. Meine Praxis im Erdgeschoss ist leicht zugänglich, es gibt keine steilen Treppen, mein Behandlungszimmer ist groß und hell, meine Patienten schätzen das. Und es sind nur ein paar Schritte zum Hospital in der Rue Jacob, wo ich auch praktiziere. Was soll ich denn jetzt tun? Wie kann der Präfekt davon ausgehen, dass ich mich mit einer lächerlichen Geldsumme abspeisen lasse?«

Du musst wissen, Armand, dass es ein eigenartiges Gefühl war, in diesem Laden zu stehen und die anderen zu hören und dabei in meinem Innersten zu wissen, dass ich ihren Zorn nicht teilte. Es betraf mich nicht. Sie schimpften wegen dieses Geldes. Und alle sahen mich an und erwarteten, dass ich etwas sagte, dass ich als Witwe, die mit ihren beiden Ladenlokalen ihr ganzes Einkommen verlieren würde, meiner eigenen Angst Ausdruck gab. Aber wie sollte ich das erklären, Liebster? Wie sollte ich ihnen schildern, was es für mich bedeutete? Mein Schmerz, mein Leid – das war eine andere Welt. Es ging nicht um Geld. Nein. Mit Geld hatte das nichts zu tun. Es war das Haus, das ich vor meinem geistigen Auge sah. Unser Haus. Und wie sehr Du es liebtest. Was es Dir bedeutete.

Mitten in diesem ganzen Aufruhr hatten Madame Chanteloup, die dralle Wäscherin aus der Rue des Ciseaux, und Monsieur Presson, der Kohlenhändler, einen spektakulären Auftritt. Madame Chanteloup, purpurrot vor Aufregung, verkündete, dass einer ihrer Kunden auf der Präfektur arbeitete und sie eine Kopie des Plans und des Verlaufs des neuen Boulevards gesehen hätte. Die zum Abriss verurteilten Straßen in unserem Viertel wären folgende: Rue Childebert, Rue d’Erfurth, Rue Sainte-Marthe, Rue Sainte-Marguerite, Passage Saint-Benoît.

»Und das heißt«, kreischte sie triumphierend, »dass meine Wäscherei und Monsieur Pressons Kohlenhandlung nicht gefährdet sind. Die Rue des Ciseaux wird nicht zerstört!«

Ihre Worte wurden mit Stöhnen und Seufzen aufgenommen. Mademoiselle Vazembert starrte sie voller Verachtung an und rauschte hoch erhobenen Hauptes aus dem Laden. Ihre Absätze klapperten die Straße hinunter. Ich erinnere mich, wie bestürzt ich war, dass auch die Rue Sainte-Marguerite, wo ich geboren wurde, dem Untergang geweiht war. Doch die wahre Sorge, die an mir zehrte und mich seitdem mit Angst erfüllte, betraf den Abriss unseres Hauses. Die Zerstörung der Rue Childebert.

Es war noch nicht Mittag. Einige hatten ein bisschen zu viel getrunken. Monsieur Monthier fing wieder an zu weinen, ein kindliches Schluchzen, das mich abstieß, zugleich aber auch anrührte. Monsieur Helders Schnauzbart hüpfte wieder auf und ab. Ich ging zurück zu unserem Haus, wo Germaine und Mariette in banger Sorge auf mich warteten. Sie wollten wissen, was nun aus ihnen werden sollte, aus uns, aus dem Haus. Germaine war auf dem Markt gewesen. Alle sprachen über die Briefe und die Enteignungsverfügung. Darüber, was dies für unser Viertel bedeutete. Der Gemüsehändler mit seinem klapprigen Leiterwagen hatte nach mir gefragt: Was will Madame Rose nun tun?, wollte er wissen. Wo wird sie hingehen? Germaine und Mariette waren ganz durcheinander.

Ich zog Hut und Handschuhe aus und bat Mariette, das Mittagessen zu kochen. Eine einfache, leichte Mahlzeit. Eine Seezunge vielleicht, weil Freitag war? Germaine strahlte – genau das hatte sie gerade am Fischstand besorgt. Die beiden trippelten in die Küche, und ich setzte mich hin, noch immer ganz ruhig, und nahm mir wie jeden Tag Le Petit Journal vor. Nur dass ich kein Wort von dem verstand, was ich las. Meine Finger zitterten, mein Herz pochte wie eine Trommel. Ich musste an das denken, was Madame Chanteloup gesagt hatte: Ihre Straße war nicht gefährdet. Sie war nur ein paar Meter entfernt, am Ende der Rue d’Erfurth, und sie war nicht gefährdet. Wie konnte das sein? Wie war das möglich? Mit welchem Recht?

Am Abend kam Alexandrine zu mir nach oben. Sie wollte über die morgendlichen Ereignisse reden und wollte wissen, wie es mir mit diesem Brief erging. Wie üblich stürmte sie herein, ein Wirbelwind aus Locken und, trotz der Hitze, einem dünnen schwarzen Schal. Freundlich, aber bestimmt bat sie Germaine, uns allein zu lassen, und setzte sich neben mich.

Ich will sie Dir schildern, Armand, denn ich lernte sie erst ein Jahr nach Deinem Tod kennen. Ich wünschte, Du hättest sie gekannt. Seit Du von mir gegangen bist, ist sie vielleicht der einzige Sonnenschein in meinem traurigen kleinen Leben. Unsere Tochter Violette ist ja nicht gerade eine Sonne für mich. Aber das weißt Du sicherlich, nicht wahr?

Alexandrine Walcker übernahm als Blumenhändlerin das Geschäft von der alternden Madame Collévillé. So jung, dachte ich, als ich sie vor neun Jahren zum ersten Mal sah. Jung und herrisch. Kaum zwanzig Jahre alt. Sie trampelte durch den Laden, meckerte herum und gab beißende Kommentare ab. Man muss natürlich sagen, dass Madame Collévillé den Laden nicht gerade in einem besonders sauberen und einladenden Zustand verlassen hatte. Nie sahen diese Räumlichkeiten düsterer und trister aus als an jenem Morgen.

Alexandrine Walcker: ausgesprochen groß, eher mager, aber mit einem ungewöhnlich üppigen Busen, der aus ihrem langen schwarzen Korsett quoll. Ein rundes, blasses Gesicht, fast ein Mondgesicht, das mich zuerst fürchten ließ, sie sei beschränkt, aber da hatte ich mich schwer geirrt. Das begriff ich, kaum dass sie mich aus ihren glühenden haselnussbraunen Augen ansah. Die pure Klugheit sprach aus ihnen. Ein kleiner runder Mund, der selten lächelte. Eine schiefe Stupsnase. Und eine dichte Mähne glänzenden kastanienbraunen Haars, kunstvoll auf ihrem runden Kopf aufgesteckt. Hübsch? Nein. Einnehmend? Eigentlich auch nicht. Mademoiselle Walcker hatte aber ein gewisses Etwas, das spürte ich sofort. Ich vergaß, ihre Stimme zu erwähnen: durchdringend schrill. Sie hatte auch die merkwürdige Angewohnheit, die Lippen zu schürzen, als würde sie einen Bonbon lutschen. Doch, weißt Du, damals hatte ich ihr Lachen noch nicht gehört. Bis dahin dauerte es eine Weile. Alexandrine Walckers Lachen ist der erlesenste, schönste Klang, den man je gehört hat. Wie das Plätschern eines Springbrunnens.

Als sie in die winzige, schmuddelige Küche und das angrenzende Schlafzimmer blickte, lachte sie ganz sicher nicht; es war so feucht, dass die Wände zu triefen schienen. Dann ging sie vorsichtig die wacklige Treppe hinunter in den Keller, wo die alte Madame Collévillé immer ihre Blumen lagerte. Alexandrine schien von den Räumen nicht gerade begeistert zu sein, und ich war verblüfft, später von unserem Notar zu erfahren, dass sie sich entschieden hatte, den Laden zu mieten.

Gleich als sie einzog, vollzog sich eine umwerfende Verwandlung. Erinnerst Du Dich, wie finster es bei Madame Collévillé selbst am helllichten Tag immer war? Dass ihre Blumen farblos, immer gleich und, ich würde sagen, banal wirkten? Alexandrine kam eines Tages mit ein paar Handwerkern an, stämmigen jungen Burschen, die den ganzen Morgen über einen solchen Höllenlärm veranstalteten – Schläge, Hämmern, lautes Gelächter –, dass ich Germaine hinunterschickte, um nachzusehen, was dieser Krach zu bedeuten hätte. Als Germaine aber nicht mehr zurückkam, wagte ich mich selbst hinab und stand bass erstaunt in der Tür.

Der Laden war lichtdurchflutet. Die Handwerker hatten Madame Collévillés eintönige braune Wandbehänge und den grauen Putz entfernt, sie hatten sämtliche dunklen Flecken und jede Spur von Feuchtigkeit beseitigt und strichen nun Wände und Winkel in strahlendem Weiß. Der Boden war gewienert und glänzte richtiggehend. Die Trennwände zwischen Geschäft und Hinterzimmer waren abgerissen, so dass der Laden nun doppelt so groß war. Die jungen Männer grüßten mich munter, und mir wurde klar, warum Germaine sich Zeit gelassen hatte, zurückzukommen – das war wirklich ein ansehnlicher Haufen. Und so heiter! Mademoiselle Walcker war im Keller, wo sie einen weiteren jungen Mann herumscheuchte. Oben, wo ich stand, konnte ich ihre schrille Stimme hören. Als sie mich sah, nickte sie kurz, das war’s. Ich hatte das Gefühl, dass ich fehl am Platz war, und verabschiedete mich. Ich kam mir geringer vor als eine Dienerin.

Tags darauf sagte Germaine atemlos zu mir, ich müsse unbedingt hinuntergehen und einen Blick in den Laden werfen. Sie klang so aufgeregt, dass ich schnell meine Stickerei zur Seite legte und ihr folgte. Rosa! Rosa, Liebster – ein Rosa, das Du Dir nie hättest vorstellen können. Eine Explosion von Rosa. Dunkelrosa außen, aber nicht zu gewagt oder zu albern, nichts, was unser Haus in irgendeiner Weise anstößig aussehen ließ. Über der Tür hing ein schlichtes Schild Blumen – für alle Gelegenheiten. Das Arrangement im Schaufenster war wundervoll, schön wie ein Gemälde – Blumen und Kinkerlitzchen, eine Überfülle von gutem Geschmack und Weiblichkeit, geradezu perfekt, um den Blick einer koketten Dame oder eines galanten Herrn auf der Suche nach einer Ansteckblume anzuziehen. Und innen, mein Lieber, eine rosa Tapete, der letzte Schrei! Es sah wunderbar aus. Und so verlockend.

Ich kannte mich mit Blumen nicht aus, Du auch nicht, und bei Madame Collévillé mit ihrem öden Geschmack hatten wir auch nichts gelernt. Nun quoll der Laden über vor Blumen, den schönsten Blumen, die ich je gesehen habe: göttliche Rosen in den unglaublichsten Farbschattierungen – Magenta, Karmesin, Gold, Elfenbein. Herrliche Päonien mit schweren, hängenden Köpfen. Und dieser Duft erst, mein Liebster – ein betörendes, traumähnliches Parfum hing dort samten und rein wie eine seidige Liebkosung.

Verzückt stand ich da und rang die Hände. Wie ein kleines Mädchen. Wieder sah Alexandrine mich an, ohne zu lächeln, aber ihre klugen Augen funkelten.

»Meiner Vermieterin gefällt also das Rosa?«, sagte sie leise und arrangierte mit ihren schnellen, geschickten Fingern Sträuße in Vasen. Ich murmelte zustimmend. Ich wusste nicht, wie ich diese arrogante, kratzbürstige junge Frau behandeln sollte. In der ersten Zeit schüchterte sie mich ein.

Erst eine ganze Woche später kam Germaine mit einer Karte für mich in den Salon. Rosa, natürlich. Und sie verströmte einen delikaten Duft: Hätte Madame Rose Lust und Zeit auf eine Tasse Tee? AW. Und so begann vor fast zehn Jahren unsere wundervolle Freundschaft. Bei Rosen und einer Tasse Tee.